Oskar Loerke und die Stadt
Oskar Loerke war ein Naturlyriker. Zunächst erschien ihm die Stadt und die Natur als völliger Gegensatz, der für Loerke aber irgendwann zu einer sich gegenseitig ergänzenden Einheit wurde. So schrieb er 1926 in einem Brief: So nenne ich Ihnen denn eines meiner entscheidendsten Erlebnisse: „lch habe die moderne Großstadt erlebt als ein Stück Natur”.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Stadtgedicht „Blauer Abend in Berlin“ von Oskar Loerke wurde 1911 geschrieben und halndelt von einem Abend in Berlin, der mit der Wasserwelt verglichen wird. Das Gedicht soll die Lebendigkeit zeigen, aber auch, dass in der Großstadt der einzelne Mensch untergeht.
Das Gedicht besteht aus jeweils zwei Quartetten und Terzetten und ist somit ein Sonett1. Die Reime sind größtenteils umarmend und das Metrum2 besteht aus einem fünfhebigen Jambus mit etwa gleichmäßig geteilten Kadenzen3. Die erste Strophe beschreibt das Äußere von Berlin und gleichzeitig die Wasserwelt („Der Himmel fließt in steinernen Kanälen“ V.1). Der fließende Himmel ist im übertragenen Sinne das Wasser, das durch die Metapher4 verdeutlicht wird. Die steinernen Kanäle sollen dagegen die Häuserschluchten in Berlin darstellen. Dieses wird durch den zweiten und dritten Vers noch einmal bestätigt, indem die Kanälen erwähnt werden, die aus Straßen „ausgehauen“ sind. Diese Straßen ähneln denen in Berlin; man erkennt wieder, dass sie mit Kanälen verglichen werden, weil die Hochhäuser sie „umarmen“ (V.2,3). Gleichzeitig wird wieder das „Himmelblaue“ erwähnt (V.3). Es soll das Wasser darstellen, denn dieses sieht ebenfalls himmelblau aus. Durch einen Vergleich (V.4) werden die äußerlichen Gemeinsamkeiten von Berlin und einem Hafen unterstrichen. Unter anderem ist die Lebendigkeit eine Gemeinsamkeit. In der Großstadt herrscht durch die vielen Menschen so viel Leben, im Wasser sind es die Tiere, Pflanzen und Sandkörnchen. Diese Verbindung kann im gesamten Text wiedergefunden werden: Enjambements5 verbinden die verschiedenen Verse miteinander und verdeutlichen somit die Gemeinsamkeiten. Weiterhin weist dies auf den Wasserfluss hin (V.1-14), welcher ein zwingender Bestandteil einer lebendigen Wasserwelt ist. Mit diesem Fluss wird das Leben in Berlin verglichen. Zudem sieht man dieses Fließen am gleichbleibenden Metrum und Rhythmus sowie an den Bewegungswörtern in Strophe vier wie Dünen, Kommen, Gehen, Gleiten oder Ziehen (V.10-14).
Allerdings wird nicht nur die Lebendigkeit deutlich gemacht, sondern auch, dass das Leben sowhol in der Stadt als auch im Wasser beherrschend, angsteinflößend und in gewisser Weise zerstörerisch ist und das „Ich“, das Individuum, verdrängt. Das Beherrschende kann man gut in den Versen 10 („Regt sich des Wassers Wille und Verstand“) und 14 („Im linden Spiel der großen Wellenhand“) erkennen. In diesen Versen wird deutlich, dass das Wasser in seiner Welt die Macht über die unterschiedlichen Elemente hat. Gerade das kann man gut auf Berlin beziehen, denn in einer so großen Stadt herrschen gewisse unausgesprochene Regeln und Lebensweisen. Der Mensch muss sich also als Mensch an die Gepflogenheiten anpassen. In dem vorangehenden Beispiel wird er deswegen als Sandkörnchen dargestellt (V.13): Er kann nichts gegen den Lebensfluss in der Stadt machen. Das Individuum wird mitgerissen (V.13,14), wenn es sich nicht in den Lebensrhythmus einfügt. So sieht man auch, dass das Individuum gewissermaßen verdrängt oder sogar zerstört wird, denn wer aufbegehrt wird in der rauhen, harten Welt der Straßen nicht akzeptiert.
Die Angst vor dem Bösen der Stadt spielt auch eine wichtige Rolle in dem Stadtgedicht. Ein Beispiel hierfür bietet Strophe zwei: „Schwarze Essensdämpfe schwelen und sind wie Wasserpflanzen anzuschauen“ ist ein direkter Vergleich zwischen Berlin und der Wasserwelt und weist zudem auf das „Böse“ hin. „Schwarze Essensdämpfe“ sowie Wasserpflanzen erinnern nämlich an dunklen Nebel. Aber nicht nur diese Verse zeigen Angsteinflößendes, sondern auch in den nächsten drei erkennt man wiederum Schlechtes, denn dort wird auf die Folgen dieser Angst hingewiesen: „Die Leben, die sich ganz im Grunde stauen, beginnen sacht vom Himmel zu erzählen, gemengt, entwirrt nach blauen Melodien.“ (V.7-9) soll die verlorengehende Individualität als Folge des Großstadtlebens ausdrücken. Die Seelen beginnen vom Himmel zu erzählen, was die Sehnsucht jedes Individuums impliziert, im Himmel die schönen Dinge des Lebens zu erwarten.
Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass sich im Gedicht viele Hinweise finden lassen, die sowohl auf die Lebendigkeit, die sich in einer Großstadt wie Berlin auch negativ auswirken kann, als auch auf die Grausamkeit, die gegebenenfalls herrscht. So bestätigt sich die These, dass unter anderem genau diese Dinge durch den gelungenen Vergleich zwischen Berlin und Wasserwelt „angesprochen“ werden. Es bleibt festzuhalten, dass schon damals erkannt wurde, welch zerstörerische Wirkung das Leben in der Großstadt auf den Menschen haben kann.