Autor/in: Johann Wolfgang von Goethe Epoche: Sturm und Drang / Geniezeit Strophen: 3, Verse: 21 Verse pro Strophe: 1-7, 2-7, 3-7
Sah ein Knab’ ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell es nah zu sehn,
Sah’s mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.
Knabe sprach: ich breche dich,
Röslein auf der Heiden!
Röslein sprach: ich steche dich,
Daß du ewig denkst an mich,
Und ich will’s nicht leiden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.
Und der wilde Knabe brach
’s Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt’ es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Hinweis: Es gibt zwei Theorien zur Entstehung / Herkunft des Heidenrösleins. Beide sind nicht ausreichend belegt. Für die nachfolgende Interpretation wird die Variante von Otto Holzapfel zugrunde gelegt.
HEIDENRÖSLEIN - DAS REIM GEWORDENE SCHLECHTE GEWISSEN
Mit dem 1770 entstandenen Gedicht „Heidenröslein“ schuf Johann Wolfgang Goethe eines seiner bekanntesten und meist diskutierten Werke. Doch der damals 21-jährige hatte die später weltberühmten Zeilen lediglich adaptiert – und eigentlich auch nicht vor, sie zu veröffentlichen, denn sie enthielten einer sehr persönliche Botschaft...
VON GRUND AUF MISSVERSTANDEN – ENTSTEHUNG UND HISTORISCHER KONTEXT
Die Verse lassen zahlreiche Parallelen zum Gedicht „Sie gleicht wohl einem Rosenstock“ erkennen, das Paul von der Aelst 1602 veröffentlicht hatte. Das gereimte Sinnbild vom blumenpflückenden Knaben musste Goethe geradezu ideal erschienen sein – denn er übernahm einige Stellen der Dichtung sogar wörtlich.
Was genau ihn an den Aelst'schen Versen so gereizt hatte, blieb vorerst ein Geheimnis. Auch Johann Gottfried Herder kannte Goethes Beweggründe nicht, als er das fertiggestellte Gedicht in seinen 1773-er „Blättern von Deutscher Kunst und Art“ preisgab. Er wertete die Zeilen als
„kindisches Fabelliedchen“
und ließ sie als anonymes Werk
„aus der mündlichen Sage“
erscheinen. Zugleich benutzte er es als Grundlage für eine eigene Fassung: In „Die Blüthe“ wird die Konstellation zwischen Knabe und Blume ebenfalls als Sinnbild gebraucht. Anders als Goethe fühlte Herder sich jedoch berufen, mit seiner Arbeit zu moralisieren:
„Knabe, Knabe laß es stehn
das Knöspgen süßer Düfte.“
Damit eröffnete er einen Reigen von Missverständnissen, den das „Heidenröslein“ auslösen sollte. Sein junger Verfasser hatte nämlich gar nicht vorgehabt, das Pro und Contra groben Unfugs zu erwägen oder gar zu bewerten. Für ihn stellte das Gedicht eine Art Erklärung dar – denn er hatte sich etwas zu Schulden kommen lassen, von dem er sich mit den Versen Verständnis erhoffte.
Doch erst seine ab 1811 verfasste Lebensdarstellung „Dichtung und Wahrheit“ sollte das Mysterium um das „Heidenröslein“ ein wenig erhellen: Goethes Notizen folgend, richtete es sich an Friederike Brion – jene Person, mit der er während seiner Straßburger Zeit eine leidenschaftliche Affäre gehabt; diese aber 1771 per Brief beendet hatte. In Band 3 von „Dichtung und Wahrheit“ schilderte er ihre Reaktion darauf so:
„Die Antwort Friedrikens auf einen schriftlichen Abschied zerriß mir das Herz. (...) Ich fühlte nun erst den Verlust, den sie erlitt, und (...) stets empfand ich, daß sie mir fehlte.“
Als Grund für die Trennung gab Goethe in seinen Erinnerungen an, dass die emotionale Bindung an das Mädchen ihn zu ängstigen begonnen hatte. Selbstmitleidig räumte er ein:
„Und was das Schlimmste war, ich konnte mir mein eignes Unglück nicht verzeihen.“
Dennoch oder gerade deswegen suchte er sie rund acht Jahre später noch einmal auf – um in der später folgenden Schrift festzustellen:
„Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Tränen in den Augen.“
CHRONIK EINER LIASON – INHALT UND AUFBAU
Das Wissen um den Hintergrund des Gedichts und die Anteilnahme am Gemütszustand seines Verfassers / seiner Empfängerin beeinflusst durchaus die Interpretation. Wer darüber hinaus weiß, unter welchen Umständen Goethe der jungen Friederike näher gekommen ist, fühlt sich erst recht bestätigt:
- In der ersten Strophe...
...entdeckt der Knabe ein „Röslein auf der Heiden“ – also gleichsam ein Mädchen, das vollkommen frei und scheinbar deplatziert steht. So machte auch Friederike auf den zu Gast weilenden Goethe großen Eindruck. Er selbst bekannte:
„Meine Leidenschaft wuchs, je mehr ich den Wert des trefflichen Mädchens kennen lernte.“
Und so
„Lief er schnell, es nah zu seh'n
sah's mit vielen Freuden.“ (V. 4f.)
Die Euphorie und Sehnsucht der Kennlern-Phase verdeutlichte Goethe durch kurze Verse und viele Wiederholungen, die dem ersten Drittel des Gedichts einen festen Rhythmus und einen erzählenden Charakter verleihen.
- In der zweiten Strophe...
...äußert der Knabe gegenüber dem Röslein
„Ich breche dich!“ (V. 8)
Im Kontext Goethe / Friederike muss dies jedoch weniger als Ankündigung eines böswilligen Vorhabens gewertet werden, sondern eher als wohlmeinende Warnung – denn tatsächlich hatten sowohl der Dichter selbst als auch Friederikes ältere Schwester ein schnelles Ende der Beziehung vorausgeahnt. Goethe äußerte in seiner Erinnerungsschrift gar die Furcht davor, dass er
„(...) so viel Liebes und Gutes, vielleicht auf immer, verlieren sollte.“
Auf die Warnung des Knaben aber kontert die begehrte Rose:
„Ich steche dich,
dass du ewig denkst an mich.“ (V. 10f)
Friederike schien sich ihrer Sache demnach recht sicher gewesen zu sein. Zeitzeugen zu Folge empfand sie sehr viel für den jungen Poeten – und ging wohl davon aus, dass ein so starkes Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhen muss.
Zur Darstellung des sich anbahnenden Konflikts wählte Goethe die wörtliche Rede, in der einem kurzen Ausruf des Knaben die mehrzeilige Aussage des Rösleins / Mädchens gegenübersteht. Das Ungleichgewicht lässt spüren, wie sich die Stimmung zwischen den Liebenden förmlich zuspitzte.
- In der dritten Strophe...
...kommt es zum Showdown: Der Knabe lässt alle Vorsicht außer Acht und pflückt die Blume – die ihrerseits tatsächlich zusticht. Auf Goethe und Friederike umgemünzt bedeutet das nichts anderes, als dass sich beide aufeinander eingelassen haben – und die jeweils angekündigten Konsequenzen in Kauf nahmen.
Für die Wiedergabe dieser Ereignisse griff der Verfasser erneut auf kurze Verse zurück – und zeigte damit deutlich, dass er sie einzig und allein aus seiner Perspektive schilderte.
- Ganz am Schluss...
...arrangiert sich der Knabe gar mit der schmerzhaften Situation, denn
„(...) er vergaß danach
Beim Genuß das Leiden.“
DIE KORRIGIERTE POINTE – REVISION UND RESONANZ
Dieser Vers aber findet sich in späteren Versionen des „Heidenrösleins“ nicht mehr. Als Goethe es zusammen mit anderen Gedichten aus der Entstehungszeit veröffentlichte, prangte an seiner Stelle jener Satz, der zu weiteren Fehlinterpretationen führen sollte:
„Half ihm doch kein Weh und Ach
musst' es eben leiden.“ (V. 18f)
Er befeuerte die spätere These, der Knabe habe dem Röslein / Mädchen Gewalt angetan und es gegen seinen Willen genommenen, also vergewaltigt. Damit aber blieb der Kontext des Werkes ebenso unbeachtet wie die durchaus übliche Wortwahl der damaligen Zeit.
Doch warum hatte sich der älter gewordene Poet überhaupt zu einer Änderung entschlossen – wo das Gedicht doch so rund, persönlich und offen wirkte wie kaum ein anderes im bisherigen Œuvre1? Nun – genau DESWEGEN. Vermutlich sind die Verse nach der wiederholten Begegnung mit Friederike im Jahre 1779 hinzugefügt worden. Angesichts ihres noch immer anhaltenden Liebesleidens war Goethe nach eigener schriftlicher Aussage
„sehr übel zu Mute“
Aber er muss wohl zu dem Schluss gekommen sein, dass Beziehungen immer ein gewisses Risiko bergen und dass es besser sei, sich bietende Gelegenheiten zu nutzen als unberührt fortzublühen – um dann doch irgendwann zu welken. Hinzu kam seine Überzeugung, dass die Gesellschaft von einem Mann
„eine gewisse Übersicht seines Zustandes verlange“
Es muss für ihn unvertretbar gewesen sein zuzugeben, dass er Friederikes Kummer wissentlich herbeigeführt und das Zusammensein mit ihr trotzdem genossen hatte; nun aber selbst darunter litt. Da war es wohl besser, sich maskulin-stark und unbeteiligt zu geben.
So blieb das Röslein / Friederike als einzig Leidtragende des Liebesdramas übrig. In einer narzisstisch anmutenden Selbstüberhöhung nahm Goethe in der revidierten Fassung sogar den Part des allgemeinen Erzählers ein: Statt den Knaben direkt zur Rose sprechen zu lassen („HILFT DIR doch kein Weh und Ach...“, V. 18f), schlug er plötzlich einen belehrenden Ton an – ganz so, als sei es durchaus normal, dass eine/r immer etwas mehr leidet und ihn selbst keine Schuld trifft.
EIN STICH, DER NACHHALLTE – DAS „HEIDENRÖSLEIN“ IM WEITEREN WIRKEN GOETHES
Doch so ganz haben die Gewissensbisse den alternden Goethe nie mehr losgelassen. Der „So-ist-das-halt“-Variante des „Heidenrösleins“ folgte u.a. das Gedicht Gefunden. In dem 1813 verfassten Werk schildert ein Ich-Erzähler, wie er im Wald ein Blümchen findet und es brechen will. Als das Pflänzchen seinem Vorhaben widerspricht, gräbt er es
„mit allen den Würzlein aus“
und trägt es
„zum Garten (...) am hübschen Haus“
Im Gegensatz zur leidenden – weil gebrochenen – Rose / Friederike
„(...) zweigt und blüht es
Mir immer fort.“
Dass Goethes Alter Ego mit dem schlichten Waldblümchen deutlich artgerechter umging als mit dem Edelgewächs aus Jugendtagen mag als Beweis für noch immer anhaltende Reue gelten. Das Gedicht kann auch als Allegorie2 auf die langjährige, aber nicht legitimierte und daher stets etwas vertuschte Beziehung zu Christiane Vulpius gewertet werden. Doch das ist schon wieder eine andere Geschichte...
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