1. Roman: Der Steppenwolf (1927)
Autor/in: Hermann HesseEpochen: Expressionismus, Neuromantik
Außentext: «Wir brauchen nicht so fortzuleben, wie wir gestern gelebt haben. Machen wir uns von dieser Anschauung los, und tausend Möglichkeiten laden uns zu neuem Leben ein.» (Christian Morgenstern)
Vergleichswerk: Der goldne Topf von E.T.A. Hoffmann
Inhaltsangabe, Vergleich und Interpretation
«Wir brauchen nicht so fortzuleben, wie wir gestern gelebt haben. Machen wir uns von dieser Anschauung los, und tausend Möglichkeiten laden uns zu neuem Leben ein.» (Christian Morgenstern)
Mit diesem Zitat spricht Christian Morgenstern ein Thema an, das auch die zwei Autoren Hermann Hesse und E.T.A. Hoffmann in ihren Werken, „Der Steppenwolf“ und „Der goldne Topf“, aufgreifen, die Chance sein Leben zu verändern. Dazu ist es nötig, zu erkennen, dass Veränderungen im Leben möglich sind und anschließend die Chance zu ergreifen und ein neues Leben zu beginnen. Dabei stellt sich die Frage, ob die Hauptpersonen der Werke diese Chance erkennen und sie ergreifen und somit eine Entwicklung durchleben.
Hermann Hesses Roman „Der Steppenwolf“, veröffentlicht im Jahre 1927, handelt von Harry Haller, einem gebildeten Mann, der sich in seinem Leben scheinbar immer weiter von der bürgerlichen Welt abgrenzt und abschottet und somit vereinsamt. Sich selbst betrachtet er als Mensch mit zwei Seelen, der gebildete Harry Haller auf der einen Seite und der wilde, eigenbrötlerische Steppenwolf, zwei Seiten, die sich gegenseitig bekriegen. Der einzige Weg aus seiner selbstgewählten Isolation sieht er im Selbstmord. Doch durch die Bekanntschaft mit Hermine beginnt er auch die Freude im Leben zu entdecken und sein Leben zu verändern. In seinem Roman thematisiert Hesse sowohl die persönliche Entwicklung Harry Hallers als auch die Vielseitigkeit der Seele. Dabei scheinen die Grenzen von Außen- und Innenwelt zu verschwimmen und die Frage nach dem Ich wird aufgeworfen.
E.T.A. Hoffmanns Märchen „Der goldne Topf- Ein Märchen aus der neuen Zeit“, veröffentlicht im Jahre 1814, spielt dagegen in einer Welt, in der das Magische sehr viel präsenter ist. Es handelt von dem Studenten Anselmus, der nicht nur zwischen zwei Frauenfiguren hin- und hergerissen ist, sondern auch zwischen zwei Welten, der bürgerlichen Welt Dresdens und der fantastischen Welt Atlantis. Dabei wendet er sich immer weiter von der bürgerlichen Welt ab und wendet sich der fantastischen Welt zu. Hierbei wird wieder das Verhältnis von Innen- und Außenwelt Gegenstand der Handlung, sowie die Entwicklung des Anselmus und dessen Entfernung von der bürgerlichen Welt.
Im Steppenwolf ist eine Entwicklung Harry Hallers zu erkennen. Diese äußert sich in verschiedenen Aspekten. Zu Beginn des Romans steht er beispielsweise körperlicher Nähe eher ablehnend gegenüber, zwar hat er eine Geliebte jedoch ist seine Beziehung zu ihr sehr wechselhaft und scheinbar instabil. Erst durch die von Hermine vermittelte Maria lernt er das Liebesspiel und dessen Schönheit und Reiz kennen. Aber nicht nur durch den Kontakt zu ihr erfährt er von der Schönheit einer Welt (vgl. S. 178, Z. 30f), die er zuvor verachtet und als minderwertig betrachtet hat (vgl. S. 157, Z. 20ff). Hinter der Beziehung zu Maria steht immer Hermine, die ihm Maria zum Geschenk machte (vgl. S180, Z. 30ff).
Ein anderer Aspekt ist die Musik. Die Musik ist für Harry ein wichtiger Bestandteil seines Lebens. Dabei schätzt er jedoch nur die klassische Musik „großer Meister“, jede andere Musik vor allem die Popmusik, die ihm zu Amerikanisch ist, verachtet er (vgl. S. 157, Z. 17). Doch durch Pablo ändert sich auch diese Ansicht. Er beginnt Pablo und seine Musik zu schätzen und tanzt vollkommen losgelöst zu ihr. Und auch der Steppenwolf, mit seiner abwehrenden Haltung gegenüber der Außenwelt, weicht zurück.
Alle diese Veränderungen lassen sich auf Hermine zurückführen. Die Freundschaft zu ihr und somit das Eintauchen in eine Welt voller anderer Ansichten und Weltanschauungen beginnt, einen Prozess in Gang zu setzen, der sich als roter Faden im Roman zeigt. Dabei ist Hermine immer eine Konstante. Diese Entwicklung ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Harry macht den ersten Schritt in diese Richtung, aber das magische Theater zum Schluss zeigt, dass das Ziel noch weit entfernt ist. Wie Pablo am Ende sagt, Harry wusste nicht mit der Spielfigur Hermine umzugehen (vgl. S. 278, Z. 7) und auch Mozart offenbart Harry seine Fehler und Schwächen.
Auch das Zitat beschreibt eine Änderung der Lebensweise, die durch die Erkenntnis von der Möglichkeit von Veränderung, ausgelöst wird. In Harrys Fall wird diese Erkenntnis von Hermine ausgelöst, die ihm in einem Gespräch sehr deutlich macht, was sie von seiner selbstauferlegten Isolation hält. Zuvor war Harry nicht klar, dass er sein Leben ändern könnte, er vergrub sich in seinem Leid und erzeugte es dadurch. Doch Hermine zwingt ihn zur Veränderung, da er sich danach sehnt ihren Befehlen zu gehorchen und somit keine andere Wahl hat. Die tausend Möglichkeiten, die uns anschließend offenstehen, zeigen sich in der Vorstellung, dass Menschen aus tausend Facetten der Seele bestehen. Vor allem durch das magische Theater wird Harry Haller diese Vielfältigkeit demonstriert, als er zu Beginn tausende Versionen seiner selbst sieht, die ihm zuvor nicht bewusst gewesen waren Die unendlichen Türen stehen dabei für alle Möglichkeiten, sein Leben zu ändern.
Auch Anselmus in „Der goldne Topf“ macht eine Entwicklung durch. Anfangs als Tollpatsch beschrieben, der alles zu vermasseln scheint (vgl. S. 7, Z. 15 – S. 8, Z. 22), führt der Kontakt zur magischen Welt dazu, dass er geschickter wird. Das äußert sich, als er Veronika ohne Fehltritte aus dem Boot hilft (vgl. S. 17, Z. 9) oder als er die Schriften des Archivarius ohne Fehler kopiert (vgl. S. 52, Z. 11). Zu Beginn ist auch diese Aufgabe bloßes Abschreiben für ihn, doch mit der Zeit erfasst er den Inhalt der Schriften und braucht die Originale kaum noch. Das Kopieren wird zum schöpferischen Akt (vgl. S. 53, Z. 9ff). Er entwickelt sich vom Kopisten zum Dichter. Diese Entwicklungen lassen sich wie auch bei dem Steppenwolf auf eine Frauenfigur zurückführen, die als Auslöser dient. In diesem Fall ist es Serpentina, die ihn beflügelt.
Jedoch lassen sich auch Unterschiede zum Steppenwolf feststellen. Während Harry Haller sich der Welt immer stärker annähert und aus seiner selbstgewählten Außenseiterrolle ausbricht, gestaltet sich dies bei Anselmus anders. Anselmus leidet ebenso wie der Steppenwolf unter seiner Isolation, welche jedoch nicht von ihm gewollt ist. Zudem nähert er sich der bürgerlichen, realen Welt nicht an, er entfernt sich von ihr, je mehr er in die fantastische Welt Serpentinas eintaucht.
Einen weiteren Unterschied zwischen den beiden Werken bilden die Enden der Geschichten. Der Steppenwolf erreicht das Ende seiner Entwicklung nicht, am Ende des Romans ist er noch mitten im Prozess. Er hat die Möglichkeit zur Veränderung erkannt und will diese auch ergreifen, doch er ist noch nicht am Ziel. Dagegen hat Anselmus sich zu Ende entwickelt, mit der Entscheidung für Serpentina entkommt er dem Kristallglas und somit auch der bürgerlichen Welt, aus der er vollständig verschwindet (vgl. S. 91, Z. 34). Zum Schluss ist er glücklich mit Serpentina in Atlantis (vgl. S. 96, Z. 6ff). Er überwindet die Hindernisse, die ihm von außen in den Weg gelegt werden, im Gegensatz dazu behindert sich Harry Haller selbst.
Anselmus erkennt, wie auch der Steppenwolf, die Chance auf ein neues Leben, und mit der Befreiung aus dem Kristallglas lebt er ein neues Leben. Jedoch hat er nicht wie der Steppenwolf tausend Möglichkeiten von neuen Leben, er kann lediglich zwischen zwei Leben, zwei Welten und zwei Frauen wählen. Währenddessen stehen dem Steppenwolf, im magischen Theater verdeutlicht, alle Türen offen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass beide Protagonisten eine Entwicklung durchmachen. Sie beide nehmen zu Beginn der Werke Außenseiterrollen ein, aus der der Steppenwolf herauswächst und Anselmus immer weiter hinein. Diese Entwicklungen lassen sich beide Male auf eine Frauenfigur zurückführen, die den Hauptpersonen eine neue Welt eröffnet. In „ Der goldne Topf“ ist diese Entwicklung zum Ende hin abgeschlossen, während sie bei „Der Steppenwolf“ erst so wirklich anfängt zu beginnen.
Das Zitat von Christian Morgenstern trifft in meinen Augen voll und ganz auf Harry Haller zu, jedoch nicht auf Anselmus, der sich nicht wirklich frei zwischen „tausend Möglichkeiten“ entscheiden kann, sondern nur zwischen zwei.