Roman: Der Steppenwolf (1927)
Autor/in: Hermann HesseEpochen: Expressionismus, Neuromantik
Werkvergleich:
Textstelle aus „Der Steppenwolf“ im Vergleich mit dem Thema der „inneren Zerrissenheit“ in Faust
Textstelle:
S. 66-70
Außenzitat:
„(…) Der Outsider ist die Stütze der bürgerlichen Gesellschaft. Ohne ihn könnte der Bürger nicht existieren. Die vitale Kraft der normalen Glieder der Gesellschaft ist von ihren Outsidern abhängig. (…) Sie sind die geistigen Motoren der Gesellschaft.“ (Quelle: Colin Wilson, Outsider und Bürger (1956), in: Volker Michels (Hg.), Materialien zu Hermann Hesses „Der Steppenwolf“, Frankfurt a. M, hier: S. 311f.)
Inhaltsangabe, Vergleich und Interpretation
„Ich kann weder in einem Theater noch in einem Kino lange aushalten, kann kaum eine Zeitung lesen, selten ein modernes Buch, ich kann nicht verstehen, welche Lust und Freude es ist, die die Menschen in den überfüllten Eisenbahnen und Hotels (…), in den Bars und Varietés der eleganten Luxusstädte suchen.“ (S. 40). Dieses Zitat stammt aus dem Roman „Der Steppenwolf“, welcher erstmals 1927 erschien und von Hermann Hesse verfasst wurde. Der Protagonist Harry Haller leidet unter einer Zerrissenheit seiner eigenen Persönlichkeit. In ihm lebt eine menschliche Seite, die sich nach Sicherheit, Anpassung und Konvention sehnt, wohingegen die wölfische Seite einen kultur- und sozialkritischen, einsamen, sehr individuellen Menschen darstellt, der die Eigenschaften des Bürgertums hasst.
Harry Haller, ein Mann von ungefähr 50 Jahren, zieht in eine neue Wohnung. Bei der ersten Begegnung Harry Hallers mit dem Neffen der Vermieterin wird schnell deutlich, dass Haller kein normales, durchschnittliches Leben führt. Er geht keinem geregelten Beruf nach, ist oftmals nächtelang wach und beschäftigt sich ausschließlich mit hochintellektuellen Angelegenheiten, wie dem Lesen von bekannten Werken bedeutender Dichter, wie auch das Hören von klassischer Musik. Er verachtet das bürgerliche Leben. Unterhaltungsmusik, Kinos und namhafte Aktivitäten stellen für ihn eine Art Zwang und eine Vergewaltigung des Bürgertums dar. Trotzdem ist er nicht in der Lage, sich diesem bürgerlichen Leben zu entziehen, ein Teil von ihm fühlt sich durch die Ordnung und die festgelegten Regeln des Bürgertums sicher. Dieser Gegensatz begegnet dem Leser des Öfteren im Werk. Schon zu Beginn erhält er Besuch von Damen auf seinem Zimmer, wodurch die Einsamkeit, das wölfische in ihm erstmal nicht gespiegelt wird. Des Weiteren besucht er ein Gasthaus, in dem er häufiger Alkohol konsumiert. Diese Vergnügungen werden dennoch konstant von monotonen Tagen durchbrochen, in denen Haller verzweifelt ist und an seinem seelischen Dualismus leidet. An einem Abend, als er auf dem Heimweg ist, fällt ihm ein Schriftzug auf einer Mauer auf. Er beginnt neugierig zu werden und denkt sehr viel über die Worte „Magisches Theater-Eintritt nur für Verrückte“ (S. 43) nach. Haller bekommt ein Buch von einem unbekannten Plakatträger, mit dem Titel „Traktat vom Steppenwolf“. Dieses Traktat beschäftigt sich mit der allgemeinen Steppenwolfproblematik, mit der Ich-Dissoziation1 des Steppenwolfcharakters. In dem Traktat werden die Grundzüge der Steppenwolfpersönlichkeit erklärt und Gefahren und Chancen erläutert. Die vorliegende Textstelle beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Harry Haller und dem Bürgertum. Er wird als nicht bürgerlich beschrieben und als Außenseiter der Gesellschaft dargestellt und empfindet sich als Einzelgänger, später dann aber auch als ein überdurchschnittliches Individuum, als ein Genie. Seine Ablehnung gegenüber der Bourgeoise wird genannt, dennoch ist er im bürgerlichen Leben integriert. Er habe Geld auf der Bank, sei anständig gekleidet und unauffällig. Sein sehnliches Verlangen nach Konventionen im Bürgertum wird geschildert und die bevorzugten Wohnorte, nämlich nur jene, inmitten des bürgerlichen Lebens werden genannt. Zum Schluss wird auf die Wirkung und Bedeutung der Steppenwölfe auf die Gesellschaft eingegangen.
Durch das Substantiv „Einzelphänomen“ (Z. 1) entsteht der Eindruck, dass das Erscheinen solch einen Charakters nicht besonders alltäglich ist, wodurch der Steppenwolf Distanz zur Norm erhält. Zudem wird sein Verhältnis zum Bürgertum als „eigentümlich“ (Z. 5) beschrieben, was ebenso die einzigartige, sonderbare Struktur des Charakters spiegelt. Dadurch, dass das „Bürgerliche“ als Ausgangspunkt deklariert wird (vgl. Z. 4) entsteht das Bild, dass das Bürgertum die Grundlage ist, auf der sich später unterschiedliche Charakteren ausleben, gar herausstechen. Durch die eigene Selbstreflexion „seiner Auffassung nach“ bezogen auf den Stand in der Gesellschaft, wird deutlich, dass Haller sich seiner Problematik durchaus bewusst ist und diese auch nicht versucht zu rechtfertigen. Uns allbekannte Sozialkompetenzen, wie das „Familienleben“ (Z. 6) und der „soziale Ehrgeiz“ (Z. 6) sind für den Steppenwolf demnach unbekannten Eigenschaften. Durch die Steigerung von dem „Einzelnen“ bis zu dem „Sonderling“ und dem „krankhaften Einsiedler“ (vgl. Z. 7) wird das Ausmaß der Problematik hervorgehoben. Dadurch ist er nicht nur ein Einzelgänger, sondern vielmehr krank und komplett vereinsamt. Die Zuschreibung von „übernormal“, „geniemäßig“ und „Individuum“ (vgl. Z. 7f.) stellt einen Widerspruch zu dem vorherigen dar. Dieser komplette Gegensatz lässt sich auf die gespaltene Persönlichkeit Hallers zurückführen. Dieses Erhabenheitsgefühl findet sich auch in der stolzen Aussage, kein Teil vom Bürgertum zu sein (vgl. Z. 10). Dadurch, dass er Geld auf der Bank habe, wird er in das bürgerliche Leben miteinbezogen, er ist sogar von diesem abhängig und entzieht sich somit dem Drang nach Unabhängigkeit. Der Versuch in einem guten Verhältnis mit Polizei und Steueramt zu bleiben beziehungsweise zu sein, erklärt auch, dass Haller keine Absichten hat, rebellische Handlungen gegen staatliche Mächte auszuüben. Er akzeptiert die Bürokratie und lässt sich auf diese auch ein. Es wird geschildert, dass er sich zu den Häusern des Bürgertums hingezogen fühlt. Dieser Ort der Bürgerlichkeit wird mit einem sehr konventionellen Adjektiven wie „still“, „anständig“ und „sauber“ (vgl. Z. 15f) beschrieben. „Zu deren Norm und Atmosphäre er stets in Beziehung stand“ (Z. 24): Hier zeigt sich nochmals, dass Haller auf einer gewissen Art und Weise mit dem Bürgertum verbunden ist. Durch die auktoriale Erzählweise bekommt der Leser ein einheitliches Bild des Seelenzustandes Harry Hallers. Es wird so ausdrücklich erläutert, dass die „vitale Kraft des Bürgertums keineswegs auf den Eigenschaften seiner normalen Mitglieder, sondern auf denen der zahlreichen Outsiders“ besteht. Diese Bahnbrecher, die Sonderlinge, stellen demnach keine Gefahr für die Gesellschaft dar, sondern tragen vielmehr zu einem Fortschritt bei. Der am Ende angeführte Begriff des „Zwangshäftlings des Bürgertums“ (Z. 37) bedeutet, dass Haller trotz seiner außergewöhnlichen Individualität immer noch abhängig von dem Bürgertum ist, er kann diesem nicht vollständig entfliehen. Diese Textstelle ist sehr bedeutend für das allgemeine Verständnis der Zersplitterung seiner Psyche, da sie ebenso beleuchtet und erklärt, wie sehr sich der Steppenwolf trotz seines Kulturpessimismus nach Ordnung und Bürgerlichkeit sehnt. Zudem wird der Steppenwolf als großer Wert für die Gesellschaft angesehen, wodurch der Leser den Charakter positiv wahrnimmt und etwaige Vorurteile abbaut. Die Rolle der Steppenwölfe, den Outsidern jener Gesellschaft spielt auch in der These von Colin Wilson eine eminente Rolle. Nach seiner Ansicht ist der Outsider die „Stütze“ der bürgerlichen Gesellschaft und ohne diese könnte der Bürger nicht das sein, was er ist. Die „vitale Kraft“ wird durch diese Andersartigen erzeugt. Die Kraft der Ideen, der Vielfältigkeit solcher Individuen stellt somit den „geistigen Motor“ der Gesellschaft dar. Ohne Outsider wäre die Gesellschaft nichts Besonderes und das bürgerliche Leben wäre nicht möglich.
„Zwei Seelen wohne ach in meiner Brust, die eine will sich von der anderen trennen, die eine hält, in Liebeslust, sich an die Welt, mit klammernden Organen.“ (S. 33): Dies ist ein Zitat aus dem Drama „Faust“ von Goethe. Der Protagonist Faust strebt nach überirdischem Wissen und will erkennen, was „die Welt im Innersten zusammenhält“ (vgl. S. 13). Er leidet somit an einer Existenzkrise, einem Dualismus seiner Seelen. Die These ist deshalb von Relevanz, da Harry Haller und Faust jeweils keine gesellschaftsadäquate Einstellung haben. Der Outsider beziehungsweise die dazugehörigen Beschreibungen finden sich durchgängig in beiden Werken wieder. Die Worte: „(…) gänzlich außerhalb der bürgerlichen Welt“ (vgl. S. 5) und im Steppenwolf „Ich hätte Lust, nun abzufahren“ (S. 65) zeigen die fehlende Identifikation mit der Gesellschaft. Faust ist derart angewidert von dem Genuss von Alkohol und Feierlichkeiten. Somit entgrenzt er sich von den konventionellen bürgerlichen Aktivitäten. Die Aussage, dass die vitale Kraft der normalen Glieder von ihren Outsidern abhänge, ist etwas schwieriger zu überprüfen. Einerseits trägt Haller dazu bei, dass er Hermine lehrt zu lernen und sich mit geistigen Aktivitäten zu beschäftigen, andererseits ist die Frage, inwiefern Haller ein „geistiger Motor“ ist. Haller entwirft keine Erfindungen oder setzt sich mit seiner Intellektualität für die Gesellschaft ein. Dennoch stellt er in gewisser Weise eine Aufgabe für Hermine dar. „Gott sei Dank bin ich nicht deine Mutter.“ (S. 116) ist eine ironische Anspielung auf die leitende, führende Rolle, die Hermine gegenüber Harry einnimmt. Sie führt ihn durch das Leben und bringt ihm das Tanzen, das Erleben mit allen Sinnen bei. Demnach hat sie eine Aufgabe und lernst selbst von ihm. Beide Akteure profitieren somit von dem Gegenüber. „Wird ich zum Augenblick sagen: Verweile doch! Du bist so schön! , (…) dann will ich zugrunde gehen.“ (vgl. S. 48). Dieses Zitat aus Faust zeigt wiederum, dass Faust etwas erkennen möchte. Er strebt nach etwas, er will etwas erreichen und ist auch grundlegend für Veränderungen offen, lehnt diese also nicht ab. Der Begriff des Außenseiters könnte in der Hinsicht interessant sein, da beide Protagonisten nach Erkenntnis streben. Nur durch Beschäftigung mit Dingen, die sie davor noch nicht gemacht haben, erhalten sie Erkenntnis. Haller erfährt diese Erkenntnis durch das Tanzen, Frauen und Humor. Bei Faust geschieht dies ebenfalls unter anderem mit Frauen und Entgrenzungsversuchen. Beide Protagonisten werden auf ihrem Weg begleitet von Personen beziehungsweise Wesen. Faust nutzt Mephisto um Erkenntnis zu erhalten und lernt mithilfe von Gretchen, die niederen Gelüste ebenfalls zu akzeptieren. Des Weiteren werden beide von jemandem abgehalten, sich zu suizidieren. Bei Faust geschieht dies durch die Osterglocken, welche ihn an Gott und die Religion erinnern und Haller wird durch Hermine ermutigt und begleitet, den Weg zum Erleben zu finden. Die intime Liebesbeziehung zwischen Faust und Gretchen lässt sich mit der Beziehung von Maria und Haller vergleichen, da durch diesen Kontakt beide Protagonisten Erkenntnis bekommen und sich mental weiterentwickeln. Schlussfolgernd lässt sich anbringen, dass die These von Wilson nur bedingt auf die Protagonisten zutrifft. Der Begriff des Outsiders ist deutlich auffindbar. Die „geistigen Motoren“ lassen sich aus den Protagonisten nicht direkt ableiten, da diese keinen wirklichen Fortschritt für die Gesellschaft bringen. Vielmehr geschieht der Individualisierungsprozess im Inneren der jeweiligen Personen.
Das Problem des Steppenwolfes ist auch heute noch aktuell. Menschen unterdrücken Triebe, sie versuchen sich anzupassen und scheitern. Ein gesunder Ausgleich zwischen Spaß und Arbeit ist somit essenziell für ein erfülltes und erfolgreiches Leben.