Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
In den Schulferien oder im Urlaub, wenn man nicht arbeiten muss, begibt man sich gerne auf die Reise in ein anderes Land. Manchmal verlässt man die Heimat auch nicht, sondern man besucht Freunde oder Verwandte, die nah, jedoch trotzdem nicht hier, leben. Kurzum geht es darum, neue Eindrücke zu erlangen. Heute ist es fast jedem möglich, wegzufahren. Früher, denn es wurde schon vor hunderten von Jahren gereist, war das Reisen teuer und demnach auch nicht für jeden zugänglich. Die Gründe, aus denen man aufbricht, sind verschieden, ja vielfältig. Heutzutage geht es meist um Erholung, in der Vergangenheit reiste man sehr häufig aus Bildungszwecken.
In der Reiselyrik, die sehr facettenreich ist, geht es, wie der Begriff schon verrät, um das Reisen. Joseph von Eichendorff schrieb im Jahre 1810 ein Gedicht, das den Titel „Abschied“ trägt. Ein moderneres Werk trägt den Namen „Gegen Abend gerieten wir“. Es wurde 2013, vor circa sechs Jahren, von Frank Schmitter veröffentlicht. Demnach handelt es sich um ein Gedicht der Gegenwart, von Eichendorffs Werk hingegen stammt aus der Romantik. In beiden lyrischen Texten geht es um das Überbrücken von Distanzen. Trotz diesem sich überschneidenden Motiv, merkt man schon nach erstmaligem Durchlesen beider Gedichte, dass die Gründe für das Reisen bzw. die damit verbundenen Gefühle völlig unterschiedlich sind. Doch wo genau liegen die Differenzen?
Während es in „Abschied“ eher um die Flucht aus dem alltäglichen, hastigen Leben in die Natur geht, beschäftigt sich „Gegen Abend gerieten wir“ mit dem Gefühl der
Verlorenheit, da man immer unterwegs ist und als Folge dessen auch kein Zugehörigkeitsgefühl hat. Im Folgenden werden beide Werke anhand ihrer Form, der Sprache und des Inhalts verglichen.
Joseph von Eichendorffs in der Romantik entstandene Gedicht besteht aus vier Strophen, die je acht Verse besitzen. Wie es in der Romantik üblich ist, gibt es ein festes Reimschema. Hier ist das der Kreuzreim, welcher sich streng und einheitlich durch das gesamte Werk zieht. Trotz der festen Struktur und des sich durchziehenden Reimschemas, ist das Gedicht eher klingend. Männliche Versenden sind zwar vorhanden, doch sind sie der weiblichen Kadenz1 an der Zahl unterlegen. Dadurch wirkt das Gedicht fröhlich, nicht monoton oder gar abgehackt. Das Metrum2 ist der Jambus. Ebenso auffällig sind die drei Interjektionen3 „O“ am Anfang des Gedichts (vgl. V. 1-2), sowie drei Ausrufezeichen, die Gefühl, Leidenschaft und Entschlossenheit ausdrücken sollen (vgl. V. 4, V. 8, V.16).
Gleich zu Beginn des Gedichts ruft das lyrische Ich in die Natur, spricht sie an, und stellt somit eine Verbindung zu ihr her. Ebenso wird sofort klar, dass es sich um ein der Romantik entsprungenes Werk handeln muss, da wir das lyrische Ich haben, das in die Ferne sieht und inmitten der Natur steht. Die „[weiten] Täler“ (V. 1) zeigen, dass die Natur unendlich ist. Die Aussage, dass der Wald grün ist (vgl. V. 2), verbildlicht den Frühling, in dem Neues wächst oder den Sommer. Es ist aber auf keinen Fall die Rede von Verfall oder dem Vergehen, was der Herbst, wie auch der Winter im übertragenen Sinne darstellen würden. Die Satzstellung weicht von der normalen ab (vgl. V. 3). Das Enjambement verstärkt die Darstellung des „Sprungs“ vom Alltäglichen in die Natur (vgl. V.3-4). Hier wird die Sehnsucht, die Liebe, durch „andächt`ger Aufenthalt“ (V. 4) klar. Zudem handelt es sich um eine Alliteration4, die auch noch durch das Ausrufezeichen am Versende hervorgehoben wird. Der Begriff „Andacht“ („andächtig“ im Gedicht) stammt aus der Religion und spricht der Natur hier das Himmlische bzw. Religiosität zu. Die Anapher5 von „saust“ (V.6) und „schlag“ (V.7) drückt die Schnelligkeit und Hast im alltäglichen Leben aus. Das lyrische Ich möchte einen Weg aus diesem Leben finden. Der „Abschied“ (Titel) von diesem Leben wird durch die Metapher des „grüne[n] Zelt[s]“ (V.8). verdeutlicht.
In der zweiten Strophe geht es zuerst um den Tag, um den Aufgang, etwas Neues. Hier ist das die neue Lebenseinstellung, die man durch die Natur erlangt. Man möchte wirklich eins werden mit der Umwelt, den Tieren, will den „Vögel[n] (V.11) so nah sein, dass „d[as] Herz erklingt“ (V.11). Nun geht es also sehr stark um die
Sehnsucht nach und die Harmonie mit der Natur, wodurch das Leben an Leid verliert (vgl. V. 17-20).
Von der Natur kann man als Mensch viel lernen. Man erfährt „vom rechten Tun und Lieben“ (V. 19). Dieses Hendiadyoin unterstreicht wiederum, dass das Leben ohne die Natur, dass die rationale Betrachtung der Natur, unmenschlich ist und die Menschen an Moral und Liebe, ja Humanität und Toleranz, hindert (vgl. V. 17-20).
In der finalen Strophe vier ist die Rede von der Zukunft. Durch die Harmonie von Mensch und Natur entsteht die neue Lebenseinstellung. Wegen dieser Umstellung im Handeln und Betrachten des lyrischen Ichs, möchte es „dich [bald] verlassen“ (V. 25).
Mit „dich“ (V. 25) ist das vorherige Leben mit der alten Einstellung gemeint. Hier wird der „Abschied“ (Titel) sehr klar dargestellt. Es folgen ein Pleonasmus6 („fremd“; „Fremde“, V. 26) und ein Neologismus7 („buntbewegte“, V. 27), die beide dafür stehen, dass man etwas Neues beginnt. Mit dem „Abschied“ (Titel) lässt man die Vergangenheit hinter sich, zeitgleich wendet man sich durch erhaltene Eindrücke (vgl. V. 28) aber einem neuen, besseren Leben zu. Dieses nun verbesserte Leben soll unendlich sein, was man an „so wird das Herz nicht alt“ (V. 32) erkennt. Diese Unendlichkeit ist träumerisch und irrational, für die Romantik also sehr typisch.
Ebenso fällt auf, dass durch die Kombination von „nicht“ und „alt“, die Fröhlichkeit, das neue Lebensgefühl, verstärkt wird (vgl. V. 32). Das Herz wird eben „nicht alt“ (V. 32). Somit ist das Leben auch nicht stumpf, im Gegenteil, es ist klingend, fröhlich.
Vergleich zu „Gegen Abend gerieten wir“ von Frank Schmitter
Frank Schmitters Gedicht „Gegen Abend gerieten wir“ entstand in der Gegenwart, es ist modern. Das Werk gleicht einem (Prosa-)Text, denn es gibt nur eine aus 13 Versen bestehende Strophe. Es ist kein Reimschema und darüber hinaus auch kein einheitliches Metrum vorhanden. Die Kadenz ist eher weiblich, es gibt aber auch männliche Versenden. Das einzige Wort, das im gesamten Gedicht groß geschrieben ist, ist „Abend“ (V. 1). Sofort ist klar, dass dem Abend, dem Ende des Tages –das Licht vergeht- eine besondere Bedeutung zugesprochen wird. Das lyrische Ich ist nicht alleine, es spricht von einem „wir“ (V.1) und ist demnach mit einer Gruppe unterwegs. Das ganze Gedicht ist ein Rückblick, es ist in der Vergangenheit geschrieben. Zudem ist nicht ein einziges Satzzeichen im gesamten Werk gesetzt. Man weiß nicht, wo der Punkt ist. Man weiß nicht, wo der Punkt ist, an den man als Mensch gehört. Die Stimmung ist einsam, man fühlt sich verloren im Text ohne helfende Satzzeichen, als auch im Leben ohne Heimat.
Der erste Vers des Gedichts entspricht dem Titel „Gegen Abend gerieten wir“ (V.1). Man merkt gleich, dass von einem Erlebnis berichtet wird. Der Abend ist, wie gesagt, unglaublich wichtig. Er steht für das Ende. Hier, wie man im nächsten Vers erfährt, einerseits für das Ende der ungehinderten Weiterfahrt, da sich ein Stau bildet (vgl. V.2), andererseits aber auch für das Ende der Reise selbst (vgl. V.3). Die Metapher der Kreidezeichnung der Alpen steht für das Ungewisse, das man noch nicht recht sehen kann (vgl. V.2). Alles ist still, bei der Ankunft (vgl. V.3). Man fühlt sich verloren (vgl. V.4). Dem lyrischen Ich ist „das Leben der anderen“ (V.6) von Bedeutung. Der Begriff „Proviant“ (V. 7) assoziiert den Gedanken an eine Reise. Kombiniert wird dieses Wort mit dem Verb „wander[n]“ (V.7). „Proviant wandert […]“ (V.7) ist somit ein inhaltlicher Pleonasmus bzw. eine Personifikation8, als auch eine Metapher.
Ein Enjambement trennt die Wörter „von Hand“ von „zu Hand“ (V.7-8). Man ist in der Gruppe also verbunden, gleichzeitig erreicht man sich aber auch nicht. Obwohl man sich als „wir“ (V.1) definiert, ist die Verbundenheit nicht allgegenwärtig. „Aus Reisenden wurden Siedler“ (V.8), vorerst hat man seinen Platz in der Welt also gefunden. Jedoch nicht dauerhaft. Gerade „[tauscht man] die Namen und [die] Herkunft“ (V.9), man lässt sein altes Leben komplett zurück, da muss man „plötzlich ohne sichtbaren Grund“ (V.10) weiterziehen bzw. „wieder“ (V.11) weiterziehen. Der schnelle Aufbruch wird mit der Lautmalerei des „vielstimmige[n] Summen[s]“ (V.1011) beschrieben bzw. so dargestellt, dass man die Hast, das überstürzte Weiterreisen, wahrhaftig, so meint man, hören kann. Das Gedicht resultiert in einer einsamen Verzweiflung, trotz der Gruppe. Außerdem gibt man auf, dies sieht man an der Aussage „wir wussten längst nicht mehr [,] wohin“ (V.12-13).
Kommen wir nun, nach der Interpretation beider Gedichte, zum eigentlichen Vergleich. Beginnen wir mit der Form und der davon ausgehenden Gefühlslage, sowie der damit verbundenen Intention.
Joseph von Eichendorffs Gedicht „Abschied“ hat eine klare Struktur. Es gibt keine Abweichungen, immer ist es der Kreuzreim, der das Gedicht „gliedert“. In der Strömung der Klassik versucht man (vermehrt), die Gedanken der Aufklärung mit denen des Sturm und Drang, der sogenannten „Genie“-Zeit, zu versöhnen. Klassik und Romantik überschneiden sich zeitweise, von Eichendorff schreibt hier „klassisch“. Deswegen benutzt er ein festes Versmaß. Man möchte wieder Regeln und eine Moral, aber trotzdem soll die Natur nicht als starres Gebilde betrachtet werden (vgl. G1 V.10). Im Gedicht „Gegen Abend gerieten wir“ von Frank Schmitter geht es nicht mit derselben Leidenschaft um die Natur. Hier betrachtet man nicht die Farben des Waldes, wie in „Abschied“ (vgl. G1 V.2; V.8), sondern versucht, die generelle Umwelt, es können auch andere Menschen (z. B. Kinder (vgl. G2 V.6)) sein, mit Metaphern9 darzustellen (vgl. G2 V.2; V.7; V.12). Der Natur an sich wird nicht so eine große Bedeutung zugesprochen. Trotzdem ist eine gewisse Unendlichkeit, die durch Enjambements10 (vgl. V.1-2; V.6-7; V.7-8) und fehlende Satzzeichen dargelegt wird, vorhanden. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um die Grenzenlosigkeit der Natur. Das von von Eichendorffs erschaffene lyrische Ich ist es, das von einer Natur ohne jegliches Ende spricht (vgl. G1 V.1; V.32). Was in „Gegen Abend gerieten wir“ nie endet, ist das Reisen an sich. Man kann niemals durchatmen, da man immer unterwegs ist. „Proviant“ (G2 V.7) hat man immer dabei, denn, obwohl man gerne bleiben würde, muss man los und das anscheinend, ohne dass man es eigentlich möchte (vgl. G2 V.10-13). Man will nicht gehen, man soll. Wenn man den Titel des Gedichts betrachtet („Gegen Abend gerieten wir“), so fühlt sich das Reisen gezwungen an. Als wäre man, hätte man die Wahl gehabt, nicht weggefahren.
Dieses Gefühl, dass man lieber bleiben würde, wird durch die Aussage „wir wussten längst nicht mehr [,] wohin“(G2 V.13) bestärkt. Man geht nicht unbedingt aus eigener Intention weg, vielleicht wird man vertrieben oder umgesiedelt. Der Mensch ist in seinem Leben nicht standhaft, er wird umhergetrieben und fühlt sich nirgendwo daheim. Das Individuum fühlt sich verlassen (vgl. G2 V.12-13), indessen das lyrische Ich sich in „Abschied“ neu findet bzw. einen neuen Lebensweg einschlägt (vgl. G1 V.25-26). Ein weiterer Unterschied ist, dass es in Schmitters Gedicht um eine vergangene Reise geht, die in Verzweiflung und Resignation endet (vgl. G2 V.12-13), wohingegen „Abschied“ sich mit der Gegenwart und der Zukunft beschäftigt (vgl. G1 V.25). Darüber hinaus ist auffällig, dass in „Abschied“ viele wertende Begriffe verwendet werden (z. B. „andächt`ger“ (G1 V.4); „trübe Erdenleid“ (G1 V.14)). In „Gegen Abend gerieten wir“ werden hingegen neutrale Ausdrücke benutzt (z. B. „kleine weiße Kirche“ (G2 V.4)). Was auch durchschimmert ist eine gewisse Religiosität im Gedicht „Abschied“. Man versucht hier einen Kontrast zwischen Erde und Himmel, den die Natur zu repräsentieren scheint, aufzuzeigen. Es wird z. B. „das trübe Erdenleid“ (G1 V.14) genannt. Die Erde, das Vergängliche, wird als fehlerhaft interpretiert, während der Natur beispielsweise „junge[…] Herrlichkeit“ (G1 V.16), Unfehlbarkeit, zugesprochen wird. Das erinnert an den Pantheismus, der sich verstärkt durch die Epoche des Sturm und Drang zieht. Gott ist eins mit der Welt und somit natürlich in der Natur zu finden, deswegen wird sie ja so sehr vergöttert. Im Werk „Abschied“ ist eine Art abgeschwächter Pantheismus vorzufinden. Frank Schmitters Gedicht spricht nicht von Religion oder jeglichem Glauben an etwas, man glaubt ja nicht mal mehr, dass man jemals irgendwo ankommt und sich willkommen, akzeptiert und ganz fühlt (vgl. G2 V.12-13). Es gibt viele Punkte, in denen sich die Gedichte unterscheiden. Letztendendes ist das zentrale Thema jedoch immer noch dasselbe, es geht um das Reisen.
Der Vergleich beider Werke miteinander zeigt, dass die Stimmungen bzw. Gefühle in den Gedichten nicht gleich sind. „Abschied“ von Joseph von Eichendorff ist hoffnungsvoll mit einem Blick auf eine positive Zukunft. In Frank Schmitters lyrischem Text ist jede Hoffnung verloren, man fühlt sich trotz Gruppe isoliert. In der Romantik geht es mehr um eine Naturreise zu Fuß, in der Gegenwart hat man die Möglichkeit, zusammen mit einem Auto wegzufahren, was, hinsichtlich des genannten Staus, auch viele Menschen tun. Obwohl technische Geräte das Leben leichter machen – man kommt viel schneller vom einen Ort zum anderen- ist man nicht glücklich. Man kann jederzeit überall hingehen und fühlt sich wegen dieser Freiheit und in dieser Weite verloren. Demnach wird die Deutungshypothese bestätigt. Es wird des Weiteren klar, dass der Mensch irgendetwas, sei es der Glaube an sich selbst, sei es eine Familie oder auch die Religion, braucht, an dem er sich orientieren kann. Im heutigen, schnellen Leben, in dem oft viele Dinge chaotisch aufeinandertreffen, ist es schwer, sich selbst zu finden.