Die Epoche der lyrischen Gegenwartsliteratur
Definition/Allgemeines zur Literaturepoche der Gegenwartsliteratur:
Die Gegenwartsliteratur ist keine Epoche im engeren Sinne, sondern bezeichnet das literarische Schaffen seit dem Mauerfall und Wiedervereinigung Deutschlands (1989/1990). In einigen Fällen wird auch die Literatur nach Ende des 2. Weltkrieg (1945) bereits als Gegenwartsliteratur bezeichnet. Eine feinere Einteilung kann wie folgt vorgenommen werden: Der Zeitraum von 1945 bis 1967 gilt als Nachkriegsliteratur/Trümmerliteratur. Die Zeit zwischen 1950 bis 1989 gilt als Literatur des Kalten Krieges bzw. als die Literatur der DDR (Aufbauliteratur/Ankunftsliteratur) und BRD (Neue Subjektivität) und seit 1989/1990 gilt die Literatur der Gegenwart und Postmoderne (nicht zu verwechseln mit der Moderne zwischen 1890-1920). Auf dieser Website wird angenommen, dass bereits Werke aus den 1970ern der Gegenwartsliteratur zugeordnet werden können (die Werke der Nachkriegsliteratur werden daher ausgeklammert). Dies wird u.a. deshalb vertreten, weil die Schriftstellertreffen der Gruppe 47 um Günter Grass und Martin Walser von 1947 bis 1967 bis heute Gegenstand der Debatten sind. In der Gruppe 47 waren viele junge Schriftsteller organisiert, die man heute der Gegenwartsliteratur zuordnen kann (z.B. Günter Grass, Martin Walser, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Jürgen Becker und Ilse Aichinger). Zudem werden auch einigen früheren Autoren und Autorinnen wie Rainer Maria Rilke starke Einflüsse auf die Gegenwartsliteratur zugeschrieben (besonders, wenn man schon die Zeit ab 1945 betrachtet).
Epochenbegriff: Der Begriff der Epoche wird für gewöhnlich erst nachgeschichtlich festgelegt (den Vertretern des Barocks war bspw. nicht bewusst, dass sie gerade im Barock lebten). Dies macht es auch außerordentlich schwierig, die Gegenwartsliteratur zu charakterisieren und gemeinsame Merkmale herauszustellen. Trotzdem wird in den folgenden Ausführungen der Begriff der „Epoche“ verwendet und versucht, gewisse Ähnlichkeiten herauszustellen.
Inhalt: Die meisten Werke der Gegenwart haben einen Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Themen, d.h. häufig anzutreffende Inhalte beziehen sich auf den Fall der Berliner Mauer, den (Neo-)Imperialismus, Neokolonialismus und Kapitalismus, den Krieg gegen den Terror, der Globalisierung, der Flüchtlingskrise, den Klimawandel und den gesellschaftlichen Wandel durch die Digitalisierung (Digitale Transformation). Letzteres ist auch ein weiterer Punkt, der die Charakterisierung erschwert: Der allgegenwärtige und leicht erschwingliche Zugang zum Internet und der ständigen Mobilität (Smartphones, E-Book-Reader) ermöglichen es, dass die Autorenschaft sehr diversifiziert ist, dass jeder teilhaben kann und dass Inhalte leicht publiziert und verbreitet werden können. Zusammen mit dem hohen Alphabetisierungsgrad und der generell hohen Bildung im deutschsprachigen Raum lässt bzgl. der Gegenwartsliteratur eigentlich nur ein Schluss ziehen: Lediglich das Entstehungs- oder Erscheinungssdatum lassen erkennen, dass ein Werk der Gegenwartsliteratur zugeordnet werden kann. Selbst die oben genannte thematische Aktualität ist kein solides Merkmal der Epoche, da auch heute noch gelegentlich Werke erscheinen, die zur Zeit des Dritten Reich oder des geteilten Deutschlands handeln. Dies wird häufig in Form einer Rückschau gemacht, d.h. der Autor bzw. das lyrische Ich wirft einen Blick zurück in die Vergangenheit und beschreibt das dortige Handeln. Hierfür gibt es das eigene Wort der Erinnerungsliteratur, die eben Teil der Gegenwartsliteratur ist. In der Erinnerungsliteratur wird das Leben der Menschen in dieser Zeit beschrieben und hat damit zu tun, dass die eigene Identitäts- und Sinnsuche oftmals mit der Verarbeitung der Erfahrungen der Eltern- und Großeltern-Generation verbunden wird.
Kinder- und Jugendliteratur: Einen ebenfalls sehr breiten Einfluss besitzt besonders in der jüngeren Gegenwartsliteratur die Kinder- und Jugendliteratur. Beispiele dafür sind „Die Welle“ von Morton Rhue, „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf, „Krabat“ von Otfried Preußler oder „Harry Potter“ von Joanne K. Rowling. Erst seit den 1950er-Jahren etabliert sich die Idee, Literatur speziell an junge Leser zu richten. Besondere Beachtung fand 1954 „Herr der Fliegen“ von William Golding. Bereits im 19. Jahrhundert gab es Formen der Jugendliteratur, allerdings richtete sie sich an erwachsene Leser (bspw. „Heidi“ von Johanna Spyri, „Die Schatzinsel“ von Robert Louis Stevenson, Die Abenteuer des Huckleberry Finn und Tom Sawyer von Mark Twain, „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll oder „Oliver Twist“ von Charles Dickens).
Stil: Die Stile der Werke der Gegenwartsliteratur sind sehr unterschiedlich und sind ebenfalls nicht geeignet, um Werke der Gegenwartsliteratur zu identifizieren. Es sind alle literarische Gattungen verbreitet wie der Roman, die Kurzgeschichte, Lyrik, Sachbücher und Theaterstücke. Allenfalls die starke Diversifizierung, die Gleichzeitigkeit und anerkannte Vielfältigkeit und Experimentierfreudigkeit all dieser Formen kann als typisch für die Gegenwart gesehen werden. Selbst neue Schreibstile und Publikationsformen infolge der Digitalisierung wie das Bloggen (Netzliteratur) sind populär und anerkannt. Auch der spielerische literarische Wettkampf in Form des Poetry Slams ist fester Teil der Gegenwartsliteratur. Darüber hinaus ist die Gegenwartsliteratur oftmals sehr zwiegespalten, nämlich einmal in die anspruchsvolle und mit (Literaturnobel-)Preisen dotierte Literatur und auf der anderen Seite die Unterhaltungsliteratur wie Krimis.
Autoren: Die Autoren der Gegenwartsliteratur sind sehr unterschiedlich. Es gibt bekannte Namen wie Günter Grass und Ingeborg Bachmann, allerdings gibt es auch eine ganze Reihe von Quereinsteigern. Zudem hat sich in der Gegenwart die Meinung durchgesetzt, dass kreatives Schreiben erlernbar ist (Schreibschulliteratur). In früheren Epochen galt das Schreiben hingegen als angeborenes Talent.
Historischer Kontext:
- Digitialisierung der Gesellschaft, aufkommende künstliche Intelligenz (Smart Home, selbstfahrende Autos) und damit einhergehende Angst vor Jobverlust
- Klimawandel und Zerstörung des Natur (Reaktorunglück in Fukushima, Vermüllung der Weltmeere), Einsatz regenerativer Energien und Hinwendung zum Elektroauto
- Zunehmender Verlust von privaten Räumen durch staatliche Überwachung (Überwachungsstaat) und durch Datenansammlung und Auswertung von Privatunternehmen (bspw. Google oder Facebook).
- Schrumpfen der Mittelschicht, Anstieg der Kinderarmut in Deutschland
- Aufkommender Populismus (Donald Trump, Marine Le Pen, Geert Wilders), AfD in Deutschland, Fremdenhass und Nationalismus, Fake News
- Islamkonflikt, Islamischer Staat und islamistische Terroranschläge in Europa
- diplomatische Krise mit Russland (Wladimir Putin), Nordkorea (Kim Jong-un) und der Türkei (Recep Tayyip Erdoğan)
- Krieg gegen den Terrorismus unter Bush und Obama, Terroranschlag auf das World Trade Center am 11.09.2001
- Nahost-Krise, Bürgerkrieg in Syrien
- Fall der Berliner Mauer, Wiedervereinigung Deutschlands, Sieg über die Sowjetunion bzw. über den Sozialismus/Kommunismus, Umbruch in Osteuropa
- Vor 1989: Konflikt zwischen Ost- und Westdeutschland bzw. West- und Ostmächte (Alliierte vs. Sowjetunion, Kalter Krieg), 68er-Generation (BRD), Studentenrevolten (BRD).
Themen des Gegenwartsliteratur:
- Realitätsflucht des Individuums
- Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit (insbesondere anhand von Eltern- und Großeltern)
- Identitätssuche
- Liebe, Beziehung und zwischenmenschliche Probleme
- Kritik jeglicher Art:
- Kapitalismuskritik
- Gesellschaftskritik
- Kritik am Krieg
- Kritik am Umgang mit der Natur
- Systemkritik
- diverse weitere Themen mit und ohne gesellschaftlicher Relevanz
Kennzeichen und Merkmale:
- Freie Formen, künstlerische Freiheit, teilweise auch Wechsel zwischen traditionellen Formen und freien Formen oder gar zwischen Gattungen
- Experimentierfreudigkeit, spielerischer Umgang mit Motiven, Mythen und Formen
- Einsatz von Ironie (auch distanzierende Selbstironie) und Humor
- Anspielungen auf andere Werke und Verfremdungen, z.B. durch Verwendung von Zitaten (Intertextualität)
- Leichte Verständlichkeit und verschlüsselte Inhalte (teils Mehrfachkodierung) wechseln sich ab und bieten damit sowohl für den Laien, als auch für den Experten etwas
- Spiel mit Gegensätzen (Antithetik)
- Einflüsse von Multikulturalität (deutsch-türkische Literatur)
Gedichtbeispiele und bekannte Werke zu Themen der Gegenwartsliteratur:
Gesellschaftskritik, Systemkritik:
- „Dran glauben“ von Bas Böttcher (Kritik an der Medien- und Konsumwelt)
- „Eine Leichenrede“ von Kurt Marti (Kritik daran, wie die Gesellschaft das Individuum mit seinen Zwängen einschränkt)
- „Fußgängerzone“ von Olaf neopan Schwanke (Kritik an der Hektik in unserer Gesellschaft)
- „Bruder Otter“ von Robert Gernhardt (Es wird der Umgang mit der Natur am Beispiel einer aussterbenden Tierart kritisiert; gutes Beispiel für Intertextualität, ein ernstes Thema wird humoristisch verarbeitet)
- „1984“ von George Orwell (Kritik am Überwachungsstaat)
- „Die Welle“ von Morton Rhue (Kritik an der Manipulierbarkeit des Kollektivs zum Nutzen autoritärer Systeme)
- „Andorra“ von Max Frisch (Kritik am Mitläufertum)
- „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt (Kritik an oberflächlichen Wertevorstellungen der Gesellschaft; die verrückten Physiker stellen sich als gesellschaftlich verantwortungsvoll handelnde Personen heraus, während die angesehene Ärztin und Leiterin des Sanatoriums die eigentlich Verrückte ist)
- „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt (Kritik an der Käuflichkeit des Menschen)
Krieg und Frieden:
- „Sonett vom Gebet des George W. Bush zu seinem Gott“ von Robert Gernhardt (Kritik am Krieg)
- „Fantasma“ von Günter Kunert (Darstellung einer städtischen Trümmerlandschaft nach der Apokalypse; Verwendung von Ironie, mögliche Anspielung auf Gottfried Benn)
- „Im Schatten der Hochhäuser“ von Jürgen Becker (Kritik am entfremdeten Umgang miteinander in der Stadt und der unnatürlichen Lebensweise durch Verdrängung der Natur; Resignation unter Verwendung von Ironie; das in der Gegenwartslyrik manchmal auch Elemente aus früheren Epochen wie dem Expressionismus aufgegriffen werden, wird hier am Gedichtvergleich zu „Die Fahrt nach der Irrenanstalt I“ von Alfred Lichtenstein deutlich)
Alltagsflucht:
- „Das Bürofenster“ von Roman Ritter (das lyrische Ich träumt sich weg aus seinem Büro; gutes Beispiel wie frei die Form in der Gegenwartslyrik ist)
- „Sieben Tage“ von Rolf Haufs (Beziehung scheitert an den Träumen des Individuums, welches aus dem Alltag ausbrechen will; Beispiel für freie Formen der Gegenwartslyrik)
- „Einer Gepardin im Moskauer Zoo“ von Durs Grünbein (die Gefangenschaft der Gepardin steht für die Sehnsucht nach der Welt „da draußen“; der Gedichtvergleich zu „Der Panther“ von Rilke macht bereits deutlich, worauf Durs Grünbein hier anspielt)
Liebe und zwischenmenschliche Beziehung:
- „Bildlich gesprochen“ gesprochen von Ulla Hahn (das lyrische Ich bedrängt eine andere Person und nimmt das „lyrische Du“ in Besitz)
- „Danklied“ gesprochen von Ulla Hahn (Ergänzung zu „Bildlich gesprochen“: hier bedankt sich das lyrische nach einer Trennung beim „lyrischen Du“, allerdings könnte das ironisch verstanden werden, weil das lyrisch Ich sich ungeliebt gefühlt hat)
- „Ich bin zwanzig“ von Uwe Herms (hat Ähnlichkeiten zu „Bildlich gesprochen“ von Ulla Hahn: das lyrische Ich lässt Besitzansprüche am „lyrische Du“ erkennen)
- „Ich bin im Mai idiotisch erotisch“ von Miriam Francis (verspielte und selbstironische Darstellung zum Thema Liebe, hier als leider etwas kurz geratener Gedichtvergleich zu „Maifest“ von Goethe)
- „Krabat“ von Friedrich Dürrenmatt (behandelt das Thema Freundschaft, Liebe, Gehorsamkeit und Standhaftigkeit in einem Jugendroman)
Bekannte Autoren/Vertreter der Gegenwartsliteratur:
Wie bereits oben erwähnt, ist die Anzahl der Autorinnen und Autoren kaum sinnvoll einzugrenzen und wird durch die nachfolgende Liste nicht annähernd vollständig ausgeführt. Bemerkenswert ist, dass sich seit dem 2. Weltkrieg die Zahl der weiblichen Autoren sukzessive mit denen der männlichen Autoren sichtbar angleicht und die Folgen der Emanzipation und Frauenbewegung hier sehr deutlich werden.
- Gruppe 47
- Schriftsteller/innen der 78er-Generation um Matthias Politycki
- Autoren und Autorinnen der Wendeliteratur
- Thomas Brussig
- Uwe Tellkamp
- Uwe Timm
- Sven Regener
- Jana Hensel
- Ingo Schulze
- und viele weitere
- Fräuleinwunder-Autorinnen
- Schriftsteller/innen der Popliteratur
- Thomas Kling
- Durs Grünbein
- Uwe Kolbe
- Marcel Beyer
- Wolf Biermann (Liedersänger aus der DDR, wird daher oftmals eher der Literatur der DDR zugeordnet)
- z.T. werden auch Rainer Maria Rilke, Kurt Tucholsky, Bertolt Brecht und weitere Schriftsteller der Gegenwart zugeordnet
26. Februar 2019 um 09:11
Tolle Seite
Kuss auf die Nuss
27. November 2019 um 10:31
Danke, die Seite hat mir sehr geholfen
Ps: ThiloAden Ehrenmann