
Roman: Irrungen, Wirrungen (1887)
Autor/in: Theodor FontaneEpoche: Realismus
Inhaltsangabe/Zusammenfassung, Szenen-Analyse und Interpretation
In Theodor Fontanes Roman „Irrungen, Wirrungen“ aus dem Jahre 1887 geht es um die Darstellung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert anhand einer gescheiterten unstandesgemäßen Beziehung.
Die bürgerliche Näherin Lene ist seit wenigen Monaten mit dem adeligen Botho von Rienäcker zusammen. Sie sind verliebt und treffen sich häufig, allerdings immer bei Lene in der abgelegenen Gärtnerei. Jedoch machen beide zusammen einen Ausflug zu Hankels Ablage, wo sie in die Öffentlichkeit treten. Nach der Rückkehr bekommt Botho ein Brief von seiner Mutter, in dem sie ihm sagt, dass er zwischen Käthe und Lene eine Entscheidung treffen muss. Nach der Entscheidung, die Beziehung mit Lene zu beenden, heiratet Botho Käthe. Das gleiche Doppelleben führt aber der adelige Rexin, ein Kamerad Bothos. Bei einem Treffen mit Botho bittet dieser ihn in diesem Textauszug um einen Rat zu seiner unstandesgemäße Beziehung.
Anhand dieser Textstelle wird der dargestellte gesellschaftliche Zyklus des Romans durch den modernen Rexin gebrochen.
Zuerst erzählt Rexin Botho von seinen Gefühlen gegenüber seiner Geliebten und seiner Gesellschaft (S. 162 Z. 35 bis S. 163 Z. 12). Danach beschreibt er seine Geliebte, Jette, und zeigt sich bereit einen Mittelweg gehen, also einen Kompromiss zu wählen, indem er eine Ehe ohne Ehe führt (S. 163 Z. 13 bis S. 164 Z. 26). Zum Schluss kommt die Antwort Bothos dazu, wobei er ihm von diesem Mittelweg abrät. Außerdem rät er ihm aus eigener Erfahrung, diese Beziehung sofort zu beenden (S. 164 Z. 27 bis S. 165 Z. 35).
Rexins erste Worte „Kurz und gut, ich fühle mich engagiert, mehr als das, ich liebe Henrietten, oder um Ihnen so recht meine Stimmung zu zeigen, ich liebe die schwarze Jette“, zeigen wie ehrlich und direkt er eigentlich zu Botho ist. Besonders auffällig ist hier auch, dass er sich traut über diese unstandesgemäße Beziehung offen zu reden, welches Botho nicht geschafft hat. Anders als Botho, der sich lieber für die Zufriedenheit seiner Eltern und finanzielle Stabilität entschieden hat, konnte Rexin „was wie Feierlichkeit und schöne Redensarten aussieht, nicht brauchen“. Dies zeigt, dass Rexin eigentlich kein Glück im Lebensstil der oberen Schicht findet.
Dies verdeutlicht auch, warum er so sehr in „Jette“ verliebt ist. Seine Beschreibung von ihr, dass sie „aus keiner Ahnenreihe von Engeln (stammt) und ist selbst keiner“, stellt seine Zuneigung zu ihr da, die er nicht zu den Leuten aus seiner Schicht findet. Dies wird durch seine Frage „Aber wo findet man dergleichen? In unsrer Sphäre?“ deutlich. Auch die Tatsache, dass er gegen die Gesellschaft ist, wird durch die ständige Kritik an der Oberschicht deutlich, wie z. B. „Alle diese Unterschiede sind ja gekünstelt und die gekünstelten liegen auf dem Gebiete der Tugend“. Direkt sagt er auch, dass die Gesellschaft „langweilige und strippengerade (...) Formen“ hat. Somit ist Rexin die erste Figur im Roman, die die Gesellschaft deutlich kritisiert. Auch die Beschränkungen dieser Gesellschaft erwähnt er, indem er sein Land auf gesellschaftlicher Ebene mit Amerika vergleicht. Seine Unzufriedenheit gegenüber den gesellschaftlichen Normen wird auch durch seine Wortwahl deutlich, wobei er nur negative Adjektive wie „langweilig“ oder „gekünstelt“ anwendet. Jedoch zieht sich Rexin, um eine Entscheidung treffen, genauso wie es Botho tat, ein bisschen zurück, welches wiederum den inneren Konflikt, den die Gesellschaft verursacht, zeigt. Die Gründe sind hier, dass Rexin es seinen „Eltern nicht antun (will)“ oder, dass er „aus dem Dienst heraus (geht), um in Texas Cowboy zu werden“. Diese stellen, ebenfalls wie bei Botho, gewöhnliche Gründe dar, denn sie dienen der Beschwichtigung der Eltern und der Sorge um die finanzielle Stabilität. Nichtsdestotrotz will Rexin einen Mittelweg gehen, da er sein Glück nicht aufopfern will. Es zeigt sich nur, dass Rexin nicht nur die gesellschaftliche Norm kritisiert, sondern, dass er auch bereit ist, entgegen der Moral seiner Gesellschaft zu leben. Das Paradox „Einigung ohne Sanktion“ zeigt, dass Rexin bereit ist, eine „Ehe ohne Ehe“ zu führen, mit der Begründung, dass er „nihilistisch“ sei. Auch führt er einen wichtigen Aspekt ins Feld, der im 19. Jahrhundert selten thematisiert wurde. Dies ist, dass ein Individuum manchmal nicht aus Moral agiert, sondern aufgrund der „eingebornen Natur“ des Menschen. Anders als Menschen aus seinem Stand, sehnt sich Rexin „nach einfachen Formen, nach einer stillen, natürlichen Lebensweise, wo Herz zum Herzen spricht und wo man das Beste hat, was man haben kann, Ehrlichkeit, Liebe, Freiheit“. Das Nomen „Freiheit“ wird von Botho aus dem Grund wiederholt, weil er aus eigener Erfahrung weiß, dass wirkliche Freiheit von der Gesellschaft nicht angeboten bzw. geduldet wird.
Deswegen ist Bothos erste Warnung „Und so beschwör ich Sie denn, bleiben Sie davon“ eigentlich vorhersehbar, da Botho um die Gefahr, gegen die gesellschaftliche Norm zu leben, weiß. Denn am Ende hat Rexin zwei Möglichkeiten, die beide genauso schlimm sind und seine Situation somit zum Dilemma machen. Entweder entscheidet sich Rexin gegen seine Herkunft, so wird sie ihm ein „Greuel und eine Last sein“. Wenn er allerdings zu einem späteren Zeitpunkt doch noch „Frieden mit Gesellschaft und Familie“ schließt, so wird dieser Friede nur durch Beendigung der unstandesgemäßen Beziehung erfolgen können. Mit dem Ende der Beziehung „beginnt der Jammer“, denn alle werden ihn unter Druck setzen und je länger die Beziehung dauert, desto mehr Erinnerungen werden ihn dann quälen. Somit wird klar, dass Botho Rexin vor dem Widerstand gegen die Gesellschaft zu warnen versucht und ihm die schnellstmögliche Beendigung der Beziehung nahelegt. Jedoch wird durch Rexins Intention auf Botho zu antworten gezeigt, dass Rexin dem Diktat der Gesellschaft nicht einfach blind folgen will. Er will einen Mittelweg gehen. Vor dem warnt ihn Botho, indem er direkt sagt „hüten Sie sich vor diesem Mittelkurs“. Denn der Mittelweg hieß für Botho ein Doppelleben zu führen. Sobald aber beide Welten in Kontakt kamen, musste sich Botho für ein Leben entscheiden, wobei das Andere immer in Erinnerung bleiben würde. Dies wird durch die Metapher2 „ein Bild, das uns in die Seele gegraben wurde, verblasst nie ganz wieder, schwindet nie wieder dahin.“ deutlich. Durch Bothos Worte kann man sehen, dass es wirklich schwierig für ihn ist, die liebevolle Beziehung zu verarbeiten. Der unfaire Handel mit der Gesellschaft wird durch seine Aussage „Vieles ist erlaubt, nur nicht das, was die Seele trifft, nur nicht Herzen hineinziehen, und wenn es auch bloß das eigene wäre“ verkörpert. Botho kritisiert mit seinen Worten die Gesellschaft, die durch ihre Normen das persönliche Glück der Menschen zerstört.
Insgesamt wird in dieser Textstelle der Kontrast zwischen Rexin und Botho deutlich. Rexin ist hier der moderne junge Mensch, der bereit ist, für seine Geliebte gegen die Gesellschaft zu kämpfen. Im Vergleich zu Botho in Kapitel 14 versucht Rexin sich nicht davon zu überzeugen, das er sich für sein gesellschaftlich-akzeptiertes Leben zu entscheiden. Es ist kein Schein-Innerer-Konflikt, sondern ein Wahrer. Er versucht eine Entscheidung zu treffen, verneint aber, dass er sein Glück aufgibt. Er versucht einen Mittelweg zu gehen, und wenn man schon ein Mittelweg herbeisehnt, dann ist man bereits auf dem Weg gegen die gesellschaftliche Norm zu verstoßen. Seine einzigen Argumente, um sich gegen die Beziehung zu entscheiden, sind seine Eltern und die finanzielle Stabilität. Jedoch ist er nicht bereit sein Glück für diese zwei Gründe aufzuopfern, welches Botho eigentlich getan hat. Während Rexin kämpferisch und emotional erscheint, wirkt Botho im direkten Vergleich dazu sehr rational.
Theodor Fontane konzentriert sich im weiteren Verlauf des Romans im Wesentlichen darauf, darzustellen, wie Lene und Botho versuchen, das Ende der Beziehung zu verarbeiten. Beide Figuren haben immer noch eine indirekte Verbindung miteinander. Auf den, stärker als Botho, gegen die Norm aufbegehrenden Rexin, wird hingegen nicht mehr eingegangen. Der Leser mag sich daher fragen, welche Entscheidung Rexin letztlich getroffen hat. Nach seinem Gespräch mit Botho deutet sich aber an, dass Rexin ein negatives Abziehbild von Botho werden könnte. Somit geht Fontane ein bisschen gegen rationalen Realismus und positioniert Rexin als einzige Hoffnung im Roman, dass sich jemand (erfolgreich) gegen die Gesellschaft stellt, um für die eigene Freiheit und das eigene Glück zu kämpfen. Der deutliche Kontrast zwischen Botho und Rexin zeigt, dass es Personen in dieser Gesellschaft gibt, die bereit sind, gegen das Diktat der Gesellschaft zu kämpfen. Fontane lässt allerdings offen, welche Entscheidung Rexin letztlich trifft und wie sich dieser Strang im Roman weiterentwickelt. Wird er ein zweiter Botho sein oder ein moderner Rexin?