Roman: Irrungen, Wirrungen (1887)
Autor/in: Theodor FontaneEpoche: Realismus
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Die Wahl der freien Partnerschaft ist ein selbstverständliches Gut in den meisten Industrieländern und mit der neuesten Errungenschaft der freien Liebe dürfen nun auch gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland heiraten. Mit Unverständnis blicken wir auf die Länder, in denen Eltern ihre Kinder verheiraten lassen oder im Kastensystem ihre Kaste nicht überschreiten dürfen, wie in Indien.
Doch vor Circa 150 Jahren war die Situation in Deutschland nicht ganz anders. Zur Zeit der Standesgesellschaft schrieb und veröffentlichte Theodor Fontane 1888 den Roman „Irrungen, Wirrungen“. Dieser spielt im Berlin der 1860er Jahre und ist an die Gesellschaft der damaligen Zeit adressiert. In dem Roman wird die ständeübergreifende Beziehung zwischen dem adligen Botho und der bürgerlichen Lene thematisiert, welche heimlich verläuft und letztendlich an der Ständegesellschaft scheitert. Beide heiraten am Ende andere Partner.
Der Autor will in diesem Ausschnitt des 14. Kapitels Bothos Zerrissenheit zwischen seinen eigenen Wünschen und den Zwängen der Gesellschaft durch rhetorische Fragen und die Ortsbeschreibung darstellen.
Vor diesem Abschnitt bekam Botho einen Brief seiner Mutter, indem sie ihm sagt, dass er eine andere Adlige heiraten muss, um das Geld der Familie zu retten. In dem vorliegenden Abschnitt bedenkt Botho das Für und Wider einer Beziehung mit Lene bei einem Ausritt. Dabei wird sein persönlicher Zwiespalt zwischen Liebe und der Norm der Gesellschaft dargestellt und letztlich entscheidet er sich gegen Lene. Nach diesem Ausschnitt schreibt Botho einen Brief, indem er die Beziehung mit Lene beendet.
Der Abschnitt ist zeitdeckend. Der Leser erlebt eine Abwechslung zwischen dem Monolog Bothos und dem Erzählerbericht, wobei Bothos Ritt durch die Berliner Ortschaft beschrieben wird. Im Erzählerbericht sind kleine zeitraffende Gestaltungen enthalten, zum Beispiel das Gespräch mit dem Burschen: „… gab dem Burschen ein paar Weisungen an.“ (Z. 4). Die Zeitdeckung lässt das Geschehen authentischer wirken. Der Leser erlebt Bothos Konflikt und seine Gedankengänge mit und kann sich mit diesen identifizieren.
Ebenfalls für Authentizität sorgt die Berliner Ortschaft, z. B. Moabit, Tegel und Jungfernheide (vgl. Z. 5, 6, 14). Diese sind bekannt und geben der ganzen Geschichte etwas Alltägliches und dadurch wird das Werk realistisch.
Der Feld- und Wiesenweg bedeutet für Botho Rückzug (vgl. Z. 5-6). Hierher kommt er, um sich der Gesellschaft zu entziehen und in Ruhe nachzudenken. Der Weg ähnelt ebenfalls den Plätzen, an denen er sich mit Lene zurückgezogen hat. Dennoch wird er selbst hier durch die Anwesenheit der Ständegesellschaft bei seinen Überlegungen gestört. Dies wird dargestellt durch die Kanonenschüsse des Tegler Schießplatzes, auf dem er arbeitet (vgl. Z. 14). Es verdeutlicht, dass niemand sich den Konventionen der Gesellschaft entziehen kann, auch wenn er versucht, denen wenigstens einen Moment zu entkommen.
Durch Bothos rhetorische Fragen in seinem Monolog wird dessen Zwiespalt besonders deutlich. „Was ist es denn, was mich hindert, den Schritt zu tun, den alle Welt erwartet?“ (Z. 9-10) Er beantwortet seine Fragen selbst, wobei er ehrlich zu sich ist: „Weil ich sie liebe.“ (Z. 13). Botho hinterfragt ebenfalls die Ständegesellschaft mit seinen Fragen: „Warum soll ich mich dieser Neigung schämen?“ (Z. 17), „War es denn etwas so törichtes und unmögliches, was ich wollte?“ (Z. 28). Damit drückt der Autor aus, dass Botho als adeliges Opfer der Ständegesellschaft durchaus in der Lage ist, diese auch zu hinterfragen. Er sieht seine Liebe als echt und natürlich an, obwohl er ein unterstützender Teil der Ständegesellschaft ist und sich schließlich gegen eben diese Liebe entscheidet. Dennoch unterstützt er die gesellschaftliche Norm nicht blind und unkritisch. Jeder Unterstützer könnte also so sein wie Botho und hat nur nicht den Mut sich aus dieser Gesellschaft zu
befreien.
Metaphern1 des Übernatürlichen verdeutlichen außerdem Bothos Verständnis für die wahre Liebe. Die wahre Liebe wird von der damaligen Gesellschaft als Rätsel oder Zauber dargestellt: „Möge die Welt noch so sehr den Kopf darüber schütteln und von Rätseln sprechen.“ (Z. 18-19) und „…darin liegt der Zauber, aus dem mich zu lösen mir jetzt so schwer fällt.“ (Z. 23) Für Botho ist es jedoch weder ein Rätsel, noch ein Zauber, sondern die Liebe ist für ihn etwas sehr natürliches, wofür man sich nicht schämen muss: „Übrigens ist es kein Rätsel, und wenn doch, so kann ich es lösen. Jeder Mensch ist seiner Natur nach auf bestimmte (…) Dinge gestellt.“ (Z. 19-20). Das Verständnis und Bedürfnis für/nach der wahren Liebe zeigen, was Botho wichtig ist und heben die Vorteile einer Beziehung mit Lene hervor.
Trotz dieser Liebe besitzt Botho jedoch eine Schwäche in sich, die ihn daran hinderte seinen Träumen nachzugehen: „Es liegt nicht in mir, die Welt herauszufordern und ihr und ihren Vorurteilen den Krieg zu erklären.“ (Z. 28-29), obwohl er ein Leben gewählt hat, welches er nicht wollte: „Chic, Tournure, Savoir-faire – mir alles ebenso hässliche wie fremde Wörter.“ (Z. 34-35). Somit wird Botho als typisch realistische Figur die seiner Zeit charakterisiert. Die Menschen zur Zeit des Realismus wollten sich gehen lassen und sich den Dingen hingeben. Durch die gescheiterte Revolution fühlten sie nicht die Kraft in sich, sich gegen Ungerechtigkeiten aufzulehnen. Mit Botho als typischer Charakter konnten sich die Menschen zur Zeit des Realismus mit ihm identifizieren, was das Werk realistischer erscheinen lässt. Botho, als realistische Figur seiner Zeit, trifft letztendlich also eine Entscheidung zugunsten der Ständegesellschaft und macht sich dadurch unglücklich, wodurch sich die Kritik des Autors gegenüber der Gesellschaft ausdrückt.
Auch vom Erzähler wird Botho bewertet und somit charakterisiert. Der Erzähler unterstützt seine Vorlieben: „Rienäcker, der sich den Sinn für das Natürliche mit nur zu gutem Rechte zugeschrieben.“ (Z. 61-62). Er wird jedoch auch kritisiert: „…nahm sich fester und schärfer ins Verhör.“ (Z. 8). Durch das Verhör mit sich selbst gibt der Erzähler Botho eine Art Schuld an dem, was passieren wird. Dadurch wird dem Leser verdeutlicht, dass Botho nicht nur ein machtloses Opfer der Ständegesellschaft ist. Er hätte etwas gegen seine Situation tun können, unterlässt dies aber und macht sich somit auch schuldig. Aber nicht nur Botho wird vom Erzähler kritisiert: „Einer Adelsvorstellung, einer Standesmarotte zuliebe, die mächtiger war als alle Vernunft.“ (Z. 51). Somit wird die kritische Haltung des Erzählers ausgedrückt, mit der der Leser sich identifizieren kann und ihm zustimmt. Der Autor verfolgt dadurch auch sein Ziel, zwar einen realistischen, aber auch kritischen Roman der damaligen Zeit zu schreiben.
Der Erzähler ist auktorial und gibt die Innen und Außenperspektive wider. Er weiß, was in Botho vorgeht, was durch die erlebte Rede dargestellt wird: „Wie das ihn traf!“ (Z. 40/41). Er kennt aber auch die Haltung anderer Figuren: „Der Neid der Kameraden.“ (Z. 3-4). Dadurch, dass der auktoriale Erzähler bereits weiß, was passiert, kann er durch Doppeldeutigkeiten vorausschauend werden. So wird die prächtige Fuchsstute zum Beispiel als „Geschenk des Onkels, zugleich der Neid der Kameraden.“ (Z. 3-4) bezeichnet. Dies ist eine Vorausdeutung zu Käthe, seiner zukünftige Frau, da sie als Geschenk des Onkels durch die arrangierte Hochzeit seine Frau wird und von den Kameraden sehr gemocht wird. Durch die auktoriale Erzählweise bekommt der Leser einen Einblick in die gesamte Geschichte und kann durch Vorausdeutungen schon eigene Schlüsse zum Ende ziehen.
Das Pferd, sowie Käthe sind Botho nicht sehr wichtig, was verdeutlicht wird, als er am Walzwerk vorbeireitet. Dort essen Arbeiter zu Mittag: „Mit einem Anflug von Neid sah er auf die Gruppe glücklicher Menschen.“ (Z. 63). Obwohl er ein gutes Pferd und viel Geld hat und nicht hart arbeiten muss, wie die Menschen am Walzwerk, ist er neidisch auf sie, wodurch dem Leser noch einmal Bothos wahren Bestrebungen gezeigt werden: Liebe, Natürlichkeit und wahres Glück.
Doch diese Bestrebungen macht er nicht wahr. Zu dieser Entscheidung kommt er vor allem, als sein Pferd, wie von selbst zu einem Steinkreuz unter einem alten Baum läuft (Z. 36-39). Der dort begrabene Mann war bei einem Duell unter Edelmännern gestorben, was von der Gesellschaft akzeptiert ist. Dieses Steinkreuz unter dem Baum fungiert als Beispiel zu Bothos Geschichte. Denn der Mann wusste, dass das Duell falsch ist, da es die Gesellschaft aber vorzieht, hat er sich diesem Duell trotzdem gestellt und ist zugrunde gegangen, so wie es mit Bothos Glück passieren wird, wenn er sich dem Willen der Gesellschaft beugt. Und obwohl sich Botho dessen bewusst ist, trifft er die Entscheidung gegen Lene: „… dass das Herkommen unser Tun bestimmt. Wer ihm gehorcht, kann zugrunde gehen, aber er geht besser zugrunde, als der, der ihm widerspricht.“ (Z. 54-55). Durch diese Entscheidung vor dem Steinkreuz wird dem Leser noch einmal genau Bothos Position der Gesellschaft gezeigt, nämlich dass er sie kritisiert, aber trotzdem befolgen möchte, da ihm der Mut zu mehr fehlt, wobei auch Bothos größte Schwäche deutlich wird.
Auch wenn Botho zuerst in dieser Entscheidung schwankte, zeigen Doppeldeutigkeiten in der Sprache, dass es schon feststand, diese Entscheidung zu treffen. Zum Beispiel: „Hier bog das Pferd, das er (…) kaum noch im Zügel hatte, wie von selbst in einen Seitenweg ein.“ (Z. 36) und „Er wusste, dass das Kreuz herum stehe, war aber nie bis an diese Stelle gekommen“ (Z. 41). Der Seitenweg steht dabei für die Entscheidung, die von selbst getroffen wurde, ohne dass seine Gedanken oder seine Bestrebungen dagegen etwas ausrichten konnten. Es stand einfach schon fest. Das zeigt auch das Kreuz. Er wusste, dass diese Entscheidung irgendwann getroffen werden muss, war dieser aber bisher immer aus dem Weg gegangen und stand nun direkt vor ihr. Das Kreuz ist auch ein Symbol für Tod und das Ende, was also das Ende der Beziehung mit Lene markiert. Es zeigt aber auch, dass Botho nicht mehr glücklich sein wird. Der Leser bekommt dadurch eine Voraussicht, wie Botho sich entscheiden wird und kann nun ebenfalls Schlüsse auf das Ende ziehen, was sie Spannung anhebt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es dem Autor geglückt ist, durch rhetorische Fragen in Bothos Monolog und die symbolhafte Ortsbeschreibung, seinen inneren Zwiespalt und seine Überlegungen darzustellen. Der Leser erlebt diese mit und kann sich mit ihnen identifizieren und seine Gedankengänge nachvollziehen. Darüber hinaus schafft es der Autor aber auch, eine realistische Figur in einer realistischen Umgebung der damaligen Zeit darzustellen, welche eine Entscheidung gegen die eigenen Bestrebungen und somit das eigene Glück trifft. Mit dieser Wendung des Romans, aber auch mit einem auktorialen Erzähler, der bewertet, kritisiert und vorausblickt, gelingt es dem Autor eine Kritik der damaligen Zustände zum Ausdruck zu bringen und dem Leser begreiflich zu machen, sodass dieser ihm zustimmt.
Blickt man nun in die heutige Zeit zurück, fällt auf, dass noch nicht alle Menschen frei von dieser Norm sind. Vor allem in anderen Ländern, aber auch in Deutschland gibt es Liebespaare, deren Zusammensein von der Familie, der Umgebung oder der dort herrschenden Gesellschaftsnorm nicht gebilligt wird. Dadurch zeigt sich der aktuelle Bezug von „Irrungen, Wirrungen“, welches ein Problem thematisiert, was die Menschen 150 Jahre später immer noch beschäftigt und berührt. Und die Kritik Theodor Fontanes ist auch heute immer noch nötig.