Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Gedichtanalyse: „Im Dämmer“
Das zu analysierende expressionistische Gedicht „Im Dämmer“, welches 1913 erschien und von Paul Zech verfasst worden ist, handelt von einer Fabrik, wobei die Auswirkungen der Fabrik auf die Stadt und die Menschen genau beschrieben wird.
Bei dem Gedicht handelt es sich um ein Sonett1 mit jeweils zwei Quartetten und Terzetten. Das Reimschema, bei dem es sich um einen umarmenden Reim (abba cddc efggfe) handelt, ist ebenso regelmäßig wie der fünfhebige Trochäus.
Die erste Strophe beschreibt die Stadt, dessen Bild stark durch die Fabriken geprägt ist. Hingegen konzentriert sich das zweite Quartett auf die Menschen, die in zwei Gruppen unterteilt werden. Dabei handelt es sich um Arbeiter, die Frondienst leisten und um junge Leute, die sich in Kantinen vergnügen. Die Terzette beziehen sich wieder auf die Beschreibung der Fabrik, wobei das erste Terzett die Tätigkeiten in der Fabrik schildert und die letzte Strophe sich auf die Auswirkungen, welche sich unter anderem im weitreichenden Dampf äußern, bezieht.
Direkt zu Beginn des Gedichtes wird die Fabrik personifiziert, indem ihre zuckende Lichterkette (vgl. V. 1 ff.) beschrieben wird. Dabei nimmt die gewaltige Existenz der Fabriken bedrohende Ausmaße an, was durch das Verb „zuck[en]“ (V. 1), welches unkontrollierbare Sachverhalte assoziiert und das negativ konnotierte Adjektiv „schwarz[en]“ (ebd.) zum Ausdruck gebracht wird. Die herbei erfolgte Farbsymbolik spielt eine bedeutende Rolle, da die Farbe schwarz negative Konnotationen2 hat, die für Tod, Schlechtes und Vergänglichkeit stehen. So wird ein negatives und schlechtes Bild der Fabrik erzeugt. Die Präsenz der Lichterkette (vgl. V. 2) verdeutlicht, dass ein natürlicher Rhythmus der Menschen unterbrochen wird und die Fabrik über allem steht. Dies wird besonders unter Berücksichtigung des Titels „Im Dämmer“ deutlich. Besonders interessant ist die Metapher3 (V. 1), in der die Natur verdinglicht wird, indem Kanäle als Spiegel bezeichnet werden (vgl. V. 1), sodass die Fabrik in der Natur widergespiegelt wird. Die Verdinglichung der Natur steht konträr zur Personifikation der Natur, was die Dominanz der Fabrik hervorhebt. Der anaphorische Gebrauch im zweiten und dritten Vers verdeutlicht die zwangsläufigen Auswirkungen der Fabrik. Die Personifikation der mit Rauch geschwängerten Straßen (V. 3 ff.) impliziert, dass dies ein eher unwillentlicher Prozess ist, der doch zwangsläufig verläuft. Dabei unterstreicht der Ausdruck „zum Ersticken“ (V. 3) die starke präsente Enge und zeigt, dass den Menschen etwas Essentielles zum Überleben [Luft] genommen wird, sodass die überlegene Rolle der Industrialisierung [stehend für Fabriken] gegenüber den Menschen deutlich wird.
Die Arbeiter, welche als „Menschentrupp‘“ (V. 5) bezeichnet werden, symbolisieren die Anonymität. Besonders unter Berücksichtigung des negativ konnotierten Adjektivs „abgehärmt“ (ebd.), welches ein Ausgelaugt sein seitens der Arbeiter impliziert, wird deutlich, dass die Menschen jegliche Identifikation und Individualität verlieren, sodass sie nur Mittel zum Zweck und von ihrer eigenen Schöpfung [Industrialisierung und Mechanisierung] ausgebeutet werden. Die Alliteration „schwankt schweigsam“ (V. 6) beschreibt die fehlende Kommunikation zwischen ihnen bzw. die vorherrschende Kommunikationsfeindlichkeit. Die Menschen verlieren jegliche Zwischenmenschlichkeit, die sie als Wesen ausmacht. Die „ärmlichen Kabinen“ (ebd.) illustrieren die schlechten Lebensverhältnisse der Arbeiter. Parallel zu der geschilderten Situation wird die Jugend beschrieben, die sich wild, ausgelassen in einem alkoholisierten Zustand befindet (vgl. V. 7 ff.). Bei dem Alkohol handelt es sich um etwas Preisgünstiges mit schlechter Qualität, was die schlechten Lebensverhältnisse widerspiegelt. Die „verqualmten Kantinen“ (V. 7) deuten zum einen auf die Omnipräsenz der Fabrikdämpfe und zum anderen auf den Genuss von Tabak. Durch jene Aktionen scheint die Jugend einen Ausweg aus dem harten Alltag gefunden zu haben. Auch das Verb „lärm[en]“ (V. 8) weist auf Parallelen des Lebens und die Situation außerhalb und innerhalb der Fabrik hin, da hier explizit der Lärmpegel angesprochen wird.
Diese Lärmbelästigung wird in der dritten Strophe erneut mit dem Verb „[k]reischen“ (V. 9) angeführt. Diese störende Tatsache wird besonders durch die harten Klänge des Verbs kreischen unterstrichen. Durch die Formulierung „Noch einmal“ (ebd.) wird die Monotonie des Ganzen hervorgehoben. Diese monotone Fabrikarbeit spiegelt sich auch in den Enjambements4, die auffällig häufig verwendet werden, wider. Die Zeilensprünge bringen des Weiteren eine gewisse Bewegung und Hektik ins Gedicht, sodass der Lesefluss gesteigert wird und die schnelle und hektische Arbeit widergespiegelt wird. Die Personifikation des Drahtseilzugs (V. 9) und somit der Fabrik, wie auch der Neologismus –und gleichzeitige Alliteration – „Schlackenschutt“ (V. 10), symbolisiert die Überlegenheit der Fabrik (Industrialisierung) und damit die unterlegene Rolle der Natur, die hier durch das flache Gelände, das mal eine Naturlandschaft gewesen ist, symbolisiert wird. Besonders der Kontrast des Drahtseilzuges [=hoch] und des flachen [=tief] Geländes illustriert die Überlegenheit durch die physische Größe der Fabrik. Dies wird weiter durch den Neologismus – und der ebenfalls gleichzeitigen Alliteration, die mit „sch“ anfängt und dessen zweiter Komponente wie auch bei „Schlackenschutt“ mit „s“ anfängt- unterstrichen, da naturelle Elemente wie Sumpf sich in der Fabrik widerfinden. Jene Parallelität wird unter anderem der gleichen Anzahl der Silben [drei Silben] unterstrichen.
In der letzten Strophe wird deutlich, dass die Auswirkungen der Fabrik weitragend sind, da die Feuerrachen des Walzwerks „schon“ (V. 12) und sogar in der Ferne (vgl. V. 12) vom Dampf umzischt sind (vgl. V. 12). Dabei verdeutlicht die Onomatopoesie "umzisch[en]“ (V. 12) – durch das Verstärken der Sinneseindrücke- die Existenz der Fabrik. Die Metapher „Feuerrachen“ (V. 13) erzeugt ein Abbild der Fabrik, das sehr bedrohlich und gefährlich wirkt. Dieser Eindruck wird durch das sehr negative konnotierte Verb „zerfleischen“ (V. 14), welches animalische Assoziationen hervorruft, verstärkt. Bei dem zu zerfleischenden Himmel (vgl. V. 13) handelt es sich um einen Wink, also einen Hinweis. Bei dieser bösen Vorahnung handelt es sich höchstwahrscheinlich um baldige Realität, sodass ein völliges dominantes Übernehmen der Fabrik und letztendlich der Industrialisierung suggeriert wird.
Besonders auffällig sind die häufig auftretenden Adjektive, die negativ konnotiert sind, wie „schwarz“ (V. 1), „schweigsam“ (V. 6), „ärmlich“ (ebd.), „verqualmt“ (V. 7) und „zwiegespaltne“ (V. 13), wie der allgemeine Gebrauch negativ besetzter Wörter wie „Ersticken“ (V. 3), „kreischen“ (V. 9), „Schlackenschutt“ (V. 10) und „zerfleischen“ (V. 14), die das Bild von Enge und einer nicht lebensfrohen Welt transportieren. Des Weiteren wird die bedrückende und bedrohliche Atmosphäre stark unterstützt.
Durch diverse epochenspezifische Merkmale, wie der hier geschilderten Industrialisierung und der allgemeinen negativen Weltsicht, die die Ästhetik des hässlichen und den Ich-Zerfall widerspiegelt, wie auch der Abend, der einen negativen Kontext hat, und die Anonymisierung, kann das Gedicht dem Expressionismus zugeordnet werden. Auch der verwendete Simultanstil5 spricht dafür.
Schlussfolgernd kann festgehalten werden, dass die Industrialisierung zu einem Individualitätsverlust und zu Anonymität führt, sodass diese sehr negativ gesehen wird. Ihr wird eine überlegene Dominanz zugeschrieben, die diesen Eindruck verstärkt. Zechs Intention ist es, an seine Leser zu appellieren, indem er auf negative Konsequenzen der Industrialisierung, welche er im Gedicht schildert, hinweist.
Gedichtvergleich: „ Im Dämmer“ (Paul Zech, 1913) und „Der Abend“ (Joseph von Eichendorff, 1826)
Aufgrund derselben Motivik des Abend bzw. der Dämmerung bietet sich ein Gedichtvergleich der beiden Gedichte „Im Dämmer“ (1913) und „Der Abend“ (1826) an.
Das romantische Gedicht „Der Abend“, welches von Joseph von Eichendorff verfasst und 1826 veröffentlicht worden ist, behandelt die Thematik der menschlichen Sehnsucht und Träume. Paul Zechs Gedicht thematisiert die Auswirkungen, der durch industrialisierten Welt exemplarisch an jenen einer Fabrik, wobei die Auswirkungen auf Mensch und Stadt genau beschrieben werden.
Zechs Gedicht ist ein Sonett – bestehend aus jeweils zwei Quartetten und Terzetten – mit einem regelmäßigen Reimschema (umarmender Reim abba cddc efggfe) und Metrum6 (fünfhebiger Jambus). Eichendorffs Gedicht besteht aus lediglich einer Strophe und das Reimschema ist ein regelmäßiger umarmender Reim (abba cca). Das Metrum lässt sich als vierhebiger Trochäus identifizieren.
Beide Gedichte weisen dieselbe Tageszeit auf, bei der es um die Dämmerung beziehungsweise den Abend handelt. Diese wird jedoch komplett verschieden dargestellt, was im Folgenden näher erläutert wird. Auch das Reimschema, das sich als umarmender Reim identifizieren lässt, ist in beiden Gedichten gleich. In beiden Gedichten werden ähnliche Stillmittel verwendet, so benutzen beide Dichter Neologismen7, Alliterationen8 und Personifikationen9. Der Neologismus „Wetterleuchtend“ (V. 7), den der lyrische Sprecher in „Der Abend“ verwendet, drückt tiefe Leidenschaft aus. Die expressionistischen Neologismen spiegeln die Grausamkeit wider. Auch die Alliteration „laute Lust“ (V. 1) in „Der Abend“ steht für die romantische Leidenschaft und Sehnsucht. Gegensätzlich dazu steht die Alliteration „schwankt schweigsam“ (V. 6) im expressionistischen Gedicht, die für negative Assoziationen wie Kommunikationsfeindlichkeit und Anonymisierung steht. Somit ist die Intention bei der Verwendung der Stilmittel differierend, sodass eine negative beziehungsweise positive Atmosphäre erzeugt wird. Auch der signifikant häufige Gebrauch von Enjambements lässt sich in beiden Gedichten ausmachen. Die dabei erzielte Wirkung ist jedoch verschieden. In dem expressionistischen Gedicht bringen die Enjambements Bewegung, Hektik und Lesefluss ins Gedicht und spiegeln die monotone Fabrikarbeit wider, wohingegen die Enjambements im romantischen Gedicht Ruhe widerspiegeln. In beiden Gedichten werden auffällig viele Adjektive verwendet, die in Zechs Gedicht überwiegend negativ konnotiert sind (siehe zuvor erfolgte Analyse zu „Im Dämmer“) und im romantischen Gedicht positiv besetzt sind. Beispiele hierfür sind „[w]underbar“ (V. 3) und „[w]etterleuchtend“ (V. 7).
Formale Unterschiede lassen sich schnell fest machen, so handelt es sich bei dem expressionistischen Gedicht um ein Sonnet bestehend aus vier Strophen (zwei Quartette, zwei Terzette). Das romantische Gedicht besteht aus nur einer Strophe. Auch die Metren sind verschieden, beim ersten Gedicht liegt ein fünfhebiger Jambus vor – was typisch für ein Sonett ist-, während es sich bei dem romantischen Versmaß um einen vierhebigen Trochäus handelt.
Inhaltlich handelt es sich zwar um dieselben Tageszeiten, jedoch variiert der eigentliche Inhalt der Gedichte. Das expressionistische Gedicht thematisiert eine industrialisierte Welt, geprägt durch das Bild vieler Fabriken, der Anonymisierung und Entmenschlichung. Eichendorff thematisiert eine sehr märchenhafte, positiv besetze Welt. Die Umwelt wird als sehr schön beschrieben (vgl. V. 3), anders als in „Im Dämmer“, in der die Umgebung sichtbar durch die Industrialisierung ins Negative verwandelt wird und ein allgemeines Gefühl der Enge entsteht. Das zentrale Motiv des romantischen Gedichts ist die menschliche Lust (vgl. V. 1) und die Sehnsucht. Die Träume stehen dabei stark im Vordergrund (vgl. V. 2), denn durch die Flucht in die eigene Gedankenwelt und alte Zeiten wird die Trauer gelindert (vgl. V. 5), sodass die Flucht aus dem Alltag, die den Romantikern nicht selten turbulent und stressig erschien, ermöglicht wird. Der Mensch wird als Individuum mit Träumen, Sehnsüchten und Emotionen gesehen, ganz anders als im expressionistischen Gedicht, in dem der Mensch als menschliche Maschine gesehen wird, die stark unter dem Individualitätsverlust und der Anonymität, die sich aus der Industrialisierung ergeben, leidet.
Diese signifikanten Unterschiede ergeben sich unter anderem aufgrund zeitgeschichtlicher Gegebenheiten. So handelt es sich um zwei verschiedene Epochen (Expressionismus und Romantik), weshalb die Veröffentlichung der Gedichte 87 Jahre auseinanderliegt. Für Expressionisten schien die romantische „Träumerei“ nicht möglich. Ihre Existenz war geprägt durch den bevorstehenden ersten Weltkrieg und die Industrialisierungs- und Urbanisierungswelle.
Es kann festgehalten werden, dass zwar beide Gedichte die Motivik des Abends/der Dämmerung haben und ähnliche Stilmittel verwendet werden, sich due Gedichte auf inhaltlich wie auch größtenteils formaler Ebene komplett unterscheiden. Während die Atmosphäre im ersten Gedicht bedrückend und bedrohlich ist, so ist diese im romantischen Gedicht sehr positiv, träumerisch und sehnsuchtsvoll. Das expressionistische Gedicht spiegelt das Zeitalter der Industrialisierung samt Folgen wider, während sich das romantische Gedicht auf die menschliche Sehnsucht und Lust – die sich hier wahrscheinlich auf eine alte Liebe bezieht- bezieht. Beide Gedichte spiegeln Merkmale der jeweiligen Epochenzugehörigkeit angemessen wider.