Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Die beiden zu vergleichenden Gedichte tragen die Titel „Frühlingsglaube“ und „Frühjahr“.
„Frühlingsglaube“ stammt von Ludwig Uhland und erschien 1812, „Frühjahr“ wurde im Jahr 1911 von Georg Heym verfasst.
Das erste Gedicht ist in die Epoche der Romantik einzuordnen, das zweite stammt aus der Zeit der Expressionismus.
Das romantische Gedicht Uhlands handelt von dem lyrischen Ich, das im Beginn des Frühlings einen Neuanfang sieht und nun endlich über sein gebrochenes Herz hinwegkommen möchte.
In dem expressionistischen Gedicht hingegen wird der unheilvolle Anbruch des Frühjahrs und die andauernde Misslage, in der das lyrische Ich sich befindet, thematisiert.
Im folgenden Text werde ich die Gedichte hinsichtlich Aufbaus und Wortwahl, Stimmung, Wirkung der Natur auf den Menschen, Weltsicht des lyrischen Ichs und seiner Beurteilung der Zukunft sowie geschichtlichem Hintergrund vergleichen.
Beginnend werde ich die strukturellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten erläutern.
Uhlands Gedicht besteht aus zwei Strophen mit je sechs Versen, Heyms hingegen besitzt fünf Strophen, von denen jede vier Verse besitzt. „Frühlingsglaube“ folgt dem Metrum1 eines vierhebigen-Jambus’, der jeweils im dritten Vers der beiden Strophen gebrochen wird und in diesem nur dreihebig ist. In dem Gedicht „Frühjahr“ lässt sich ein regelmäßiger fürnfhebiger-Jambus erkennen. Während im ersten Gedicht auf zwei männliche, stumpfe Endungen je eine weibliche, klingende Kadenz folgt, enden im expressionistischen Gedicht alle Verse auf klingenden, weiblichen Kadenzen2.
Uhlands Gedicht folgt einem wechselnden Reimschema. Der dritte und sechste Vers jeder Strophe sind in einem Schweifreim verfasst, alle weiteren in einem Paarreim. Das Reimschema des Gedichts ist aabccb ddbeeb.
Heyms „Frühjahr“ besitzt kein regelmäßiges Reimschema.
Obwohl sich beide Gedichte mit dem Anbruch des Frühlings beschäftigen, unterscheiden sich die Stimmungen grundlegend. Das Gedicht Ludwig Uhlands beschreibt den Anfang des Frühlings als etwas Schönes. Das lyrische Ich sieht einem Neuanfang entgegen, was beispielsweise die Exclamatio „O frischer Duft, o neuer Klang!“ (V. 4) betont. Mit dem Frühling beginnt für es eine neue, schönere Zeit. Auch die Metapher3 „Das Blühen will nicht enden“ im neunten Vers verdeutlicht, dass nicht nur die Natur um es herum durchgehend schöner wird, sondern auch sein Leben, für das die Blumen metaphorisch gesehen stehen. Auch wenn das lyrische Ich noch ein gebrochenes Herz (Vgl. V. 11) hat, ist es wohlgesonnen dieses zu überwinden. Es geht davon aus, dass sich nun „alles, alles wenden“ (V. 6/ V.12) müsse. Die durchgehend positive Einstellung des lyrischen Ichs findet sich auch im regelmäßigen Reimschema wieder.
Ganz anders ist die Stimmung in dem Gedicht Heyms beschrieben, dort wird der Beginn des Frühjahrs sehr negativ dargestellt. Das Durcheinander, das in der Natur herrscht, ist auch im Reimschema vorzufinden, denn dieses ist sehr unregelmäßig gehalten. Auch zahlreiche Enjambements4 wie zum Beispiel in Vers fünfzehn bis sechzehn betonen das wilde Treiben, welches inhaltlich im Gedicht herrscht. Durch zahlreiche Personifikationen5 wie beispielsweise „Die Wege zittern […]“ (V. 2) wird dem beschriebenen Unwetter eine bedrohliche Menschlichkeit und gleichzeitig eine unheilvolle Präsenz verliehen. Der Sturm wird unaufhaltsame Zerstörungen mit sich bringen. Jene triste und existenzbedrohende Stimmung wird zusätzlich durch die Alliteration6 „keine Frucht […] freuet“ (V. 8) hervorgehoben.
Ebenfalls sehr unterschiedlich gehalten ist die Wortwahl der beiden Dichter.
Während Uhland vorwiegend positiv konnotierte Worte wie „frischer Duft“ (V. 4), „schöner“ (V. 7) und „blüht“ (V. 10) aufweist, wählte Heym vorrangig negativ konnotierte Wörter wie „spärlich“ (V.6), „toten“ (V. 8) und „Schatten“ (V. 20). In beiden Fällen ist die Wortwahl an die vorherrschende Stimmung des Gedichts angepasst. Doch auch die Vokale geben jenes klar zu erkennen: Wählte Uhland eher Worte mit hellen Vokalen, ist in Heyms Gedicht eine klare Tendenz zu dunklen Vokalen zu erkennen.
Der historische Hintergrund der beiden Gedichte weist ebenfalls gravierende Unterschiede auf. In dem Zeitalter, in dem „Frühlingsglaube“ verfasst wurde, herrschte in Deutschland eine Zeit des Umbruchs. Nach dem Beginn der Französischen Revolution wurde innerhalb Europas langsam eine erneute Machtgleichheit hergestellt. Zudem kam langsam eine Begeisterung für die Befreiungskriege auf. Insgesamt entstand es also in einer Zeit positiver Wendungen.
„Frühjahr“ hingegen erschien in einer Zeit der Trostlosigkeit. Mit der beginnenden Industrialisierung wurden viele Menschen durch Maschinen ersetzt. Eine politische Unterdrückung herrschte zudem und so fühlten sich viele Dichter missverstanden. Hinzukommend isolierte sich das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg bahnte sich langsam, aber sicher an. Insgesamt befand sich Deutschland also in einer Misslage.
Der geschichtliche Hintergrund der beiden Epochen spiegelt sich nicht nur in der Stimmung wieder, sondern auch in der Wirkung der Natur auf den Menschen, der Weltsicht des lyrischen Ichs und auch in seiner Beurteilung der Zukunft.
In „Frühjahr“ hat das lyrische Ich eine positive Sichtweise sowohl auf die Natur als auch auf die Welt. Die Natur, die in der Romantik ein sehr typisches literarisches Thema war, wird sehr schön und einladend beschrieben, was beispielsweise durch die Hyperbel7 „Es blüht das fernste, tiefste Tal“ (V. 10) verdeutlicht wird. Die eigentlich furchteinflößendsten Winkel der Natur blühen nun in voller Pracht. Ähnlich wie die Natur sieht das lyrische Ich die Welt, denn diese blüht für es ebenfalls. Es sieht dem Neuanfang sehr zuversichtlich entgegen und hat keine Angst vor der Zukunft, da es überzeugt ist, dass diese ausschließlich Positives mit sich bringen wird.
Ganz im Gegenteil zu diesen Darstellungen steht das Gedicht Heyms. Dort sieht das lyrische Ich der Zukunft sehr ängstlich und unumgänglich pessimistisch entgegen. Jenes ist nicht zuletzt auf seine Sicht auf die Natur zurückzuführen, da es diese als sehr trist und bedrohlich empfindet. Die Stürme um es herum engen das lyrische Ich ein und lassen ihm kaum eine andere Wahl als traurig zu sein. Nicht anders sieht seine Beurteilung der Zukunft aus. Es sagt voraus, dass „Die Vögel […] nicht mehr kommen [werden]“ (Vgl. V. 17). Die Negativität, die es eben in diesem Moment empfindet, wird es auch in Zukunft verspüren müssen. Gerade diese Negativität, die im Expressionismus als Ästhetik des Hässlichen beschrieben wird, ist ein sehr epochentypisches Merkmal.
Alles in Allem lässt sich sagen, dass die beiden Gedichte, trotz Beschreibung desselben Themas, sehr unterschiedlich und auf ihre Weise epochentypisch sind. „Frühlingsglaube“ weist die positiven, fantasievollen Denkweisen der Romantiker und „Frühjahr“ die pessimistischen, trostlosen Ansichten der expressionistischen Dichter auf. Dennoch übermitteln beide das Gefühl der Epoche und sind auf ihre individuelle Weise ergreifend.