Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das expressionistische Sonett1 „Im Dämmer“, welches von Paul Zech verfasst worden und im Jahre 1911 erschienen ist, kritisiert den Ich-Zerfall und die unangenehmen Veränderungen, welche Folgen der Industrialisierung sind.
Das Gedicht verweist auf das Verschwinden des Individuums und die damit zusammenhängende Dominanz neuer Maschinen. Unterstützt werden jene Empfindungen durch besondere sprachliche Mittel, auf die im Folgendem eingegangen wird.
Ein empathieloser Beobachter, welcher stellvertretend für das lyrische Ich steht, beschreibt im ersten Quartett die düstere, erdrückende Stimmung, welche auf den Straßen herrscht. Des Weiteren handeln und arbeiten die verbliebenen Menschen auf den Straßen. Folglich treten die lautstarken Maschinen ein. Schließlich arbeiten, das Gedicht beendend, die Fabriken.
Das Gedicht besteht aus zwei Quartetten, die durch umarmende Reime gekennzeichnet sind, und drei Terzetten, welche von übergreifenden umarmenden Reimen geprägt sind, welche somit ein Sonett bilden.
Der Titel „Im Dämmer“ (vgl. Titel) lässt den Leser erahnen, dass die Veränderungen der Umwelt thematisiert werden, denn „Dämmer“ (vgl. Titel) erinnert diesen an die Morgen- bzw. Abenddämmerung, welche den Wechsel des Tages in die Nacht beschreibt. So steht die Abenddämmerung vermutlich für den Umbruch, der mit der Industrialisierung eintritt und sowohl die Menschen als auch ihre Umgebung verändert.
Im ersten Vers ist die Rede von einem „schwarzen Spiegel“ (vgl. V. 1). Der Spiegel, welcher hierbei ein Symbol für die Wahrheit und die Seele darstellt, wird vom Adjektiv „schwarz[en]“ (V. 1) begleitet, dass für die Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit steht. Zudem nutzt der Mensch den Spiegel, um sich selbst darin zu betrachten. Da dieser jedoch „schwarz[en]“ (V. 1) ist, ist annehmbar, dass niemand darin zu sehen ist. Dieser Aspekt könnte den Verlust des Ichs kennzeichnen, welches nun nicht mehr im Spiegel zu sehen ist. Unterstrichen und aufgegriffen wird diese Thematisierung des Ich-Zerfalls ebenfalls durch das Fehlen des lyrischen Ichs in diesem Gedicht. Der „schwarze Spiegel“ (V. 1) steht zudem in einem deutlichen Kontrast zur „bunte[n] Lichterkette der Fabriken“ (V. 2). Diese Antithese2 verstärkt den Effekt, dass das Ich verschwindet und durch jene Fabriken ersetzt wird.
Die Tatsache, dass die „Lichterkette“ (V. 2) „zuckt“ (V. 1) und somit personifiziert wird, unterstützt die These, dass der Wert des Menschen zurückgeht und die Technik dominiert, da dem Menschen seine Eigenschaften gestohlen werden und der Lichterkette angeeignet wird.
Auch deutet das „Zucken“ (vgl. V. 1 „zuckt“) daraufhin, dass es ein grotesker Versuch von den Maschinen ist, den Menschen zu ersetzen, denn das „Zucken“ (siehe oben) ist als fehlerhafte Bewegung und als Versuch den Menschen nachzuahmen zu deuten.
Die „Kanäle“ (V. 1) stehen für die Enge, welche sich in den Städten wiederfinden lässt. Auch könnten sie als Anspielung auf das Fehlen der Natur gedeutet werden, da die Kanäle stets zum Transport von Industrieware genutzt werden.
Der Aspekt der Enge wird folglich durch eine Hyperbel4 wieder aufgegriffen (V. 3f „Die niedren Straßen sind bis zum Ersticken mit Rauch geschwängert [...]“).
Der Ausdruck „bis zum Ersticken“ (V. 3) kann hierbei mit dem Tod konnotiert werden, der in den Straßen lauert.
Die bedrückte Stimmung des Gedichtes wir mithilfe der Formulierung „mit Rauch geschwängert“ (V. 4) angesprochen. Dem Menschen werden hierbei erneut seine Eigenschaften geraubt und einer Sache zugeschrieben (V. 1f, V. 4). Folglich lässt der Relativsatz „den ein Windstoß niederduckt“ (V. 4) den Leser darauf hoffen, dass es eine Wendung gibt. Er hofft darauf, dass der dunkle Rauch, welcher die Stimmung trübt und „ersticken“ (V. 3) lässt, verfliegt und, dass ein klarer Windstoß erscheint.
Die Reduzierung des Wertes des Menschen wird danach durch einen Neologismus5 charakterisiert (V. 5 „Menschentrupp“). Dieser betont die Masse und lässt die Menschen vor dem Leser als Klotz erscheinen, der keine Individualität mitbringt. Zudem ergänzt der Begriff „Frohndienst“ (V. 5) jene Annahme, denn dieser bezeichnet die Leibeigenschaft des Menschen zu Zeiten der Industrialisierung und früher. Jene Formulierung betont somit das „Gegenstandwerden“ des Menschen.
Zusätzlich zu genanntem Aspekt, sind die Menschen „abgehärmt“ (V. 5), was eine similäre Bedeutung wie „verbraucht“ darstellt. So wird dem Leser der Eindruck vermittelt, dass der Mensch sowohl verbrauchbar als auch austauschbar sei.
Die Alliteration6 (V. 6 „schwankt schweigsam“) bewirkt hierbei den Effekt die Schwere, die in der Luft hängt und die Schwierigkeit, die jener „Menschentrupp“ (V. 5) hat, zu betonen, denn beide Wörter begonnen mit der Konsonantenzusammensetzung aus „schw“, welche der Leser wegen ihrer schwierigen Aussprache mit Trägheit assoziieren vermag.
Vers acht stellt die „tolle Jugend“ (V. 8), welche „fuselselig lärmt“ (vgl. V. 8) in den Vordergrund. Hierbei könnte man das Adjektiv „toll“ (vgl. V. 8) als Ironie deuten, da es vollkommen unangebracht ist, und nicht in den Zusammenhang des Gedichtes passt. Die Jugend, welche Lärm bereitet (vgl. V. 8), ist antithetisch zum „Menschentrupp“ (V. 5), der „schweigsam schwankt“ (vgl. V. 6). Diese Antithese betont das Lächerliche in jenem Vers und verdeutlicht den vergeblichen Versuch der Menschen sich der Realität zu entziehen. Der Neologismus „fuselselig“ (V. 8) spielt hierbei eine entscheidende Rolle, denn er setzt sich aus dem umgangssprachlichen Substantiv „Fusel“, was ein billig hergestelltes Alkoholgetränk ist, und aus dem Adjektiv „selig“ zusammen, was den Zustand der Erlösung beschreibt. So ist anzunehmen, dass sich die Menschen mithilfe von Rauschmitteln die Wirklichkeit ausblenden wollen, welche ihnen nicht zutut.
Dabei sehnen sie sich nach dem seligen Gefühl der Erlösung, was mit dem Tod vergleichbar ist.
Die beiden Terzette thematisieren im Gegensatz zu den vorangegangenen Quartetten zunehmend die Maschinen. Onomatopoetische zischende Laute dominieren die Strophen und imitieren die Geräusche der Maschinen (V. 9ff „Kreischen [...] Schlackenschutt [...] erlischt [...]“).
Zudem liegt eine Betonung auf „Nocheinmal“ (V. 9), was zeigt, dass es sich um Routine handelt, ein Szenario, das sich immer wieder abspielt.
Der „Schlackenschutt“, den man als Abfall von Abfall definieren und somit als Übertreibung identifizieren kann, verstärkt die unübersehbare Anwesenheit der „kreischenden“ (vgl. V. 9) Maschinen.
Den „Schwefelsumpf“ (vgl. V. 11) könnte man als Faktor der Vervollständigung bezeichnen, der das katastrophale Bild, welches der Leser sich vorstellt, abrundet.
Des Weiteren wird das „Walzwerk“ (V. 13) personifiziert (V. 12 „gähnen“) und als Monster, wenn nicht sogar grausamer Drache dargestellt (V. 13 „zwiegespaltne Feuerrachen“). Das Gedicht hat seinen Höhepunkt, wenn das Groteske mit animalischen Formulierungen (V. 14 „den Himmel zerfleischen“) einen Punkt setzt. Er stellt sowohl das Ende der Welt dar, da es sich beim bei oben genannter animalischer Formulierung um eine Anspielung auf das Religiöse handelt, das keine Rolle mehr spielt, als auch um das Ende des Gedichtes.
Rückblickend au vorangegangene Analyse lässt sich die zu Anfang formulierte Deutungsthese bestätigen. Die düstere Stimmung und die Dominanz der Technik werden ausdrucksstark mithilfe von zahlreichen Metaphern7 beschrieben. Enjambements8, welche die Zäsur9 am Versende übergehen, brechen die Struktur des Gedichtes auf. Der Leser bekommt ein irritierendes verstörendes Bild der beschriebenen „Unwelt“ vor Augen gelegt, die sich mit der Form des Sonetts und dem durchgängigen Jambus widerspricht.
Die Leitthemen Ich-Zerfall und Identitätsverlust, Arbeitswelt, Großstadt und Weltuntergang, welche in diesem Gedicht klar zu erkennen sind, bestätigen die Annahme, dass das Werk aus der Epoche des Expressionismus stammt. Der Expressionismus gilt als Zeit der Hoffnungslosigkeit. Veränderungen, welche sowohl Folgen des Ersten Weltkrieges als auch der Industrialisierung sind, werden stets in Gedichten dieser Zeit kritisiert. Letzteres sticht in vorliegendem Gedicht besonders hervor. Die Maschinen, welche in diesem Gedicht stets personifiziert dargestellt sind, dominieren und werfen einen dunklen Schatten auf den Menschen und das Ich, das in den Hintergrund gerät und mit der Welt zusammen untergeht.
Der Mensch wird auf seinen Nutzen reduziert. Seine Gedanken und Gefühle Spielen hierbei keine Rolle, was den Expressionisten zuwider ist. Das Fehlen des lyrischen Ichs unterstreicht die genannte Nichtachtung gegenüber dem Individuum. Die Übernahme seitens der Maschinen wird ebenfalls mithilfe ironischer Aspekte in das Lächerliche gezogen. Zudem steht die perfekte Sonettform des Barocks im heftigen Kontrast zur kaputten Welt des Expressionismus.