Inhaltsverzeichnis
Szenenübersicht
Inhaltsangabe/Zusammenfassung
Entstehungszeit
ca. 1778/79; veröffentlicht 1779.
Uraufführung
1783 in Berlin. Eine nicht-öffentliche Aufführung hatte es bereits 1779 in Mannheim gegeben.
Kurzzusammenfassung
Zur Zeit der Kreuzzüge verlieben sich ein junger christlicher Ritter und die vermeintliche Tochter (in Wirklichkeit Pflegetochter) eines jüdischen Kaufmanns ineinander, nachdem er sie aus einem brennenden Haus gerettet hat. Am Ende stellt sich jedoch heraus, dass sie Geschwister (und obendrein Neffe und Nichte des muslimischen Sultans) sind. – Wichtiger als dieses an gängige Handlungsmuster zeitgenössischer Ritter- und Räuberromane erinnernde äußere Geschehen sind allerdings die in die Handlung eingebetteten Diskussionen der Dramenfiguren über das Verhältnis zwischen Glaube, Vernunft und Moral sowie vor allem über religiöse Toleranz; den Höhepunkt dieser Diskussionen stellt die sogenannte „Ringparabel“ (Aufzug 3, Auftritt 7) dar.
Hintergrund/Wissenswertes
„Nathan der Weise“ ist Lessings letztes Werk. Anfang 1778 war seine Frau nach nur 15monatiger Ehe am Kindbettfieber verstorben, nachdem der gemeinsame Sohn bereits einen Tag nach der Geburt gestorben war; Lessing selbst litt an Asthma und Herzbeschwerden und starb am 15. Februar 1781.
Das als „dramatisches Gedicht“ bezeichnete Stück ist u.a. insofern unytpisch für Lessing, als es in Versen verfasst ist – genauer gesagt in reimlosen fünfhebigen Jamben („Blankversen“), einem Versmaß, das besonders für das englische Drama typisch ist und in Deutschland erst durch die um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende Rezeption der Werke William Shakespeares populär wurde.
Das Stück gilt – nachweislich auch nach Lessings eigener Auffassung – als Fortsetzung des sogenannten „Fragmentenstreits“ mit anderen Mitteln. Als Herausgeber der Zeitschrift „Zur Geschichte und Litteratur“ hatte Lessing ab 1774 unter dem Titel „Fragmente eines Ungenannten“ mehrere Auszüge aus einer zuvor unveröffentlichten religionskritischen Schrift des 1768 verstorbenen Orientalistikprofessors Hermann Samuel Reimarus publiziert; darin wird die Glaubwürdigkeit der Bibel und der christlichen Glaubenslehre radikal infrage gestellt und stattdessen eine vernunftorientierte „natürliche Religion“ propagiert. Diese „Fragmente eines Ungenannten“ verursachten in kirchlichen Kreisen einen Skandal und zogen eine heftige theologische Debatte nach sich, in deren Verlauf insbesondere Lessing und der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze einander mit Streitschriften attackierten, bis Lessings Dienstherr, der Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, ihm 1778 die Veröffentlichung theologischer Texte verbot. Daraufhin entschied sich Lessing, seine religionsphilosophischen Anschauungen in Form eines Dramas auszudrücken. So erklärt sich, dass „Nathan der Weise“ relativ wenig Handlung, dafür aber umso umfangreichere Debatten über Religion, Vernunft und Moral enthält; die Titelfigur Nathan agiert dabei als Sprachrohr für die Ansichten des Autors. Nathans Charakter soll dem mit Lessing befreundeten jüdischen Philosophen und Literaturkritiker Moses Mendelssohn (1729-1786) nachempfunden sein, wohingegen der Patriarch von Jerusalem, die einzige eindeutig negative Figur des Stücks, den Pastor Goeze zum Vorbild haben soll.
Die für die religionsphilosophische Aussageabsicht des Stücks zentrale „Ringparabel“ des III. Akts ist einer Erzählung aus dem Novellenzyklus „Decamerone“ des italienischen Renaissance-Schriftstellers Giovanni Boccaccio (1313-1375) nachempfunden.
Übersicht der Aufzüge
Das Stück ist in fünf Akte bzw. Aufzüge gegliedert, wie es für die vom 17. bis ins 19. Jahrhundert vorherrschende sogenannte „Regeldramaturgie“ („geschlossene Form“, „klassisches“ bzw. „aristotelisches Drama“) charakteristisch ist. Den Regeln dieser Dramenform entsprechend entsprechen die fünf Akte eines Dramas den folgenden Phasen der Handlung:
- Aufzug 1: Exposition; die wichtigsten Charaktere werden eingeführt und die Ausgangssituation der Handlung vorgestellt.
- Aufzug 2: „steigende Handlung“/„erregendes Moment“. Der für die Handlung des Stücks zentrale Konflikt beginnt sich zu entwickeln.
- Aufzug 3: Peripetie2/Klimax3; der entscheidende Höhe- und Wendepunkt der Handlung.
- Aufzug 4: „fallende Handlung“/„retardierendes Moment“; die auf die Katastrophe bzw. Lösung zulaufende Entwicklung der Handlung wird verzögert.
- Aufzug 5: Katastrophe bzw. Lösung; der Handlungskonflikt wird auf entweder tragische oder glückliche Weise beendet.
Auf „Nathan der Weise“ trifft dieses Schema, wie die nachfolgende Beschreibung der Akte zeigen soll, allerdings nur teilweise bzw. nur ungefähr zu.
Einzelszenen-Inhaltsangabe
Ort und Zeit der Handlung
Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge. Es herrscht Waffenstillstand. Jerusalem wird von dem muslimischen Sultan Saladin beherrscht; in der Stadt leben Muslime, Christen und Juden.
Aufzug 1 — Exposition
Der reiche jüdische Kaufmann Nathan kommt von einer Geschäftsreise nach Hause. Während seiner Abwesenheit hat es in seinem Haus gebrannt, und nun erfährt Nathan, dass seine Tochter Recha von einem jungen christlichen Tempelritter aus dem Feuer gerettet wurde. Er will ihm danken, aber der Tempelherr hält sich von Nathans Haus fern, weil er keinen Dank will und Vorurteile gegen Juden hat.
Aufzug 1 Auftritt 1 — Rechas Rettung durch den Tempelherrn
Der reiche jüdische Kaufmann Nathan kehrt von einer Geschäftsreise nach Hause zurück. Während seiner Abwesenheit hat es in seinem Haus gebrannt; nun berichtet ihm seine Bedienstete Daja, dass seine über alles geliebte Tochter Recha beinahe in dem Feuer umgekommen wäre, jedoch von einem jungen christlichen Tempelherr gerettet wurde, der erst kurz zuvor von Sultan Saladin aus der Kriegsgefangenschaft freigelassen worden war. Nathan will den Retter seiner Tochter reich belohnen, aber Daja verrät ihm, dass der Tempelherr verschwunden sei, ohne Dank anzunehmen.
Aufzug 1 Auftritt 2 — Die Freilassung des Tempelherrn
Recha begrüßt ihren Vater. Sie wirkt emotional aufgewühlt und glaubt, kein Mensch, sondern ein Engel habe sie aus dem Feuer gerettet; der rational denkende Nathan redet ihr dies jedoch aus. Daja erwähnt, dass Sultan Saladin den jungen Tempelherrn deshalb als einzigen von 20 Gefangenen begnadigt und freigelassen hat, weil dieser seinem seit 20 Jahren verschollenen Bruder ähnlich sieht.
Aufzug 1 Auftritt 3 — Der unzufriedene Schatzmeister
Nathan bekommt Besuch von seinem Freund und Schachspielpartner Al-Hafi, einem Derwisch (Bettelmönch), der inzwischen Schatzmeister des Sultans geworden ist. Er verrät, dass dieses Amt ihm im Grunde lästig ist und er es gern möglichst bald wieder loswerden möchte.
Aufzug 1 Auftritt 4 — Wiederbegegnung
Daja berichtet Nathan, dass sie den Tempelherr wiedergesehen hat.
Aufzug 1 Auftritt 5 — Der Tempelherr zeigt sich redlich
Der Tempelherr, der in einem Palmenhain spazieren geht, fühlt sich von einem Klosterbruder verfolgt und glaubt, dass dieser ihn anbetteln will. Als er ihn darauf anspricht, verrät der Klosterbruder, dass der Patriarch von Jerusalem – das geistliche Oberhaupt der örtlichen Christen – ihn geschickt hat: Der Patriarch möchte den jungen Ritter für die Übernahme zweier Geheimaufträge gewinnen. So soll er König Philipp, einem der Anführer des Kreuzzugs, einen Brief überbringen, der ihn zum Zweck eines Angriffs auf Jerusalem über die Befestigung der Stadt und die Bewaffnung der muslimischen Besatzungstruppen informiert; und er soll dabei behilflich sein, den Sultan Saladin in einen Hinterhalt zu locken und zu überfallen. Beides lehnt der Tempelherr jedoch entschieden ab: Spionage empfindet er als unehrenhaft, und an einem Überfall auf den Sultan will er sich erst recht nicht beteiligen, da er dessen Gnade sein Leben und seine Freiheit verdankt. Der Klosterbruder wirkt recht zufrieden mit der Weigerung des jungen Ritters und lässt durchblicken, dass er selbst den Befehlen des Patriarchen nur widerwillig gehorcht.
Aufzug 1 Auftritt 6 — Rechas Einladung wird ausgeschlagen
Daja bedrängt den Tempelherrn, er solle Recha und ihren Vater Nathan besuchen, damit diese ihm für die Rettung Rechas aus dem Feuer danken können. Der Ritter weist Daja jedoch schroff ab: Er ist der Meinung, er habe keinen Dank verdient, und außerdem will er mit Juden nichts zu tun haben.
Aufzug 2 — „steigende Handlung“/„erregendes Moment“
Sultan Saladin und seine Schwester Sittah treten erstmals auf; man erfährt, dass Saladin Geldsorgen hat. Das gehört eigentlich noch zur Exposition. Als „erregendes Moment“ kann man es betrachten, dass Sittah Saladin rät, Nathan durch eine List dazu zu bringen, ihm Geld zu leihen; ein für die Handlung um Recha und den Tempelherrn noch wichtigeres „erregendes Moment“ besteht darin, dass Nathan mit dem Tempelherrn spricht, ihn von seinen Vorurteilen gegenüber Juden abbringt und ihm zuredet, Recha wiederzusehen.
Aufzug 2 Auftritt 1 — Der gedankenverlorene Sultan
Sultan Saladin spielt gegen seine Schwester Sittah Schach, ist dabei aber unkonzentriert, und sie wirft ihm vor, er würde absichtlich verlieren. Außerdem kritisiert sie ihn dafür, dass er den Christen allzu freundlich gesonnen sei.
Aufzug 2 Auftritt 2 — Gläubiger des verschuldeten Sultans
Der Schatzmeister Al-Hafi kommt herein. Saladin weist ihn an, Sittah den Siegespreis für das Schachspiel auszuzahlen, aber Al-Hafi macht ihn darauf aufmerksam, dass er das Spiel noch gar nicht verloren hat. Als Saladin dennoch darauf besteht, dass Al-Hafi Sittah das Geld geben soll, verrät der Schatzmeister, dass die Finanzen des Sultans schon seit längerer Zeit erschöpft sind und dass seitdem heimlich Sittah für alle Kosten des Hofes aufgekommen ist. Zwar erwartet der Schatzmeister Geld aus Ägypten, es ist jedoch ungewiss, wann dieses Geld eintreffen wird. Saladin weist Al-Hafi darum an, Geld für ihn zu leihen, und Sittah schlägt vor, er solle sich diesbezüglich an den reichen Nathan wenden. Al-Hafi wendet jedoch ein, Nathan verleihe grundsätzlich kein Geld.
Aufzug 2 Auftritt 3 — Sittahs List
Nachdem Al-Hafi gegangen ist, schlägt Sittah Saladin vor, Nathan mit einer List dazu zu bringen, ihm das benötigte Geld doch zu geben.
Aufzug 2 Auftritt 4 — Warten auf Rechas Retter
Nathan und Recha sitzen vor ihrem Haus und hoffen auf eine Gelegenheit, den Tempelherrn zu treffen. Als Daja hinzukommt und ankündigt, der Tempelherr werde jeden Moment um die Ecke kommen, schickt Nathan die Frauen ins Haus, um den jungen Ritter zunächst allein zu erwarten.
Aufzug 2 Auftritt 5 — Der Tempelherr lehnt Juden ab
Als Nathan den Tempelherrn anspricht, reagiert dieser zunächst sehr abweisend. Dank oder Belohnung für die Rettung Rechas will er nicht und lässt Nathan deutlich seine Abneigung gegenüber Juden spüren. Dennoch gelingt es Nathan, den jungen Ritter zu überzeugen, dass Menschen einander nicht nach ihrer Volks- oder Religionszugehörigkeit beurteilen, sondern einfach als Menschen sehen sollten.
Aufzug 2 Auftritt 6 — Nathan wird zu Hofe geladen
Daja unterbricht das Gespräch zwischen Nathan und dem Tempelherrn, um Nathan mitzuteilen, dass der Sultan ihn sprechen will.
Nathan und der Tempelherr setzen ihr Gespräch fort; Nathan fragt den Ritter nach seinem Namen, und dieser verrät, er heiße Curd von Stauffen. Die Nennung dieses Namens macht Nathan nachdenklich, und nachdem der Tempelherr gegangen ist, deutet Nathan in einem Monolog an, dass der junge Mann Ähnlichkeit mit jemandem hat, den er früher kannte, und dass auch der Name zu dieser Ähnlichkeit passt.
Aufzug 2 Auftritt 8 — Aussicht auf ein Wiedersehen
Daja kommt zurück, und Nathan bemerkt, dass sie und Recha neugierig sind, was er mit dem Tempelherrn besprochen hat. Er stellt in Aussicht, dass der junge Ritter Recha bald besuchen werde.
Aufzug 2 Auftritt 9 — Nathan erfährt von Saladins Absichten
Al-Hafi sucht Nathan auf und verrät ihm, dass der Sultan ihn deshalb zu sich bestellt hat, weil er Geld von ihm leihen will. Außerdem verrät er, dass er es satt hat, Saladins Schatzmeister zu sein, und lieber wieder als Bettelmönch in seine Heimat am Ganges zurückkehren würde.
Aufzug 3 — Peripetie/Klimax
Der Tempelherr und Recha sehen sich wieder und verlieben sich ineinander. Saladin will Nathans Weisheit erproben und fragt ihn, welches die wahre Religion sei, und Nathan antwortet in Form eines „Märchens“, der sogenannten „Ringparabel“. Dies stellt den Höhepunkt der das Stück durchziehenden Diskussionen über Religion, Moral und Vernunft dar; der entscheidende Wendepunkt der Haupthandlung besteht darin, dass der Tempelherr Nathan bittet, ihm Recha zur Frau zu geben, worauf Nathan auffällig zurückhaltend reagiert. Der Tempelherr ist daraufhin gekränkt, und Nathans christliche Bedienstete Daja verrät ihm, dass Recha nicht Nathans leibliche Tochter, sondern ein Pflegekind ist und von christlichen Eltern stammt.
Aufzug 3 Auftritt 1 — Warten auf den Tempelherrn
Recha erwartet den Besuch des Tempelherrn und unterhält sich währenddessen mit Daja.
Aufzug 3 Auftritt 2 — Der Tempelherr sorgt sich um Nathan
Der Tempelherr kommt. Recha will ihm aus Dankbarkeit zu Füßen fallen, was er jedoch nicht zulassen will. Er entschuldigt sich bei Daja für seine frühere Grobheit und erkundigt sich, ob Nathan noch beim Sultan ist. Er macht sich Sorgen darüber, was der Sultan wohl von Nathan will, und bricht überstürzt auf, um Nathan entgegenzugehen.
Aufzug 3 Auftritt 3 — Andeutungen
Recha wundert sich über den schnellen Aufbruch des Tempelherrn; Daja macht allerlei Andeutungen, die offenbar darauf abzielen sollen, dass Recha und der Tempelherr sich ineinander verliebt haben.
Aufzug 3 Auftritt 4 — Warten auf Nathan am Hofe
Sultan Saladin und seine Schwester Sittah warten auf Nathan. Bevor dieser eintritt, zieht Sittah sich in ein Nebenzimmer zurück.
Nathan erscheint zur Audienz bei Saladin. Der Sultan begrüßt ihn freundlich und erklärt, er habe ihn kennenlernen wollen, weil das Volk seine Weisheit rühmt. Anstatt Geschäfte mit ihm zu machen oder ihn nach Neuigkeiten zu befragen, die Nathan auf seiner jüngsten Reise in Erfahrung gebracht haben könnte, will Saladin von ihm nur eine Antwort auf die Frage, welche Religion die wahre sei. Um ihm Bedenkzeit zu geben, begibt Saladin sich zu seiner Schwester in den Nebenraum.
Aufzug 3 Auftritt 6 — Nathan bemerkt sein Trilemma
In einem Monolog sinniert Nathan darüber, wie er die Frage des Sultans beantworten soll. Ihm ist bewusst, dass es sich um eine Fangfrage handelt: Zu sagen, die jüdische Religion sei die wahre, würde einen Affront gegenüber dem muslimischen Sultan bedeuten; andererseits wäre es aber unglaubwürdig, wenn er als Jude seine eigene Religion nicht als wahr bezeichnen würde. Schließlich entscheidet sich Nathan dafür, die Frage Saladins nicht direkt zu beantworten, sondern ihm stattdessen ein „Märchen“ zu erzählen.
Aufzug 3 Auftritt 7 — Die Weisheit des Nathan; Ringparabel
Saladin kehrt zu Nathan zurück, und dieser erzählt ihm zur (indirekten) Beantwortung seiner Frage die sogenannte „Ringparabel“. In dieser Erzählung geht es um einen kostbaren Ring, der über Generationen immer vom Vater an den Lieblingssohn vererbt wird, bis er auf diese Weise in den Besitz eines Mannes gelangt, der drei Söhne hat und diese alle gleichermaßen liebt. Um keinen der Söhne gegenüber den anderen zu bevorzugen, lässt er Duplikate des Rings anfertigen und vererbt jedem seiner Söhne einen. Fortan streiten sich die Söhne aber untereinander darum, welcher Ring der echte sei. Schließlich wenden sie sich an einen Richter, der über ihre Streitfrage entscheiden soll. Der Richter sieht jedoch keine Möglichkeit, festzustellen, welcher der drei Ringe der echte ist; er gibt allerdings zu bedenken, dass man dem echten Ring die Eigenschaft nachsage, seien Besitzer bei aller Welt beliebt zu machen, und da dies offenbar auf keinen der drei Brüder zutreffe, müsse man in Erwägung ziehen, dass möglicherweise keiner der drei Ringe echt sei. Die drei Brüder sollten aber weiterhin jeweils ihren eigenen Ring so behandeln, als wäre er der echte, und sich darum bemühen, ihr Leben so zu leben, dass die Menschen sie für den Besitzer des echten Rings hielten.
Auf Nachfrage Saladins bestätigt Nathan, dass die drei Ringe für die drei Religionen Judentum, Christentum und Islam stehen: Alle drei Glaubensrichtungen beruhten auf Überlieferung, daher sei es ganz natürlich, dass jeder diejenige Überlieferung für wahr halte, die er von seinen Vorfahren empfangen hat; die Anhänger dieser drei Religionen sollten einander daher als Brüder wertschätzen und einander das Recht zugestehen, die jeweils eigene Religion für wahr zu halten. Der Sultan zeigt sich beeindruckt von Nathans Weisheit und will seine ursprüngliche Absicht, Geld von ihm zu leihen, fallen lassen, da bietet Nathan ihm das Geld von sich aus an. Außerdem spricht Nathan den Sultan auf den jungen Tempelherrn an, den er freigelassen hat.
Aufzug 3 Auftritt 8 — Der Tempelherr wird seiner Gefühl gewahr
Inzwischen wartet der Tempelherr im Palmenhain auf Nathan. In einem Monolog gesteht er sich selbst seine Liebe zu Recha und äußert die Absicht, sich von seinem Ritterorden loszusagen.
Aufzug 3 Auftritt 9 — Der Tempelherr hält um Rechas Hand an
Nathan kommt von seiner Unterredung mit dem Sultan zurück und teilt dem Tempelherrn mit, dass Saladin ihn sprechen wolle; zunächst solle er aber mit zu Nathan nach Hause kommen. Der Tempelherr will Recha jedoch erst wiedersehen, wenn Nathan einwilligt, sie ihm zur Frau zu geben. Auf diesen Wunsch reagiert Nathan auffallend zurückhaltend und macht Andeutungen darüber, dass er einmal einen Tempelherr namens Conrad von Stauffen gekannt habe, woraufhin der Tempelherr erklärt, sein Vater habe so geheißen. Nathan hat es eilig, nach Hause zu kommen, und lässt den Tempelherrn allein.
Aufzug 3 Auftritt 10 — Rechas wahre christliche Herkunft
Der Tempelherr ist irritiert über Nathans Verhalten; da kommt Daja und vertraut ihm ein Geheimnis an: Recha ist nicht Nathans leibliche Tochter, sondern stammt aus einer christlichen Familie, weiß dies aber selbst nicht und ist von Nathan im jüdischen Glauben erzogen worden.
Aufzug 4 — „fallende Handlung“/„retardierendes Moment“
Von einem „retardierenden Moment“ in dem Sinne, dass die Handlung sich verlangsamen würde, kann eigentlich keine Rede sein; eher könnte man sagen, dass das Tempo der Handlung sich beschleunigt. Der Tempelherr fragt – ohne Nathans Namen zu nennen – den christlichen Patriarchen von Jerusalem um Rat, wie es zu beurteilen sei, wenn ein Jude ein christliches Kind aufzieht; der Patriarch ist der Meinung, der Jude müsse verbrannt werden. Indessen redet Sittah Saladin zu, dem Tempelherrn dazu zu verhelfen, Recha heiraten zu dürfen. Ein Klosterbruder gibt sich Nathan als derjenige zu erkennen, der ihm vor 18 Jahren einen Säugling (nämlich Recha) zur Pflege anvertraut hat, warnt ihn vor den Machenschaften des Patriarchen und versorgt Nathan mit Informationen über Rechas leibliche Familie; Daja beschließt, Recha über ihre wahre Herkunft aufzuklären. Als dramaturgische Funktion dieses Aktes kann man es ansehen, dass durch die verschiedenen Pläne des Patriarchen, Sittahs und Dajas unterschiedliche mögliche Ausgänge des Stücks angedeutet werden, die durch die tatsächliche Auflösung im V. Aufzug sämtlich vereitelt werden.
Aufzug 4 Auftritt 1 — Der Patriarch wird konsultiert
Im Kreuzgang eines Klosters. Der Klosterbruder, der in Szene I/5 mit dem Tempelherrn gesprochen hat, beklagt sich in einem Monolog darüber, dass der Patriarch ihn ständig zu diplomatischen Aufträgen verwendet; für dergleichen sei er nicht Klosterbruder geworden. Der Tempelherr tritt auf und will den Patriarchen sprechen; der Klosterbruder glaubt daraufhin, der Tempelherr habe sich nun doch dafür entschieden, die Aufträge des Patriarchen anzunehmen, und lässt durchblicken, dass ihn das menschlich enttäuschen würde. Der junge Ritter stellt jedoch klar, er wolle den Patriarchen lediglich in einer religiösen Angelegenheit um Rat fragen. Kaum hat er dies ausgesprochen, da kommt ihm in den Sinn, dass es zur Beantwortung seiner Frage gar nicht die amtliche Autorität des Patriarchen braucht und er im Grunde auch gleich den Klosterbruder um Rat fragen könnte, da kommt auch schon der Patriarch hinzu.
Aufzug 4 Auftritt 2 — Patriarch von Rechas Adoption erboßt
Der Tempelherr befragt den Patriarchen, wie es zu beurteilen sei, wenn ein Jude ein christliches Kind als sein eigenes annehme und im jüdischen Glauben erziehe. Noch ehe er seine Frage zu Ende formuliert hat, verlangt der Patriarch zu wissen, ob die Frage bloß hypothetisch sei oder ob es sich um einen wirklichen Fall handle. Der Tempelherr versucht dieser Frage auszuweichen, zumal der Patriarch erklärt, der Jude gehöre dafür, dass er ein christliches Kind vom rechten Glauben abbringe, auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Auf den Einwand des Tempelherrn, der betreffende Jude (also Nathan) habe dem Kind (also Recha) über Religion überhaupt nur so viel beigebracht, wie es dem allgemeinen Menschenverstand entspreche, erklärt der Patriarch, das sei geradezu noch schlimmer; auch den Einwand, möglicherweise wäre das Kind, wenn der Jude sich seiner nicht angenommen hätte, im Elend umgekommen, lässt der Patriarch nicht gelten: Ob das Kind im Elend umgekommen wäre oder nicht, sei Gottes Sache. Erschrocken darüber, dass der Patriarch so versessen darauf ist, den Juden verbrennen zu lassen, behauptet der Tempelherr, seine Frage sei bloß hypothetisch gewesen, und verlässt eilig das Kloster.
Aufzug 4 Auftritt 3 — Sittah bemerkt Ähnlichkeit des Tempelherrn
Sultan Saladin lässt seiner Schwester Sittah von dem Geld, das Nathan ihm geliehen hat, ihre Auslagen erstatten und vertraut ihr noch darüber hinaus Geld zur Verwaltung an. Sittah zeigt ihm ein Miniaturgemälde, das sie gefunden hat: Es zeigt ihren und Saladins seit 20 Jahren verschollenen Bruder Assad, dem der Tempelherr so auffallend ähnlich sieht. Saladin erwartet gerade den Besuch des Tempelherrn und Nathans; als der Tempelherr kommt, zieht Sittah sich in einen Nebenraum zurück.
Aufzug 4 Auftritt 4 — Der Tempelherr vertraut sich Saladin an
Der Tempelherr dankt Saladin für seine Begnadigung und Freilassung; Saladin spricht ihn auf seine Ähnlichkeit mit seinem Bruder Assad an und stellt fest, dass der junge Mann diesem nicht nur im Aussehen, sondern auch im Charakter gleicht. Er äußert den Wunsch, der Tempelherr solle zukünftig an seinem Hof bleiben; er habe auch nichts dagegen, dass er dennoch Christ bleibt. Auf Saladins Frage, warum der Tempelherr allein gekommen sei und nicht zusammen mit Nathan, verrät der junge Ritter ihm, dass er sich in Recha verliebt und Nathan gebeten habe, sie ihm zur Frau zu geben; Nathan habe jedoch zurückhaltend reagiert. Nun habe er aber erfahren, dass Recha ein Christenkind und Nathan nicht ihr wirklicher Vater sei. Saladin bemüht sich, den Tempelherrn zu beruhigen, und sagt ihm seine Hilfe zu.
Aufzug 4 Auftritt 5 — Saladin soll die Ehelichung unterstützen
Nachdem der Tempelherr gegangen ist, kommt Sittah zurück und kritisiert, dass Saladin den jungen Mann nicht nach seinen Eltern gefragt hat. Beide halten es für möglich, dass der Tempelherr tatsächlich Assads Sohn sein könnte. Sittah redet Saladin zu, er solle dem Tempelherrn dazu verhelfen, Recha zur Frau zu bekommen; da Nathan ja gar nicht ihr richtiger Vater sei, könne dies zur Not auch gegen seinen Willen geschehen. Saladin willigt ein, Recha sofort in seinen Palast bringen zu lassen, betont aber, Nathan solle nicht den Eindruck bekommen, man wolle ihm seine Pflegetochter wegnehmen.
Aufzug 4 Auftritt 6 — Auch Nathan wird zur Heiratserlaubnis motiviert
Daja redet Nathan zu, er solle Recha dem Tempelherrn zur Frau geben. Nathan gibt zu erkennen, dass er seine Pflegetochter dem Tempelherrn einerseits durchaus gönnen würde, dass er andererseits aber einen bestimmten Grund hat, die Entscheidung darüber noch hinauszuzögern. Worin dieser Grund besteht, verrät er hingegen nicht.
Aufzug 4 Auftritt 7 — Wie Recha Nathans Pflegetochter wurde
Der Klosterbruder kommt zu Nathan und verrät ihm, dass der Patriarch ihn beauftragt habe, Nachforschungen nach einem Juden anzustellen, der ein Christenkind als sein eigenes aufgezogen habe. Nathan erschrickt, aber der Klosterbruder gibt zu erkennen, dass er Nathan von früher her kennt: Vor 18 Jahren, als er noch kein Mönch, sondern Reitknecht war, hat er Nathan einen Säugling zur Pflege anvertraut – die neugeborene Tochter seines damaligen Herrn, eines Kreuzritters namens Wolf von Filneck, der wenig später im Kampf fiel. Dieses Kind ist Recha. Nathan berichtet dem Klosterbruder, dass kurz vor jenen Ereignissen seine Frau und seine sieben Kinder zusammen mit allen anderen Juden der Stadt Gath von Christen ermordet worden seien; er habe es daraufhin als göttliche Fügung aufgefasst, dass er anstelle seiner sieben verbrannten Kinder nun dieses Mädchen bekommen habe. Er befragt den Klosterbruder nach der Familie von Rechas leiblichem Vater Wolf von Filneck und besonders nach der Familie von dessen ebenfalls verstorbener Frau; da der Klosterbruder aber nur für kurze Zeit in Filnecks Dienst stand, kann er diese Fragen nicht genau beantworten; er erinnert sich jedoch, dass er ein Buch aus Filnecks Nachlass besitzt, in das der Ritter handschriftlich seine Familienchronik eingetragen hatte. Der Klosterbruder selbst kann allerdings nicht lesen. Nathan bittet ihn eindringlich, ihm das Buch zu bringen.
Aufzug 4 Auftritt 8 — Boten suchen nach Recha
Daja berichtet Nathan, dass Sittah, die Schwester des Sultans, Boten geschickt habe, um Recha zu ihr zu bringen. Nathan will sich überzeugen, dass die Boten wirklich von Sittah kommen und dass nicht etwa eine Intrige des Patriarchen dahinter steckt, der ihm seine Pflegetochter wegnehmen will. Daja hat derweil ganz andere Bedenken: Sie fürchtet, Recha solle einem Muslim zur Frau gegeben werden, und kommt zu dem Entschluss, um dies zu verhindern, müsse sie Recha schnellstmöglich über ihre wahre Identität aufklären.
Aufzug 5 — Katastrophe bzw. Lösung
Der größte Teil des letzten Aktes bildet das eigentliche „retardierende Moment“ des Stücks: In den ersten beiden Auftritten passiert praktisch überhaupt nichts, was für die Haupthandlung von Belang wäre, in den Auftritten 3-7 wird durch einen Monolog des Tempelherrn sowie Gespräche zwischen Nathan und dem Klosterbruder, Nathan und den Tempelherrn, Recha, Sittah und Saladin der Stand der Handlung rekapituliert und Informationen wiederholt, die dem Leser bzw. Zuschauer des Stücks im Wesentlichen schon bekannt sind. Der 8. und letzte Auftritt bringt schließlich die Lösung: Nathan enthüllt, dass Recha und der Tempelherr Geschwister und die Kinder von Saladins und Sittahs seit 20 Jahren verschollenem Bruder Assad sind. Das Stück endet also mit einer großen Familienzusammenführung.
Aufzug 5 Auftritt 1 — Saladins Geldsorgen lösen sich
Sultan Saladin empfängt Boten, die die lange erwartete Ankunft der Karawane melden, die den Tribut aus Ägypten bringt. Damit sind Saladins Geldsorgen behoben.
Aufzug 5 Auftritt 2 — Gespräch mit dem Emir
Saladin empfängt den Emir Mansor, der mit der Karawane aus Ägypten gekommen ist; er empfängt Nachrichten von diesem und erteilt ihm weitere Aufträge.
Aufzug 5 Auftritt 3 — Der Klosterbruder bei Nathan
Der Tempelherr geht vor Nathans Haus auf und ab und hält dabei einen Monolog. Er ist verärgert über Nathan und sagt sich gleichzeitig selbst, dass er dazu eigentlich kein Recht hat. Als Nathan zusammen mit dem Klosterbruder aus dem Haus tritt, fürchtet der Tempelherr, der Klosterbruder sei im Auftrag des Patriarchen bei Nathan, und versteckt sich, um zu hören, worüber die beiden miteinander sprechen.
Aufzug 5 Auftritt 4 — Das Familien-Buch kommt zu Nathan
Der Klosterbruder hat Nathan das gewünschte Buch gebracht und es abgelehnt, eine Belohnung dafür anzunehmen. Zum Abschied warnt er Nathan nochmals vor den Machenschaften des Patriarchen und erwähnt, ein Tempelherr habe den Patriarchen gegen Nathan „aufgehetzt“.
Aufzug 5 Auftritt 5 — Rechas geheimnisvoller Bruder
Nachdem der Klosterbruder gegangen ist, tritt der Tempelherr an Nathan heran und bittet ihn, mit ihm zusammen zum Sultan zu gehen. Er gesteht Nathan, dass er verärgert war, weil dieser auf seine Bitte, ihm Recha zur Frau zu geben, so zurückhaltend reagiert habe, und dass Daja ihm verraten hat, dass Recha nicht Nathans leibliche Tochter, sondern das Kind von Christen sei; daraufhin habe er den Patriarchen um Rat gefragt, jedoch ohne ihm Nathans Namen zu nennen. Da nun die Gefahr im Raum steht, dass der Patriarch dafür sorgt, dass Recha Nathan weggenommen wird, will der Tempelherr Nathan überreden, ihm Recha nun erst recht zur Frau zu geben, denn dann könne der Patriarch nichts mehr ausrichten. Nathan erwidert, inzwischen habe sich herausgestellt, wer Rechas leibliche Verwandte seien und dass sie einen Bruder hat; in dessen Obhut wolle er Recha übergeben. Auf die Frage des Tempelherrn, wer denn dieser Bruder sei, antwortet Nathan nur mit Andeutungen; zudem verrät er, Recha sei gerade bei Sittah, und fordert den Tempelherrn auf, ihn zu ihr zu begleiten; dort würden sie voraussichtlich auch den Bruder finden.
Aufzug 5 Auftritt 6 — Rechas Verlustangst um Nathan
Recha ist bei Sittah und spricht mit ihr darüber, wie Nathan sie erzogen hat. Mitten in der Unterhaltung fängt Recha plötzlich an zu weinen und verrät, sie habe Angst, dass ihr Vater ihr genommen werden solle. Als Sittah sie fragt, wie sie darauf komme, so etwas zu befürchten, berichtet Recha, Daja habe ihr verraten, dass sie das Kind christlicher Eltern und Nathan nur ihr Pflegevater sei. Sittah versucht Recha zu trösten und sichert ihr ihren Beistand zu.
Aufzug 5 Auftritt 7 — Saladins Versicherung gegenüber Recha
Saladin kommt hinzu, und Recha klagt ihm ihr Leid. Saladin beruhigt sie, indem er ihr versichert, auch wenn sie nicht Nathans leibliches Kind sei, könne es ihr doch niemand streitig machen, ihn weiterhin als ihren Vater zu betrachten. Auch er selbst, Saladin, wolle wie ein Vater für sie sein.
Aufzug 5 Auftritt 8 — Die Enthüllung der Familienverhältnisse
Nathan und der Tempelherr kommen hinzu. Nathan tröstet zunächst die immer noch weinende Recha; als Saladin und Sittah jedoch ohne Weiteres dazu übergehen wollen, Recha und den Tempelherrn miteinander zu verheiraten, erhebt Nathan Einwände: Recha habe einen Bruder, dessen Einwilligung man zunächst einholen müsse. Auf die irritierten Reaktionen der Anwesenden hin enthüllt Nathan, was er dem Buch entnommen hat, das der Klosterbruder ihm übergeben hat: Rechas richtiger Name ist Blanda von Filneck, und der Tempelherr, dessen richtiger Name Leu von Filneck lautet, ist ihr Bruder. Den Namen Curd von Stauffen hat der Tempelherr von seinem Onkel mütterlicherseits, bei dem er nach dem Tod beider Eltern aufgewachsen ist. Nathan verrät auch, dass der Vater der beiden sich zwar Wolf von Filneck nannte, aber in Wirklichkeit kein Deutscher war, sondern diesen Namen nur seiner deutschen Frau zuliebe angenommen hatte. Er zeigt Saladin das Buch, und dieser erkennt an der Handschrift, dass der angebliche Wolf von Filneck tatsächlich sein verschollener Bruder Assad war. Somit sind bis auf Nathan alle auf der Bühne anwesenden Personen miteinander verwandt. Alle umarmen sich; damit endet das Stück.