Drama: Nathan der Weise/Ringparabel, Saladin und Nathan / 3. Aufzug 5. Auftritt (1779)
Autor/in: Gotthold Ephraim LessingEpoche: Aufklärung
Strophen: 26, Verse: 93
Verse pro Strophe: 1-3, 2-1, 3-2, 4-1, 5-1, 6-2, 7-1, 8-2, 9-4, 10-4, 11-2, 12-4, 13-6, 14-2, 15-3, 16-2, 17-3, 18-1, 19-3, 20-4, 21-5, 22-4, 23-1, 24-6, 25-2, 26-24, 26-24
Saladin: | ||
Tritt näher, Jude! Näher! Nur ganz her! | ||
Nur ohne Furcht! | ||
Nathan: Die bleibe deinem Feinde! | ||
Saladin: | ||
Du nennst dich Nathan? | ||
Nathan: Ja. | ||
Saladin: Den weisen Nathan? | ||
Nathan: | ||
Nein. | ||
Saladin: Wohl! nennst du dich nicht; nennt dich das Volk. | ||
Nathan: | ||
Kann sein; das Volk! | ||
Saladin: Du glaubst doch nicht, daß ich | ||
Verächtlich von des Volkes Stimme denke? | ||
Ich habe längst gewünscht, den Mann zu kennen, | ||
Den es den Weisen nennt. | ||
Nathan: Und wenn es ihn | ||
Zum Spott so nennte? Wenn dem Volke weise | ||
Nichts weiter wär' als klug? und klug nur der, | ||
Der sich auf seinen Vorteil gut versteht? | ||
Saladin: | ||
Auf seinen wahren Vorteil, meinst du doch? | ||
Nathan: | ||
Dann freilich wär' der Eigennützigste | ||
Der Klügste. Dann wär' freilich klug und weise | ||
Nur eins. | ||
Saladin: Ich höre dich erweisen, was | ||
Du widersprechen willst. Des Menschen wahre | ||
Vorteile, die das Volk nicht kennt, kennst du. | ||
Hast du zu kennen wenigstens gesucht; | ||
Hast drüber nachgedacht: das auch allein | ||
Macht schon den Weisen. | ||
Nathan: Der sich jeder dünkt | ||
Zu sein. | ||
Saladin: Nun der Bescheidenheit genug! | ||
Denn sie nur immerdar zu hören, wo | ||
Man trockene Vernunft erwartet, ekelt. | ||
(Er springt auf.) | ||
Laß uns zur Sache kommen! Aber, aber | ||
Aufrichtig, Jud', aufrichtig! | ||
Nathan: Sultan, ich | ||
Will sicherlich dich so bedienen, daß | ||
Ich deiner fernern Kundschaft würdig bleibe. | ||
Saladin: Bedienen? wie? | ||
Nathan: Du sollst das Beste haben | ||
Von allem; sollst es um den billigsten | ||
Preis haben. | ||
Saladin: Wovon sprichst du? doch wohl nicht | ||
Von deinen Waren? Schachern wird mit dir | ||
Schon meine Schwester. (Das der Horcherin!) | ||
Ich habe mit dem Kaufmann nichts zu tun. | ||
Nathan: | ||
So wirst du ohne Zweifel wissen wollen, | ||
Was ich auf meinem Wege von dem Feinde, | ||
Der allerdings sich wieder reget, etwa | ||
Bemerkt, getroffen? Wenn ich unverhohlen ... | ||
Saladin: | ||
Auch darauf bin ich eben nicht mit dir | ||
Gesteuert. Davon weiß ich schon, so viel | ||
Ich nötig habe. Kurz-, | ||
Nathan: Gebiete, Sultan. | ||
Saladin: | ||
Ich heische deinen Unterricht in ganz | ||
Was anderm; ganz was anderm. Da du nun | ||
So weise bist: so sage mir doch einmal | ||
Was für ein Glaube, was für ein Gesetz | ||
Hat dir am meisten eingeleuchtet? | ||
Nathan: Sultan, | ||
Ich bin ein Jud'. | ||
Saladin: Und ich ein Muselmann. | ||
Der Christ ist zwischen uns. Von diesen drei | ||
Religionen kann doch eine nur | ||
Die wahre sein. Ein Mann, wie du, bleibt da | ||
Nicht stehen, wo der Zufall der Geburt | ||
Ihn hingeworfen: oder wenn er bleibt, | ||
Bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern. | ||
Wohlan! so teile deine Einsicht mir | ||
Dann mit. Laß mich die Gründe hören, denen | ||
Ich selber nachzugrübeln, nicht die Zeit | ||
Gehabt. Laß mich die Wahl, die diese Gründe | ||
Bestimmt, versteht sich, im Vertrauen wissen, | ||
Damit ich sie zu meiner mache. Wie? | ||
Du stutzest? wägst mich mit dem Auge? Kann | ||
Wohl sein, daß ich der erste Sultan bin, | ||
Der eine solche Grille hat; die mich | ||
Doch eines Sultans eben nicht so ganz | ||
Unwürdig dünkt. Nicht wahr? So rede doch! | ||
Sprich! Oder willst du einen Augenblick, | ||
Dich zu bedenken? Gut, ich geb ihn dir. | ||
(Ob sie wohl horcht? Ich will sie doch belauschen; | ||
Will hören, ob ich's recht gemacht. ) Denk nach. | ||
Geschwind denk nach! Ich säume nicht, zurück- | ||
Zukommen. | ||
(Er geht in das Nebenzimmer, nach welchem sich Sittah begeben.) |