Drama: Nathan der Weise (1779)
Autor/in: Gotthold Ephraim LessingEpoche: Aufklärung
Inhaltsangabe/Zusammenfassung, Szenen-Analyse und Interpretation
An etwas Übernatürliches zu glauben, kann manchmal leichter sein, als sich mit realen Begebenheiten auseinander zu setzten. Vor allem, wenn man extreme Erlebnisse verarbeitet oder sogar traumatisiert ist.
Dieser Zustand trifft auf Recha in dem dramatischen Gedicht "Nathan der Weise" von Gotthold Ephraim Lessing aus dem Jahre 1779 zu.
Recha ist die Adoptivtochter von Nathan und wird von einem Tempelherren aus einem brennenden Haus gerettet. Dieser ist zuvor unüblicherweise vom Sultan Saladin begnadigt worden, da er seinem Bruder ähnelt.
Nun ist Recha davon überzeugt, von einem Engel gerettet worden zu sein. Nathan versucht sie davon zu überzeugen, dass sie von einem Menschen gerettet worden ist, was ihm letztendlich auch gelingt.
Nach dem zu analysierenden Auftritt verlieben sich Recha und der Tempelherr, finden aber heraus, dass sie Geschwister sind. Nathan erzählt dem Sultan unterdessen die Ringparabel und freundet sich mit ihm an.
Aber wie gelingt es Nathan, Recha von seiner Sichtweise zu überzeugen?
Der zweite Auftritt des ersten Aufzuges beginnt damit, dass sich Nathan und Recha begegnen, nachdem sie "fast verbrannt[.] [ist]" (Z. 176). Sie ist davon überzeugt, von einem "Engel" (Z. 188) gerettet worden zu sein. Nathan widerspricht ihr damit, dass die angeblichen "[w]eiße[n] Fittiche [nichts Anderes, als] der weiße vorgespreizte Mantel des Tempelherrn" (Z. 192f) seien. Recha hält dem Tempelherren also für einen Engel, weil er zufällig so aussieht wie Ihre Vorstellung eines Engels.
Nathan schmeichelt ihr, dass sie "es wert [sei]" (Z. 198). Dies tut er, damit sich Recha nicht persönlich angegriffen fühlt, obwohl er ihren Standpunkt angreift.
Des weiteren zeigt er Verständnis für ihre Meinung indem er sie logisch nachvollzieht. "[E]r müsste für [sie] ein Engel sein" (Z. 203f), da die Umstände diese Schlussfolgerung am einfachsten machen.
Da Recha aber weiterhin an dem Glauben festhält, durch ein Wunder von einem Engel gerettet worden zu sein (vgl. Z. 205), vergleicht Nathan sie mit "Kindern, [...] die gaffend nur das Ungewöhnlichste, das Neuste nur verfolgen." (Z. 222f) Die Gaffer sind eine Metapher1 für Rechas fehlendes Hinterfragen der eigenen Meinung und Ansichten, da alles geglaubt wird, Hauptsache es ist spektakulär. Dies passt sehr gut in die Epoche der Aufklärung, da Lessing den Leser zu selbstständigem Denken anregen will.
Nun tritt Daja der Konversation bei und vertritt die Meinung, man solle das Hirn der noch traumatisierten Recha nicht "zersprengen" (Z. 227). Also dass Recha erstmal glauben soll, was sie will und später immer noch genug Zeit für Rationalität bleibt.
Nathan entgegnet, dass sie Rettung durch einen begnadigten Tempelherren genug wunderlich ist (vgl. Z. 228f), der vermeintliche Engel aber zu weit geht.
Recha beginnt ihr eigenes Denken zu hinterfragen, "wie [sie] des Nachts freiwillig [.] einer retten k[ann]" (Z. 242f). Nathan erkennt eine Wirkung seiner Aufklärung und lobt Recha für ihre "sinnreich[e]" (Z. 243) Erkenntnis. So zeigt er ihr, dass sie auf dem richtigen Weg ist und motiviert sie, noch weiter zu Denken. Dies scheint zu funktionieren, da Recha zugibt, "nicht gern [zu irren]" (Z. 276f). Nathan belohnt sie mit einem erneuten Lob, dass sie sich "gern belehren" (Z. 277) lässt.
Dennoch zeigt er ihr die Konsequenzen ihres Handelns an dem Beispiel, dass der Tempelherr krank werden könnte. Glaubt man fest daran, er sei ein Engel, so fühlt man sich nicht verpflichtet ihm zu helfen. Schließlich kann man als Mensch nichts für einen Engel tun.
So stellt er Recha das Schaden-Nutzen Verhältnis ihres Glaubens sehr anschaulich dar.
Da Recha von der Vorstellung schockiert ist, ihr Retter könnte krank sein, betont Nathan, es sei "Arznei, nicht Gift, was [er ihr] reiche" (Z. 355). Die Wahrheit kann zunächst wehtun, ist langfristig aber die bessere Wahl als Aberglaube.
Nathan gibt zu, dass der Tempelherr "wohl nicht krank" (Z. 356) ist, um Recha zu beruhigen. Jedoch verdeutlicht er nochmal, dass "andächtig schwärmen leichter als gut handeln ist" (Z. 360f).
Dies könnte als Essenz des Auftrittes betrachtet werden, da Recha genau diesen Fehler macht. Letztendlich begreift sie ihn aber und lässt neue Denkweisen zu. Dies kann als gelungene Aufklärung betrachtet werden.
Obwohl es sehr schwierig ist, Menschen von ihrer Meinung abzubringen, vor allem politischer und religiöser Art, gelingt es Nathan zum Schluss. Dies tut er, indem er ihr ihre Fehler aufzeigt, sie aber nicht als Fehler betitelt, sondern ihre Standpunkte logisch nachvollzieht.
Als Beispiel zeigt er ihr einen Denkfehler auf, den wir heutzutage als Bestätigungsfehler oder confirmation bias kennen. Hier werden alle Informationen, die nicht der eigenen Meinung entsprechen vom Gehirn herausgefiltert. Es bleiben nur noch die bestätigenden Tatsachen, wie in dem Fall die weißen Fittiche, obwohl es keine sind.
Nathan erklärt alles sehr anschaulich und nachvollziehbar, was ihn sehr glaubwürdig wirken lässt. Er weiß, dass Menschen eher emotional als rational Denken und Handeln. So erreicht er Recha viel mehr mit der Krankheitsgeschichte als mit objektiven Fakten. Mit all diesen Mitteln gelingt es Nathan, Recha von seiner Sichtweise zu überzeugen.