Drama: Nathan der Weise (1779)
Autor/in: Gotthold Ephraim LessingEpoche: Aufklärung
Inhaltsangabe/Zusammenfassung, Szenen-Analyse und Interpretation
Das Drama und dramatisches Gedicht „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing wurde 1779 publiziert und spielt in Jerusalem im Jahre 1192. Das aufklärerische Werk handelt davon, dass ein Tempelherr Recha rettet, die vermeintliche Tochter des Juden Nathan, aus ihrem brennenden Haus. Hierbei stellt sich heraus, dass Recha und der Tempelherr Geschwister sind, was eine Heirat verhindert. Diese überraschenden Verwandtschaftsverhältnisse bilden ein Symbol der Zusammengehörigkeit. Gleichwohl endet das Stück versöhnlich und harmonisch. Die Humanität und Toleranz sowie die Bedeutung ethischer Haltungen eines allgemein guten Handelns jenseits religiöser Ideologisierung wird dabei akzentuiert. In dieser Szene (3.1.) handelt es sich um ein Gespräch zwischen Recha und Daja, in welchem Recha ihr Handeln und Dajas Ausführungen reflektiert.
Die Szene aus dem dritten Aufzug, erstem Auftritt ist ein Gespräch zwischen Recha und Daja. Die beiden warten auf die Ankunft des Tempelherrn. Daja verdeutlicht, dass sie mit seinem Auftreten sich wünscht, dass er Recha und sie selbst nach Europa mitnimmt. Recha will jedoch bleiben. Sie lehnt eine Gottesvorstellung ab, in der für Gott gekämpft werden muss. Selbstkritisch betrachtet Recha rückblickend ihre Schwärmerei nach der Rettung und lobt Nathan dafür, dass er ihr Vernunft eingeredet hat.
Kurz vor dem Gespräch haben sich Al-Hafi und Nathan getroffen, da Al-Hafi ihm berichten wollte, dass er den Dienst beim Sultan verlassen hat und zu seiner Glaubensgemeinschaft zurückkehren will. Er erzählt Nathan von den finanziellen Schwierigkeiten des Sultans. Trotz Al-Hafis Bitte, begleitet ihn Nathan nicht zu den Ghebern.
Kurz nach dem Gespräch Rechas und Dajas erscheint der Tempelherr. Recha will ihm zu Füßen fallen. Als dieser ihren Dank abwehrt, äußert sie sich ironisch über die Pflichtethik des Tempelordens. Der Tempelherr ist durch den Anblick Rechas so verwirrt, dass er kaum einen zusammenhängenden Satz mehr rausbringt und verlässt so den Raum.
Die Szene aus dem dritten Auszug, erstem Auftritt ist für den weiteren Handlungsverlauf bedeutend, weil Recha sich überlegt, rational und vernünftig im Gespräch mit dem Tempelherrn verhält, da sie ihre unvernünftige Schwärmereien abgelegt hat und somit reflektiert und durchdacht auf die Äußerungen ihres Gegenüber reagieren und argumentieren kann, was letztendlich dazu führt, dass sich der Tempelherr aufgrund ihres Verstandes und Schlagfertigkeit in sie verliebt.
Die vorliegende Szene lässt sich in drei Teile gliedern, wobei zuerst die Sorge Rechas um ihre Zukunft (vgl. V. 1517 - 1529) erfolgt, gefolgt von dem Aufeinandertreffen gegensätzlicher Intentionen (vgl. V. 1530 - 1552): Daja wünscht sich, mit Recha und dem Tempelherrn nach Europa zukommen (vgl. V. 1530 - 1539), wobei Recha in ihrem Vaterland bleiben möchte (vgl. V. 1540 - 1552). Es folgt die Erkenntnis Rechas über Gottesvorstellungen, ihren Schwärmereien und Dajas Ausführungen (vgl. V. 1553 - 1602).
Sprachlich fällt zunächst der Blankvers1, Enjambement2, Antilabe und der Sprecherwechsel/ Stichomythie auf. Diese komplexe und anspruchsvolle Sprache zeigt, dass die Figuren nicht über Banalitäten sprechen. Dementsprechend ist ebenfalls die Thematik, Religion, Humanität, Toleranz, gleichermaßen anspruchsvoll und komplex. Die spärliche Regieanweisung ist ein Hinweis auf den Vorrang der „inneren Handlung“. Der Schwerpunkt liegt somit auf dem Dialog, da dieser aussagekräftig ist und einen essentiellen Lehrcharakter aufweist.
Zunächst zieht Recha Dajas Aufmerksamkeit auf sich, indem sie die Apostrophe3 „Daja“ (V. 1517) verwendet. Damit leitet sie ein, dass sie um ihren Vater besorgt ist (vgl. V. 1517). Obwohl er ihr versichert, dass sie „ihn jeden Augenblick erwarten“ darf, ist Recha ungeduldig. In dieser Unruhe und Besorgnis verwendet sie das Wort „Augenblick“ wiederholt, etwa in der Inversion „Wie viel Augenblicke/ Sind aber schon vorbei!“ Zudem äußert sich ihre Besorgnis darin, dass Recha immerzu Fragen stellt (vgl. V. 1517 - 1522) oder aber Ausrufe (vgl. V. 1521) nutzt, was ihre Unentschlossenheit nochmals unterstreicht.
In diesem Zusammenhang fragt Recha „Und wenn er nun/ Gekommen, dieser Augenblick, wenn denn/ Nun meiner Wünsche wärmster, innigster/ Erfüllet ist: was dann? – was dann?“ (vgl. V. 1528 ff.). Hierbei zeigt die Anapher4, Inversion, Frage und Wiederholung, dass Recha ahnungslos ist und eine hilfreiche Antwort Dajas drängt.
Daja wiederholt zunächst ungläubig „Was dann?“ (vgl. V. 1529) Statt auf Rechas Zukunft einzugehen, bezieht sie sich nun auf sich selbst, indem sie sagt, dass „auch [ihrer] Wünsche wärmster/ Soll in Erfüllung gehen“ (vgl. V. 1528). Dies wirkt recht spöttisch, da Daja Rechas Wortwahl wiederholt und versucht, nicht Recha sondern sich in den Mittelpunkt zu rücken und somit über ihre eigene Zukunft zu sprechen. Zudem verwendet sie eine Inversion (vgl. V. 1531), um etwa Recha noch mehr zu verunsichern oder aber ihre Fassungslosigkeit kundzutun, weil Recha nur um sich besorgt ist, über Daja aber nicht nachgedacht hat.
Daraufhin wird Recha emotionaler. Sie verwendet erneut Fragen und Ausrufe und fragt in einer Metapher und Personifikation5, „was […] in [ihrer] Brust an dessen Stelle treten [wird], / Die schon verlernt, ohn‘ einen herrschenden Wunsch aller Wünsche sich zu dehnen?- Nichts?“ (vgl. V. 1532 ff.). In diesem Zusammenhang erklärt Recha, dass sie Sorge um ihre Zukunft und die Erfüllung ihrer Wünsche hat, weil sie diese idealisiert und sich reingesteigert hat. Würden sich diese nun erfüllen, wüsste sie nicht, was sie dann noch tun sollte. Ergo würde in ihrer „Brust“ eine Leere entstehen. Als sie sich dem bewusst wird und „Nichts?“ ausruft, mündet sie in Erschrockenheit.
Daja wiederholt nun in Rage ihre Intention, nach Europa zukommen. Dabei scheint sie egoistisch, da sie wiederholt „mein“ verwendet, wenn sie sagt: „Mein, mein Wunsch […] meiner“ (vgl. V. 1531, 1537 ff.). Danach erklärt sie jedoch, dass es ihr ein Anliegen ist, dass Recha „in Europa, [sie] in Händen/ Zu wissen, welche [ihrer] würdig sind“ (vgl. V. 1538 f.). Die dabei verwendete Metapher „in Händen“ deutet darauf hin, dass Daja sich eine Ehe zwischen dem Tempelherr und Recha wünscht. Was zunächst altruistisch scheint, äußert sich im nächsten Moment egoistisch. Die Verbindung der beiden würde nämlich Daja die Möglichkeit geben, Jerusalem zu verlassen und als Christin in Europa zu residieren.
Die zwei Figuren Daja und Recha scheinen bis dato aneinander vorbei zu reden, denn sie beziehen sich immerzu auf sich selbst und gehen auf die Ausführungen der anderen nicht ein. Nun erkennt Recha aber Dajas egoistische Ambition. In einer Antithese verdeutlicht sie, das, „was diesen Wunsch zu [Dajas] macht, / Das nämlich verhindert, dass er [Rechas]/ Je werden kann“ In einer weiteren Antithese (vgl. V. 1540 ff.) wird dies ebenfalls deutlich. Wiederholt wird die Antithese zwischen „mein“ und „dein“ verwendet, um die gegensätzlichen Motive der zwei Gesprächspartner zu verstärken. Zudem weisen Rechas Ausführungen einen argumentativen Charakter auf, der sich darin äußert, dass sie nicht mehr eine expressive und ausdrucksvolle Sprechweise verwendet als Ausdruck ihrer Erwartungen, den Tempelherrn zu treffen. Nun scheint sie, sich auf ihre Zukunft statt auf die Schwärmereien zu fokussieren.
Bis dato sind die Redeanteile in etwa gleichgeblieben. Jetzt, da Recha reflektiert und Erkenntnisse gewinnt, ist ihr Gesprächsanteil größer geworden, was unterstreicht, dass sie viel zu sagen hat und ihre Erkenntnisse aussprechen muss, um sie vollkommen zu verinnerlichen. Hierbei versucht Daja, Recha umzustimmen, wobei sie parataktische Sätze verwendet und „Himmels Wege“, also des Himmels Geschenk und Gottes Willen, als Grund angibt. Infolgedessen deutet Daja an, dass Recha Christin ist, was Recha verwirrt.
Diese hält nun fast schon einen Monolog. Sie thematisiert, dass sie eine Gottesvorstellung ablehnt, in der man für Gott kämpfen muss. Dabei verwendet sie wiederholt Fragen, um zu dieser Erkenntnis zu kommen. Hierbei zeigt sie Humanität, weil sie Gewalt ablehnt, aber gleichzeitig Intoleranz, weil sie andere Religionen, hier den Christentum, abwertet. Die Tatsache, dass Recha klar entgegnet, was sie denkt, ist ein Ausdruck ihrer rationalen Weltsicht. Die hierbei verwendete Metapher „Samen der Vernunft“ verdeutlicht nochmals, dass Nathan ihr Vernunft zugesprochen bzw. eingeredet hat, sodass sie nun davon profitiert. Recha versucht Daja zu verunsichern, indem sie sie anklagt und in einer Anapher sagt: „Was tat [Nathan] dir“
Zudem nutzt Recha ein Leitbild der Natur. Zunächst verwendete sie die Wortwahl „Samen der Vernunft“ und nun die Metapher und Antithese „Blumen oder Unkraut“, welche Dajas Einfluss symbolisieren soll. Recha erklärt, dass „Unkraut oder Blumen […] nicht auf [Rechas] Boden“ kommen sollen, weil sie sie „entkräften [und] betäuben“. Das heißt, Recha möchte verhindern, dass Daja ihr Unvernünftiges einredet, etwa ihr „Vaterland“ Jerusalem zu verlassen oder dass „der Engel“, also der Tempelherr Recha zur „Närrin“ gemacht hat. Recha findet dies beschämend und lächerlich, wenn sie sagt, dass sie sich „vor [ihrem] Vater der Posse schämt!“ (V. 1580 - 1582).
Daja ist erzürnt, was sich darin äußert, dass sie „Posse“ wiederholt und ausruft. Recha versucht sie demnach zu beruhigen, etwa wenn sie die Apostrophe „Liebe Daja“ (vgl. V. 1553, 1592, 1597) verwendet. Recha zeigt, dass die ethnische Zugehörigkeit irrelevant für das Menschensein ist, was sehr vernünftig scheint und mit ihrer Entwicklung von träumerisch-unsicher zu aufgeklärt-rational korrespondiert.
Zudem möchte sie zeigen, dass sie gegen Daja keine Abneigung hegt. Infolgedessen erklärt sie in einer Antithese und Parallelismus, dass sie den Helden aus den Geschichten Dajas und „ihren Taten/ […] stets Bewunderung und ihren Leiden/ […] immer Tränen gern gezollt hab[e]“ (V. 1585 f.). Somit versucht Recha Daja zu zeigen, dass sie, trotz der gegensätzlichen Ansichten, ihre Erzieherin wertschätzt.
Des Weiteren kann man feststellen, dass Recha zu Beginn des Gesprächs sehr unsicher war, was sich darin zeigt, dass sie viele Wiederholungen und Fragen sowie parataktische Sätze verwendet. Am Ende wirkt sie jedoch entschlossen, selbstsicher, vernünftig und rational, denn sie versucht zum einen trotz der Meinungsverschiedenheit keinen Streit auszulösen, etwa durch die liebevollen, wertschätzenden Ausführungen am Ende. Zum anderen hat sie mehr Sprechanteil, nutzt nun hypotaktische Sätze, sachlichere Sprache und Metaphern6, um überzeugend und aussagekräftig zu wirken. Schließlich lässt sie sich von Daja nicht fremdbestimmen und weist die bornierten Denkweisen Dajas zurück.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die vorliegende Szene ein Gespräch zwischen Recha und Daja ist, in dem die beiden auf gegensätzliche Intentionen treffen, sodass im Verlauf des Gesprächs Recha eine Entwicklung vollbringt, die ihre anfängliche Unentschlossenheit und Schwärmereien in Vernunft und Rationalität verwandeln lässt. Die dabei verwendeten Metaphern, Inversionen7 und Antithesen8 unterstützen die Ausführungen der beiden Figuren, sodass die egoistische Natur Dajas und unsichere aber später vernünftige Charakteristik Rechas zum Ausdruck gebracht werden.