Drama: Maria Stuart (1783-1799)
Autor/in: Friedrich SchillerEpoche: Weimarer Klassik
Thema: Erschließung und Interpretation eines Damenauszugs
Werk und Szene: Friedrich Schiller: Maria Stuart 3. Aufzug, 4. Auftritt
Aufgabe 1: Erschließen Sie den Dramenausschnitt nach gedanklichem Aufbau und Dialogführung und beziehen Sie wesentliche sprachliche und dramaturgische Gestaltungsmittel ein.
Aufgabe 2: Erläutern Sie anschließend, wie der folgende Ausspruch von Maria Stuart zu bewerten ist, und beziehen Sie dabei auch den Gesamtzusammenhang des Dramas mit in Ihre Überlegungen ein: „Ach, meines Geistes Schwingen sind gelähmt, Nicht Größe lockt mich mehr – Ihr habt’s erreicht, Ich bin nur noch der Schatten der Maria.“ (V. 2380 ff.)
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
„Elisabeth ist meines Stammes, meines / Geschlechts und Ranges – Ihr allein, der Schwester, / Der Königin, der Frau kann ich mich öffnen.“ (V. 174 ff.) – mit diesen Worten begründet Maria gegenüber Paulet im zweiten Auftritt des ersten Aufzugs, weshalb sie es ablehnt, sich wie vorgesehen vor einem englischen Gericht zu verantworten. Gleichzeitig formuliert sie hier ihre Hoffnung in ein Treffen mit ihrer Rivalin Elisabeth und damit in eine Aussprache von Angesicht zu Angesicht, an deren Ende die Begnadigung durch die englische Königin stehen soll.
Aus Marias Äußerung lässt sich ablesen, dass aus ihrer Sicht bei der erhofften Begegnung zwei einander an Macht und Position ebenbürtige Frauen aufeinandertreffen werden – interessant ist, dass der Aspekt der Weiblichkeit hierbei als letzte, womöglich wichtigste Gemeinsamkeit von Maria benannt wird. Damit lässt sich auch erklären, warum Elisabeth Maria in der zu besprechenden vierten Szene des dritten Aufzugs, aufs Äußerste provoziert, indem sie diese Leicester gegenüber als leichtlebige und sich vielen Männern zuwendende Frau abqualifiziert: „Es kostet nichts, die allgemeine Schönheit / Zu sein, als die gemeine sein für alle!“ (V. 2416 f.).
Der Aufbau von Schillers Drama „Maria Stuart“ verläuft ganz nach dem Vorbild der Dramenpyramide von Gustav Freytag, führt also nach einer Exposition über die steigende Handlung zu einem Höhepunkt, anschließend mündet die fallende Handlung in eine Katastrophe. Die von Leicester geschickt eingefädelte Begegnung zwischen den beiden Protagonistinnen in Szene III/4 stellt den Höhe- und gleichzeitig den Wendepunkt dar: daraufhin zielen alle vorausgegangenen Bemühungen Marias sowie ihrer Unterstützer Mortimer und Leicester ab, bzw. thematisieren viele Gespräche zwischen Elisabeth und ihrer Beratern das bevorstehende, einmalige Aufeinandertreffen der zwei Frauen. Der Tod Marias, die Katastrophe, wird bereits in diesem Auftritt vorentschieden, auch wenn im weiteren Verlauf des Dramas scheinbar noch Hoffnung auf Rettung besteht.
Das Gespräch zwischen Maria und Elisabeth, das – symbolisch für die vermeintliche Hoffnung auf Freiheit für die Gefangene – im Park stattfindet, dreht sich um Marias angebliche Vergehen und ihren Machtanspruch auf das englische Königreich und entwickelt sich recht schnell zu einem heftigen, emotionsgeladenen Schlagabtausch, der aufgrund der gegenseitigen Provokationen dazu führt, dass Maria ihre Gegnerin schwer demütigt und damit die - wenn auch noch so schwache - Chance auf Begnadigung zunichtemacht.
Welche Ziele verfolgt Maria in diesem Aufeinandertreffen, welche Elisabeth? Marias Intention muss es sein, ihre Begnadigung zu erwirken, und damit ein Leben in Freiheit. Elisabeths Absichten sind hingegen komplexer: sie will sich – von Leicester in Szene II/9 entsprechend manipuliert - ihrer eigenen Überlegenheit auch in Bezug auf Marias äußere Erscheinung vergewissern und sich gleichzeitig mit ihrer Gesprächsbereitschaft die Unterstützung des englischen Volkes erhalten. Eine Aussöhnung mit Maria hat sie ebenso wenig im Sinn wie eine Begnadigung. Marias erster Versuch, zur Freiheit zu gelangen, lässt sich von Vers 2250 bis 2277 ausmachen: hier bemüht sie sich darum, bei der englischen Monarchin Verständnis für die eigene Position zu erwecken und eine Versöhnung herbeizuführen.
Mit einem Kniefall signalisiert sie ihrer Gegnerin zu Beginn des Gesprächs die eigene Unterwerfung und betont, sich selbst demütigend um Elisabeth milde zu stimmen, deren überlegene Position mit zwei Ausrufen (V. 2250 ff.) bzw. mit der Inversion „Gekrönt vom Sieg (…)“ (V. 2251). Dass sie gleichzeitig die Verwandtschaftsbezeichnung „Schwester“ (V. 2250 und 2253) wiederholt verwendet, verrät allerdings, dass neben die Strategie einer selbstgewählten Unterwerfung noch eine andere tritt: Elisabeth als ebenbürtiger Gegnerin begegnen und sie zu mit dem Hinweis auf die verwandtschaftlichen Beziehungen gleichsam zu einer Begnadigung zu verpflichten. Im weiteren Verlauf des Dialogs wird zu sehen sein, dass diese zweite Strategie immer deutlicher zum Tragen kommt, weil sie Marias selbstbewusstem Wesen und ihren Überzeugungen wesentlich mehr entspricht. So fordert sie Elisabeth anschließend mit einer Reihung von Imperativen (V. 2253 ff.), die die Dringlichkeit von Marias Bitten verstärkt, dazu auf, aus ihrer unterlegenen Position sinnbildlich befreit und auf gleiche Höhe mit der englischen Königin gebracht zu werden. Die Regieanweisung „zurücktretend“ in Vers 2254 verdeutlicht jedoch schon an dieser Stelle Elisabeths feindliche Haltung ihrer schottischen Rivalin gegenüber, die sie distanziert mit dem Ausruf und der förmlichen Anrede „Ihr seid an Eurem Platz, Lady Maria!“ (V. 2257) abwehrt.
Die schottische Königin bemüht sich nun immer mehr (vgl. die Regieanweisung „mit steigendem Affekt“ V. 2261) darum, ihre Gegnerin zu einem emotionalen Entgegenkommen zu bewegen, um auf diesem Weg eine Begnadigung zu erreichen. Sie erfleht von Elisabeth ein Zeichen von Empathie und warnt sie gleichzeitig vor übertriebenem Stolz und vor Arroganz, was man im Hinblick auf den Ausgang des Dramas, bei dem Elisabeth sich zwar ihrer Widersacherin entledigt hat, aber von ihren Beratern verlassen wurde, als Vorausdeutung werten kann. Der Druck, der auf Maria lastet, wird den zahlreichen Ausrufen (V. 2261 ff., V. 2268 ff.) ebenso deutlich wie in der Tautologie1 „Mein Alles hängt, mein Leben, mein Geschick (…)“ (V. 2272). Wie gefühlskalt und abweisend die englische Monarchin auf ihre Gefangene wirkt, veranschaulichen der Vergleich in Vers 2269f. und die Metapher „mit dem Eisesblick“ (V. 2275).
Elisabeth erweist sich als unzugänglich (belegt auch durch die Regieanweisung „kalt und streng“ in Vers 2278 und durch die erneut förmliche Anrede „Lady Stuart“ in Vers 2279) für Marias Flehen, auf das sie in keiner Weise eingeht. Stattdessen will sie Maria dazu bringen, ihr Anliegen konkret zu formulieren, und stellt im gleichen Atemzug ihre eigene gehobene Position explizit heraus, was die Inversionen2 „… Und meines Anblicks Trost gewähr ich euch./ Dem Trieb der Großmut folg ich (…)“ in den Versen 2283 ff. betonen. Am Ende ihres Einwurfs bringt Elisabeth die unüberbrückbare Distanz zwischen ihr und Maria deutlich auf den Punkt: „… - denn Ihr wißt, / Daß Ihr mich habt ermorden lassen wollen.“ (V. 2286 f.)
In der nun folgenden monologischen Passage Marias reflektiert diese nun ihre eigene Gesprächsstrategie, da sie sich der Gefahr eines Scheiterns für den Fall, dass sie durch ihr Reden ihr Gegenüber kränkt, durchaus bewusst ist. Die Apostrophe3 „O Gott, …“ (V. 2291) zeigt in diesem Zusammenhang, wie aufgewühlt und besorgt Maria ist. In der folgenden Passage schildert sie mit Hilfe von Aufzählungen und einer asyndetischer Reihung (V. 2301 ff.) die Vorgeschichte sowie Elisabeths ungerechtes Vorgehen, kündigt aber an, einen Schlussstrich ziehen zu wollen, was sie mit dem Ausruf „Nichts mehr davon!“ (V. 2305) bekräftigt. Sie erklärt sich dazu bereit, den schwerwiegenden Konflikt als durch das Schicksal, nicht durch persönliche Schuld, begründet zu sehen, und unterstreicht ihren Anspruch auf Ebenbürtigkeit mit dem Parallelismus in Vers 2308 „Ihr seid nicht schuldig, ich bin auch nicht schuldig“. Die Entstehungsbedingungen des Streits zwischen ihr und Elisabeth verpackt Maria geschickt in Metaphern4, um die Verantwortlichkeiten der Beteiligten zu kaschieren: „Ein böser Geist stieg aus dem Abgrund auf, / Den Haß in unsern Herzen zu entzünden (…)“ (V. 2309 - 2318). Hier wird also sichtbar, dass Maria ihre anfängliche Selbstunterwerfung durchaus aufgibt und sie eine andere Strategie verfolgt: sie positioniert sich recht deutlich als gleichwertige und gleichstarke Gegnerin Elisabeths, wenn sie in diesem Stadium durchaus noch versucht, Elisabeth eine Brücke zu bauen und so eine Aussöhnung, die eine Begnadigung bedeuten könnte, zu erreichen.
In einem Moment maximaler verbaler, emotionaler und physischer Annäherung (vgl. die Regieanweisung „nähert sich ihr zutraulich und mit schmeichelndem Ton“ in Vers 2319 f. und die Anrede „Schwester“ in Vers 2321) fordert die schottische Gefangene ihre Widersacherin zum intimen Dialog und zur intensiven Aussprache auf. Mit der Interjektion5 „Ach, (…)“ in Vers 2323 drückt Maria ihren Schmerz über das zerrüttete Verhältnis aus und verweist auf eine andere, bessere Möglichkeit des zwischenmenschlichen Umgangs, indem sie den Konjunktiv, also den Modus des Irrealis, verwendet: „Es wäre nie so weit gekommen, nicht / an diesem traur’gen Ort geschähe jetzt / die unglückselig traurige Begegnung.“ (V. 2325 ff.)
Elisabeth weist Marias Zutraulichkeit allerdings schroff zurück und lehnt deren Deutung des Konflikts als vom Schicksal herbeigeführt ab. Auch sie verwendet Metaphern und Inversionen (V. 2330 f.), hebt damit aber Marias Schuld hervor und betont das Ausmaß ihrer Vergehen mit einer asyndetischen Reihung (V. 2336 ff.). Wie sehr sie selbst sich durch Marias Onkel bedroht fühlte, illustriert sie mit der Pars pro toto „Der Priester Zungen und der Völker Schwert, / des frommen Wahnsinns fürchterliche Waffen;“ (V. 2340f.). Anschließend bilanziert die englische Herrscherin die Situation und betont die gegensätzlichen Positionen sowie das gegensätzliche Schicksal der beiden Frauen mit der Antithese6 „Meinem Haupte / war der Streich gedrohet, und das Eure fällt!“ (V. 2345f.). Hier spricht Elisabeth bereits explizit aus, dass Maria sterben, bzw. dass das Todesurteil vollzogen werden wird, was Maria jedoch nur knapp und selbstbewusst damit kommentiert, dass sie sich „in Gottes Hand“ – eine Metapher zur Veranschaulichung der Geborgenheit, deren sich Maria sicher ist - weiß und Elisabeth es nicht wagen werde, zum Äußersten zu gehen (vgl. V. 2347 ff.).
Die protestantische Königin stellt daraufhin diese Gewissheit in Frage, indem sie Maria ab Vers 2349 mit einem regelrechten Schwall von Fragen überschüttet und gleichzeitig deren Onkel schwerer Verbrechen anklagt: „Wer soll mich hindern?“ (V. 2349), „Was ist mir Blutsverwandtschaft, Völkerrecht?“ (V. 2352), „Welches Pfand gewährte mir für Euch (…)?“ (V. 2357 f.), „Mit welchem Schloß (…)?“ (V. 2359). Dabei verdeutlicht die wiederholte Verwendung von Fragewörtern, für wie aussichtslos Elisabeth eine für sie selbst positive Beantwortung dieser Fragen hält. Bereits hier wird die schottische Gefangene schwer beleidigt, wenn Elisabeth gegen Ende ihrer Vorwürfe ihre unnachgiebige Haltung sentenzenhaft bilanziert und dabei noch einmal mit einer Metapher ihre Gegnerin demütigt: „Gewalt nur ist die einz’ge Sicherheit, / Kein Bündnis ist mit dem Gezücht der Schlangen.“ (V. 2361 f.). Maria muss sich also auch zu diesem Zeitpunkt des Gesprächs aufs schwerste provoziert fühlen, reagiert darauf aber nicht mit einer ebenso scharfen Antwort, sondern bemüht sich darum, Elisabeth zu beschwichtigen und ihr die Möglichkeit einer gegenseitigen Freundschaft aufzuzeigen. Ein zweifach verwendeter Konjunktiv ab Vers 2365 „Hättet Ihr / Zu eurer Erbin mich erklärt (…) markiert auch sprachlich das Irreale dieser Alternative. Elisabeth greift Marias Freundschaftsangebot in ihren Worten durchaus auf, weist dieses aber erneut schroff zurück und schildert die möglichen negativen Konsequenzen für den Fall, dass Maria in England an die Macht gekommen wäre. Ihre Empörung wird durch die sehr knappen Ausrufe ab Vers 2372 ebenso deutlich wie durch die Reihung von Nebensätzen: „Daß Ihr bei meinem Leben noch mein Volk / Verführtet (…)“, „Daß alles sich der neu aufgehnden Sonne / Zuwendete (…)“ (V. 2373 ff.). Interessant ist, dass Elisabeths Zurückweisung vor allem Marias weibliche Anziehungskraft thematisiert, die sie ganz offensichtlich fürchtet.
Die folgende Passage von Vers 2378 bis Vers 2411 stellt den zweiten Versuch Marias dar, ihre Befreiung zu erwirken: um Elisabeths Empathie und moralisches Empfinden anzusprechen, wird die Gefangene auf ihren Machtanspruch verbal verzichten und sich weiterhin selbst erniedrigen. Maria unterbricht Elisabeths Auslassungen mit dem Ausruf „Regiert in Frieden!“ (V. 2378) und erklärt sich im Folgenden für besiegt, was sie metaphorisch mit den Wendungen „Ach, meines Geistes Schwingen sind gelähmt (…), (…) Ich bin nur noch der Schatten der Maria.“ (V. 2381 ff.) veranschaulicht. Die dreifache Verwendung von Partizipien aus dem Wortfeld „Zerstörung“ betonen außerdem den kläglichen Zustand, in dem sich die schottische Königin zu befinden scheint: „gelähmt“ (V. 2380), „gebrochen“ (V. 2383), „zerstört“ (V. 2385). Dieser Moment stellt eine wichtige Kehrtwende in der argumentativen Strategie Marias dar, denn hier kündigt sie an, ihrer Gegnerin das Feld zu überlassen – allerdings unter der Bedingung, dass diese ihr die Freiheit schenkt. Sie wiederholt eine solche Forderung im Folgenden mehrmals und zum Teil wortwörtlich, was die Dringlichkeit ihrer Bitte widerspiegelt und gleichzeitig deutlich macht, dass Maria alles andere als vernichtet ist (V. 2386 ff.). Ihren kurzen Monolog beendet die noch immer willensstarke Schottin gar mit einer Drohung für den Fall, dass Elisabeth sie nicht begnadigt. Hier verstärkt die Anapher7 „Nicht um dies ganze reiche Eiland, nicht / um alle Länder, die das Meer umfaßt (…)“ (V. 2399 f.) den warnenden Unterton von Marias Äußerung. Elisabeth geht hierauf nicht ein, stattdessen verhöhnt sie die scheinbar Unterlegene in einer Aneinanderreihung von rhetorischen Fragen ab Vers 2403, die zeigt, wie erleichtert und erfreut die englische Königin darüber ist, den Konflikt zu ihren eigenen Gunsten entschieden zu haben. Schließlich beleidigt sie Maria aufs schwerste, indem sie sie als von aller Welt verlassene Mörderin darstellt, die sich immer wieder diversen Männern leichtfertig hingibt. Von der so sehr provozierten Stuart nur kurz unterbrochen – die extrem knappen, sich wiederholenden Ausrufe ab Vers 2412 spiegeln wider, unter welch hohem emotionalen Druck Maria steht – steigert Elisabeth sogar noch die Demütigungen, indem sie sich an Leicester wendet und Marias Attraktivität ebenso in Zweifel zieht wie ihre Tugendhaftigkeit: „Der Ruhm war wohlfeil zu erlangen: / Es kostet nichts, die allgemeine Schönheit / zu sein, als die gemeine sein für alle!“ (V. 2415 ff.). Obwohl Elisabeth hier in einer Sentenz spricht, ist nur allzu klar, dass sie Maria meint und sie ganz bewusst in der Gegenwart des Maria zugewandten Leicesters bloßstellen will. Die emphatische Sprechweise entspricht dem höhnischen Ton, mit dem die englische Königin sich an dieser Stelle äußert.
Marias Versuch, eine Begnadigung zu erwirken, indem sie die Gegnerin beschwichtigt, Versöhnungsbereitschaft bis hin zum Machtverzicht signalisiert, kommt spätestens an dieser Stelle zu seinem Ende: über Elisabeths Beleidigungen und Provokationen kann sie nun nicht mehr hinweg. In den folgenden Zeilen von Vers 2411 bis zum Szenenende kommt es zu einem heftigen, unverhüllten Schlagabtausch, in dem die schottische Königin jedes strategische Vorgehen außer Acht und sich nur noch von ihren Emotionen leiten lässt. Diesen Wendepunkt markiert dementsprechend Marias knapper Ausruf „Das ist zuviel!“ (V. 2418), nachdem sie zunächst einmal ihre eigene fehlerhafte Vergangenheit eingesteht. Hierbei beruft sie sich auf ihre jugendliche Unreife und deutet mit der Verwendung einer Personifikation8 („Die Macht verführte mich […]“, V. 2422) an, dass sie nicht unbedingt persönliche Schuld an ihren Taten trägt. Erneut droht sie später Elisabeth und beleidigt diese ihrerseits nun schwer, indem sie auf deren lasterhafte Vergangenheit anspielt. Die Metaphern (V. 2428 f.) sollen Elisabeths ehrenloses Leben bildlich darstellen.
Nachdem sich beide mächtigen Frauen wechselseitig schwer beleidigt und angegriffen haben, ist der Konflikt so eskaliert, dass ein versöhnliches Ende und Marias Begnadigung nicht mehr möglich erscheinen. An dieser Stelle greift Shrewsbury nun in den Streit ein – deutlich sichtbar in der Regieanweisung „tritt zwischen beide Königinnen“ (V. 2433) und erinnert Maria an den Ratschlag, den er ihr im 3. Auftritt des 3. Aufzugs gegeben hat („Sprecht ehrerbietig, mit Gelassenheit! / Ruf ihre Großmut an, trotzt nicht […]“, V. 2195 ff.). Seine Ausrufe (V. 2433 f.) zeigen, wie erschrocken er über den Verlauf der Begegnung ist.
Maria greift Shrewsburys Mahnung zur „Mäßigung“ (V. 2444 f.) wortwörtlich auf, lässt sich aber nicht davon abhalten, Elisabeth nun mehr in ungezügeltem Zorn gegenüberzutreten. In eindringlichen Parallelismen („Fahr hin, lammherzige Gelassenheit, / Zum Himmel fliehe, leidende Geduld / […]) ab Vers 2437, noch metaphorisch formuliert, kündigt sie die letzte verbale Attacke auf Elisabeth am Szenenende an, mit der sie das endgültige Zerwürfnis und damit den eigenen Tod besiegelt: „Regierte Recht, so läget Ihr vor mir / Im Staube jetzt, denn ich bin euer König.“ (V. 2450 f.) Dass Maria Elisabeth vorher noch als „Bastard“ (V. 2447) und „list’ge Gauklerin“ (V. 2449) zutiefst kränkt, zeigt ebenso, dass sie ihrer Wut und ihrer Geringschätzung nach langer Anstrengung freien Lauf lässt. Leicester und Shrewsbury versuchen in dieser Phase verzweifelt, Marias Verhalten bei Elisabeth zu entschuldigen und die Gefangene zu schützen (vgl. die Ausrufe und Wiederholungen ab Vers 2445), da-bei wird die Reaktion Elisabeths nur noch in Regieanweisungen deutlich: sie spricht nicht, sondern blickt Maria nur zornig an, woraufhin sie in Begleitung von Leicester und Shrewsbury davongeht (V. 2446 f. und V. 2452 f.)
Wie anfangs bereits erwähnt, stellt der besprochene Auftritt den entscheidenden Wendepunkt des Dramas dar. In dieser einzigen Begegnung der beiden Rivalinnen zeigt sich, dass Maria sich lange Zeit taktisch verhält, ihre Strategien wechselt und ihre wahren Gefühle verbirgt, um ihr Ziel, ein Leben in Freiheit, zu erreichen: Sie versucht, sich mit Elisabeth auszusöhnen, indem sie Verständnis für ihre eigene Position erweckt. Sie erniedrigt sich selbst, um die englische Königin zu Empathie und einer moralischen Reaktion zu bewegen. Elisabeth jedoch bleibt unzugänglich, sie provoziert stattdessen ihre Gefangene und trägt maßgeblich zur Eskalation des Konflikts bei, indem sie diese auf unerträgliche Weise demütigt. Letztendlich gibt Maria ihre Selbstdisziplin und Zurückhaltung auf, indem sie die Gegnerin ebenso schwer und hasserfüllt beleidigt. Die größeren Gesprächsanteile liegen bei der schottischen Königin – sie ist diejenige, die agiert und vielerlei unternimmt, um die eigene Freiheit herbeizuführen.
Wer gewinnt nun eigentlich, wer verliert dieses Rededuell? Angesichts der Fakten muss man sicherlich Elisabeth als Gewinnerin ansehen: sie verlässt die Szene als regierende Königin, die ihre Erzrivalin so sehr gereizt hat, dass diese ihre einzige Chance auf eine Begnadigung verwirkt, indem sie in einem extremen Wutausbruch ihre eigentlichen Gefühle zeigt: Das Todesurteil an Maria wird also vollstreckt werden.
In dieser Logik scheint der Ausspruch der schottischen Gefangenen „Ach, meines Geistes Schwingen sind gelähmt, Nicht Größe lockt mich mehr – Ihr habt’s erreicht, Ich bin nur noch der Schatten der Maria.“ (V. 2380 ff.) der Wahrheit zu entsprechen: Schließlich gibt Maria im Lauf des Gesprächs, wie oben gezeigt, jeden Machtanspruch und damit auch ihre Königsrang auf, den sie so lange behauptet hat. Schon im Gespräch mit Burleigh im 7. Auftritt des 1. Aufzugs erklärt sie beispielsweise: „Ich habe keineswegs mich unterworfen. / Nie konnt ich das (…) Wer in der Comittee ist meinesgleichen? / Nur Könige sind meine Peers.“ (V. 698 ff.). Doch betrachtet man den weiteren Verlauf des Dramas, wird deutlich, dass Maria sich aus diesem verzweifelten Zustand am Ende wieder zu innerer Größe erheben wird, in der sie – gemäß der Schillerschen Vorstellung von der schönen Seele – zu einem Ausgleich von Emotion und Verstand, von Leidenschaft und Vernunft kommt. erst am Ende des letzten Aufzugs betritt Maria Stuart wieder die Bühne, vorher wird ihre Gefasstheit nur in den Äußerungen ihrer Bediensteten deutlich: „Kein Merkmal bleicher Furcht, kein Wort der Klage / Entehrte meine Königin.“ (v. 3409 f.). berichtet Hannah Kennedy über ihre Herrin. Im 6. Auftritt des 5. Aufzugs wird Maria selbst sich mit ihrem Tod einverstanden erklären und ihn als Weg „zur ew’gen Freiheit“ (V. 3484) interpretieren. Im gleichen Atemzug formuliert sie ihre innere Größe: „Die Krone fühl ich wieder auf dem Haupt, / Den würd’gen Stolz in meiner edeln Seele!“ (V. 3494 f.). Von einem „Schatten der Maria“ (V. 2382) ist sie hier also wieder weit entfernt, vielmehr hat die Stuart nach dem entscheidenden Streit mit Elisabeth eine positive persönliche Entwicklung durchlaufen, an deren Ende sie sogar versöhnt mit ihrer schlimmsten Gegnerin in den Tod gehen kann. Im Gespräch mit Burleigh äußert sie dementsprechend: „Der Königin von England / Bringt meinen schwesterlichen Gruß – Sagt ihr, / Daß ich ihr meinen Tod von ganzem Herzen / Vergebe, meine Heftigkeit von gestern / Ihr reuevoll abbitte – Gott erhalte sie / Und schenk ihr eine glückliche Regierung!“ (V. 3783 ff.) Insofern trifft das oben angeführte Zitat eben doch am Ende, wenn auch nur zum Teil, auf Maria zu: Größe – hier verstanden als äußere Machtposition – ist für die Todgeweihte tatsächlich nicht mehr erstrebenswert, allerdings hat sie im Lauf der Zeit innere Größe durchaus entwickelt und ist zu einer harmonischen Persönlichkeit herangereift, die zur Zeit der Klassik als vorbildlich angesehen wurde.
Die Figur der Elisabeth durchläuft eine solche Persönlichkeitsentwicklung nicht – sie bleibt die machthungrige, eifersüchtige und charakterschwache Frau, an der sich Marias Mahnung aus dem dritten Akt („Denkt an den Wechsel alles Menschlichen! / Es leben Götter, die den Hochmut rächen!“ V. 2261 f.) letztendlich in Bezug auf ihre sozialen Bindungen bewahrheitet: sie wird am Ende von ihrem unbestechlichen Berater Shrewsbury und dem wankelmütigen Günstling Leicester verlassen, indirekt verweigert ihr Shrewsbury sogar die Gefolgschaft und macht ihr damit deutlich, dass sie Unrecht begangen und moralisch verwerflich gegenüber Maria gehandelt hat.