In der Zeit, in der Heinrich Heine sein bekanntes Gedicht „Die Schlesischen Weber“ schreibt, beginnt die erste Phase der Industrialisierung in Deutschland. Neue Industriezentren und Fabriken entstehen. Durch die Einführung der Bauern- und Gewerbefreiheit kommt es zur Landflucht in die Städte, wo sich die Landflüchtigen ein besseres Leben und Arbeit erhoffen. Dort werden sie jedoch ausgebeutet und bilden eine neue Bevölkerungsschicht, die die der Arbeiter, das Proletariat. Diese Menschen leben am Existenzminimum, eine Reaktion auf ihre Not ist der Weberaufstand im Winter 1844 in Schlesien. Heinrich Heine beschreibt in seinem Werk nicht nur die Wut der Weber, sondern auch ihre Situation in Preußen zu dieser Zeit.
Das Gedicht selbst besteht aus fünf Strophen. Auffällig ist, dass Heine die einfache A-A-B- Form des Volksliedes gewählt hat. Jede Strophe besteht aus zwei Paarreimen (A-A) und einem wiederkehrenden „Refrainteil“ (B). Diese erste formale Besonderheit weist darauf hin, dass das „Weberlied“ an die breite Masse gerichtet ist. Die erste der fünf Strophen leitet in das Geschehen ein.
Im ersten Paarreim tragen die Worte „düstern“, „Träne“ und „fletschen die Zähne“ zu einer dunklen Grundstimmung bei. Sie beschreiben den Zustand der Weber, die „keine Tränen“, mehr haben, da keiner ihnen in ihrer Hoffnungslosigkeit hilft. Vielmehr „fletschen“ sie als Reaktion hierauf „die Zähne“. Sie sind bereit gegen ihre Ohnmacht gegenüber ihren Ausbeutern zu kämpfen. Die Hoffnungslosigkeit wird zur Wut. In dem folgenden Paarreim kommen die Weber selbst zu Wort. So drohen sie „Deutschland, wir weben dein Leichentuch/ wir weben hinein den dreifachen Fluch“. Die Verwendung des Wortes „Leichentuch“ weist auf den Willen die herrschende Ordnung zu Fall bringen. Der „dreifache Fluch“ bestärkt dieses. Er ist symbolhaft zu sehen, man findet ihn normalerweise in gängigen Volkssagen- oder Märchen. Der „dreifache Fluch“ zeigt also wie die Volksliedstrophe erneut die Verbindung zum Volk an sich.
In den folgenden drei Strophen werden die drei Flüche explizit ausgesprochen und begründet. Zunächst richtet sich die Wut gegen „de[n] Gotte, zu dem wir, [die Weber], gebeten“. Heine greift also zuerst die geistliche Instanz an. In den nächsten zwei Zeilen der Strophe begründet er dies mit dem „vergeblichen Hoffen“ auf himmlischen Beistand. „Winterskälte und Hungersnöte“ sind hierbei, neben dem Hinweis auf das Elend der Weber, als eine Anspielung auf die Ernteausfälle wegen der Kartoffelfäule 1844 und der Preissteigerung des Grundnahrungsmittels um 50% zu sehen. Neben diesem Zeitbezug deutet der Stabreim „vergebens gehofft und geharrt“ auf eine weitere Kritik hin: Der Terminus „Gott“ und die Vertröstung auf das Leben im Jenseits wurden von den Obrigkeiten als Rechtfertigung für die herrschenden Zustände genommen. Indem man das Hoffen auf eine Besserung durch eine höhere Gewalt propagiert, hält man die Ausgebeuteten ruhig- nicht umsonst beschrieb Marx einige Zeit später, dass die Religion das Opium des Volkes ist. Der Weberaufstand gleicht also einem Erwachen, das aus der Erkenntnis erwächst, dass „Gott“ die Weber „geäfft, gefoppt und genarrt“ hat. Diese Akkumulation lässt die Wut der Arbeiter deutlich werden. Der Zorn erfährt in der dritten Strophe eine Steigerung. Hier wird die weltliche Macht verflucht. Der König wird als „König der Reichen“ bezeichnet, er nimmt nur, „[presst] den letzten Groschen“, und gibt nicht. Er fördert die, die von der Industrialisierung profitiert haben- Unternehmer, die Oberschicht des Bürgertums, den Adel. Aber das Elend derer, die diesen Reichtum möglich gemacht haben, vergrößert er. Er, der eigentlich eine Instanz der Gerechtigkeit sein sollte, wendet sich gegen einen Großteil seines Volkes, das er nicht achtet und „wie Hunde erschießen lässt“. Dieser Vergleich verdeutlicht zu einem die Geringachtung mit der man den Arbeitern begegnete und ist zum anderen auch ein erneuter Ausdruck des Zorns. Heine spielt mit diesem Vergleich auf das blutige Niederschlagen des schlesischen Weberaufstandes 1844 an. Den Befehl hierzu gab „der König der Reichen“, Friedrich Wilhelm IV von Preußen.
In der vierten Strophe wird das Vaterland verflucht. Der Begriff „Vaterland“, den man eigentlich in dieser Zeit mit Patriotismus verbindet, wird als „falsch“ beschrieben. In den folgenden drei Versen findet man eine Anapher1, Heine verwendete dreimal das Wort „Wo“, um das Vaterland als einen Ort des Verderbens zu beschreiben. Der Stabreim „(gedeihen nur) Schmach und Schande“ so wie die Metapher2 der „Blume“, die „zu früh geknickt“, und das Wortpaar „Fäulnis und Moder“, verdeutlichen, dass das beschriebene Deutschland unmenschlich ist und die Herrschaft des Königs (aus der dritten Strophe) Unterdrückung bedeutet. Die „Blume wird zu früh geknickt- und jede Entwicklung zum Besseren für das Volk verläuft im Sand. „Fäulnis und Moder“ erquicken den „Wurm“, von dem Elend der Weber bzw. Arbeiter profitieren nämlich nur die Herrschenden und die Unternehmer.
Betrachtet man nun alle drei Flüche, so fällt auf, dass Heines Weber Gott, König und Vaterland verfluchen, also die Säulen der damaligen Ordnung. Interessant ist auch Folgendes: „Gott, König, Vaterland“ war die Losung des preußischen Militärs, also das Motto des Instrumentes, mit dem Friedrich Wilhelm IV den Weberaufstand 1844 niederschlagen ließ.
In der letzten Strophe sitzen die Weber wieder am Webstuhl, wie in der ersten wird ein Zustand beschrieben. Der „Webstuhl“ kracht, sie „weben emsig Tag und Nacht“ an dem Leichentuch Altdeutschlands. Bezeichnend ist, dass nicht mehr von Deutschland, sondern nur noch von Altdeutschland, also dem „schlechten, altern“ Deutschland, das verflucht wird, die Rede ist. Also lässt sich das Leichentuch für „Altdeutschland“ als eine Anspielung deuten, dass an dem Untergang der alten, herrschenden Ordnung gewebt wird.
Diese letzte Erkenntnis verdeutlicht, dass das Weberlied etwas „Neues“ ist, es zählt zu den sog. politischen Gedichten, deren Gattung während der Epoche des Vormärzes entstand. Der Vormärz bezeichnet die Zeit vom Wiener Kongress bis zur Märzrevolution 1848. Das politische Gedicht entstand, weil es sich leicht auf Flugschriften verteilen ließ und die Zensur Gedichte nicht begutachtete. Das „Leichentuch Altdeutschlands“, von dem Heine schreibt, sollte allerdings erst viel später fertig gewebt sein. Auch wenn das Gedicht seinerzeit anprangerte und zum Widerstand aufrief, so endeten die Bemühungen der Arbeiter und sozialistischen Vereinigungen dieser Zeit mit der Einführung der Sozialistengesetze, die jede Art des „Aufstandes“ im Keim erstickten. Nicht zu vergessen ist aber auch, dass es 40 Jahre später die ersten staatlichen Versicherungen gab, die die Arbeiter ein wenig vor der Ausbeutung schützten.
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