Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Der Fischer“ von Johann Wolfgang von Goethe wurde im Jahr 1779 veröffentlicht und fällt somit in die Epoche des Sturm und Drang, als deren wichtigster Vertreter Goethe selbst gilt. Es behandelt die anziehende Kraft des Wassers am Beispiel eines Fischers, der sich von ihr – die in einer Nixe personifiziert ist – in die Versuchung bringen lässt, das Wasser am eigenen Leib zu erfahren und daraufhin darin ertrinkt.
Das Gedicht ist in 4 Strophen mit je 8 Versen gegliedert, welche in einem Kreuzreim angeordnet sind. Die Strophen lassen sich in drei Sinnabschnitte einteilen: Die erste Strophe ist gleichzusetzen mit dem ersten Sinnabschnitt und beschreibt die Szenerie, in der die Handlung stattfindet. Außerdem beinhaltet sie eine Überleitung zum zweiten Sinnabschnitt, in dem die Nixe dem Fischer über zwei Strophen einredet, wie sehr er ins Wasser kommen solle. Die letzte Strophe – ebenfalls kongruent mit dem nächsten und letzten Sinnabschnitt – beschreibt schließlich die Reaktion des Fischers.
Das Versmaß ist ein in jedem Vers zwischen drei und vier Hebungen wechselnder Jambus. Dieser Jambus versinnbildlicht in Kombination mit dem regelmäßigen Reinschema die Ruhe der Situation, in der die Handlung des Gedichts stattfindet. Die Beziehung zwischen dem Fischer und der Nixe kann also keinesfalls als wild oder kämpferisch charakterisiert werden, viel eher scheinen beide im Einklang miteinander zu sein.
Bei der Analyse der Kadenzen1 fällt auf, dass es keine weiblichen gibt. Die weibliche Wassergestalt scheint also in Realität nicht zu existieren, die einzige reale Figur des Gedichts ist also der Fischer.
Im ersten Vers des Gedichts „rauscht'“ das Wasser bereits in die Wahrnehmung des Fischers, worin es dann durch das Wort „schwoll“ (Vers 1) an Bedeutung und Fülle gewinnt. Der anaphorische Parallelismus, in den dieser Vers eingebunden ist, verstärkt diesen Prozess. Allerdings lässt das Wort „schwoll“ (Vers 1) auch darauf schließen, dass es sich bei dem Gewässer um das Meer handelt, und die Flut gekommen ist.
Schon im dritten Vers lässt sich erahnen, worauf die Handlung hinausläuft: Durch den jambischen Rhythmus des Gedichts fällt dort die Betonung auf „nach“ und die erste Silbe der „Angel“ (Vers 3). Es wird also schon eine – wenn auch noch kaum wahrnehmbare – Bewegung des Fischers der Angel nach, in Richtung des Wassers, kreiert. Doch sofort danach wird der Fokus des Lesers wieder auf die „ruhevoll[e]“ (Vers 3) Stimmung des Gedichts gebracht.
Vers 4 bringt eine mögliche Ausnahme vom Jambus mit sich: Die ersten vier Silben können auch im Daktylus gelesen werden, was dem Fischer die „Kühl[e]“ (Vers 4) auch sprachlich „bis ans Herz hinan[trägt]“ (Vers 4).
Der wie in Vers 1 anaphorische Parallelismus in Vers 5 verfügt zudem noch über die koordinierende Konjunktion „und“, welche die zeitliche Dauer verdeutlicht, während der Fischer am Wasser sitzt.
In Vers 6 „teilt sich die Flut empor“, hier wird es noch wahrscheinlicher, anzunehmen, dass es sich um das Meer und nicht eine andere Wasserflut wie beispielsweise einen Fluss handelt. Das Meer „teilt sich“ (Vers 6), macht Platz für etwas anderes, und erlaubt gleichzeitig eine Bewegung „empor“ (Vers 6), es ist also zu erwarten, dass etwas aus dem Meer in die Luft steigt.
Im nächsten Vers findet sich die Formulierung des „bewegten Wasser[s]“ (Vers 7), welche nahelegt, dass sich eine fremde Kraft oder Person im Wasser befindet. Die Fremdheit dieses Wesens wird allerdings dadurch eingegrenzt, dass das Wesen ebenso wie das Wasser „rauscht“ (Vers 7), also wie das Wasser selbst ist. Das Emporrauschen wird durch ein Enjambement2 von Vers 7 zu 8 unterstützt und bringt schließlich „Ein feuchtes Weib hervor“ (Vers 8), das Symbol der Anziehung und Lockung auf mehreren Ebenen und gleichzeitig der Höhepunkt der ersten Strophe.
Das erste, was diese Frau tut, ist, sich den dem Leser bekannten Kategorien zu entziehen: Zu jeweils gleichen, in einem Parallelismus angeordneten Teilen spricht und singt sie, sie lässt sich nichts komplett zuordnen und wird somit zu etwas, das nicht zu der vom Leser und dem Fischer erfahrbaren Welt gehört.
Dies wird noch deutlicher, als sie sich mithilfe ihrer „Brut“ (Vers 10) vom menschlichen Dasein distanziert, sie durch die Kritik an „Menschenwitz und Menschenlist“ (Vers 11) die Distanz zum Menschlichen noch erweitert, und sogar das Land, den einzigen Ort, an dem Menschen ohne Weiteres leben können, als „Todesglut“ (Vers 12) bezeichnet, und somit der Hölle zumindest nahestellt.
Die nächsten beiden Verse bilden einen Gegenentwurf zur glühenden Menschenwelt. Dazu bedient sich der Autor mehrerer Antithesen3: Die erste ist zwischen Mensch und „Fischlein“ (Vers 13), die zweite zwischen oben und unten („Hinauf“, Vers 12, und „auf dem Grund“, Vers 14). Die dritte und letzte ist die bedeutendste, da sie den aufgezeigten Seiten Wertungen zuweist. Das Land der Menschen wird bereits in Vers 12 als „Todesglut“ beschrieben, die Fische leben hingegen „So wohlig“ (Vers 14) in ihrem Habitat.
Um weiter auszuführen, wie gut der Meeresgrund auch für Menschen sei, behauptet die Nixe in Vers 16, der Fischer würde dort „erst gesund“. Diese Formulierung setzt allerdings die Annahme voraus, dass der Fischer krank sei, wozu es jedoch keinen Anhaltspunkt gibt. Gemeint sind also die kleinen alltäglichen Leiden, die der Fischer gerne loswürde. Aus dieser Perspektive wird klar, wie euphemistisch-zynisch die Äußerung der Nixe ist, da sie den Tod als in erster Linie „frei von Leid“ darstellt. Somit ist sie auch der (traurige) Höhepunkt der zweiten Strophe.
In der dritten Strophe führt die Nixe ihre Ausführungen fort, indem sie in einer rhetorischen Frage beteuert, dass selbst der ganze Himmel, durch ein Pars pro toto verkörpert in den entgegengesetzten Himmelskörpern „Sonne“ (Vers 17) und „Mond“ (Vers 18), das Meer liebt, schließlich „Labt [er] sich“ (Vers 17) darin.
In der nächsten rhetorischen Frage über die Verse 19f. schlägt der Autor eine direkte Verbindung von der Wasseroberfläche zum Fischer, indem er die Nixe nach dem „wellenatmend[en]“ (Vers 19) Spiegelbild der Sonne fragen lässt, das beim Fischer ankommt.
Die dritte rhetorische Frage „Lockt dich der tiefe Himmel nicht“ (Vers 21) richtet sich direkt an die Empfindungen des Fischers. Einen zusätzlichen Reiz macht das Wortspiel „tiefe® Himmel“ (Vers 21) aus, da es sich zum Einen um den tiefblauen Himmel handeln kann, der sich im Meer widerspiegelt, zum Anderen kann es aber auch das Meer selbst als einen tief gelegenen Himmel bezeichnen.
Die vierte rhetorische Frage stellt nun die Vollendung der dritten Strophe dar, indem der Fischer nach seinem „eigen Angesicht“ (Vers 23) gefragt wird, das ihn in „ew'gen Tau“ (Vers 24) locken soll. Auch hier ist die Frage sehr persönlich gestellt und verspricht ewige Jugend, Frische und Gesundheit, symbolisiert im Begriff des Taus.
Die letzte Strophe beginnt wie die erste, Vers 25 ist demnach ein Kehrvers. Dies verdeutlicht, dass in Realität während des gesamten Gedichts nichts passiert ist, dass die Nixe also nur in der Vorstellung des Fischers existiert und agiert.
In Vers 26 „Netzt' ihm [das Wasser] den nackten Fuß“; die Begriffswahl des Netzens ruft dabei über den Begriff „Netz“ eine Assoziation mit dem Wort „einfangen“ hervor. Die Nacktheit des Fußes hebt gleichzeitig hervor, wie ungeschützt der Fischer der in der Nixe inkarnierten Verlockung des Meeres ausgeliefert ist. Diesen Gedanken könnte man weiterführen und in der Behauptung gipfeln lassen, dass es dem Fischer sprichwörtlich „den Boden unter den Füßen wegzieht“.
Auch Vers 27f. beschreibt, wie empfindlich der Fischer auf die Anziehungen des Meeres reagiert: „Sein Herz wuchs ihm [...] / Wie bei der Liebsten Gruß“. Die Liebe des Fischers zum Meer wird hier gleichgesetzt mit der eines Mannes zu seiner Frau, sein in Vers 4 noch „Kühl[es]“ Herz wächst nun ohne Grenzen, wie das Enjambement zwischen den beiden Versen verdeutlicht, und mit ihm der Teil des Fischers, der im Sturm und Drang als zentrales Element dem „ratio“ der Aufklärung entgegengesetzt wurde, das Gefühl, genannt „emotio“.
Äußerlich passiert nahezu nichts, wie der Kehrvers zeigt, lediglich im Innern des Fischers finden Vorgänge statt, die ihn dazu verleiten, plötzlich seinem Gefühl nachzugeben und die imaginäre Nixe in Vers 29 noch einmal zu sich singsprechen zu lassen. Dieser parataxeninvertierte Kehrvers (vgl. Vers 9) markiert den Punkt, ab dem der Fischer der Versuchung des Wassers endgültig erliegt: „Da war's um ihn geschehn“ (Vers 30); „Halb zog sie ihn, halb sank er hin“ (Vers 31) verdeutlicht, dass sein Herz (emotio, „sie“, Vers 31) mittlerweile die Hälfte seiner mentalen Kapazitäten einnimmt, und die andere Hälfte entweder nicht mehr funktionstüchtig ist oder gar keine eigenen Ziele mehr hat.
Die Klimax4 dieser Strophe ist im strengen Sinne gar keine, weil der Vers „Und ward nicht mehr gesehn“ (Vers 32) nur indirekt ausdrückt, was dem Leser sofort ohne Zweifel klar wird: Der Fischer gibt der Versuchung nach und ertrinkt.
Das Gedicht zeichnet ein eindrucksvolles Bild der anziehenden Kraft, die das Wasser auf den Menschen haben kann, indem es einen Fischer, „Kühl bis ans Herz hinan“, der wahrscheinlich große Teile seines Lebens am Wasser verbracht hat, sich aus dem Nichts so sehr in es verlieben lässt, dass er bereit wird, sein Leben dafür aufzugeben, nur um für immer im Wasser zu sein. Goethe zeigt Wunschvorstellungen des Menschen auf, die aus der Faszination für das Wasser geboren werden, indem er ebendieser Faszination einen Körper und eine Stimme gibt, die den Leser über fast zwei Strophen begleitet.
Das Ende mag zwar überspitzt worden sein, doch es trifft einen menschlichen Nerv: Man ist gefesselt von der Andersartigkeit des Wassers und bereit, zumindest nass zu werden, um seine Wirkung am eigenen Leib zu erfahren.