Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Jakob van Hoddis: Morgens (1919)
Das der Epoche des Expressionismus zuzuordnende Gedicht „Morgens“ von Jakob van Hoddis, wurde 1919 veröffentlicht. Das Gedicht behandelt den Morgen in einer Großstadt. Der Autor warnt den Leser vor der Industrialisierung und der Mechanisierung des Menschen, welche zu einem Verlust der Individualität führe.
Das Gedicht besitzt kein regelmäßiges Reimschema, jedoch finden sich einige Paarreime, wie zum Beispiel in Vers 5 und 6, 8 und 9 und 10 und 11.
Das Gedicht ist gedanklich in drei Teile geteilt. Im ersten Teil, Vers 1 bis 9, wird das erwachen der Großstadt beschrieben. Zuerst wird beschrieben wie „[e]in starker Wind […] empor“ (V. 1) springt. Dieser öffnet „des eisernen Himmels blutende Tore“ (V. 2). Hier wird beschrieben, wie der Wind die graue, hier als eisernes Tor beschrieben, Wolkendecke öffnet und die Sonne hervorkommt (vgl. V. 2). Dieser Wind „[s]chlägt an die Türme“ (V. 3), der Stadt. Er erzeugt ein „hellklingend[es] laut[es] und geschmeidig[es]“ Geräusch. Darauf folgt eine genauere Beschreibung der Stadt. Die Alliteration1 „[a]uf Dämmen donnern Züge“ (V. 5), verdeutlicht die Lautstärke, die schon früh am Morgen in der Stadt herrscht. „Durch [die] Wolken pflügen Engelspflüge“ (V. 6.). Der Neologismus2 „Engelspflüge“, klingt so ähnlich wie das Wort Engelsflügel. Er beschreibt wie der „Starke[…] Wind über der bleichen Stadt“ (V. 7), die Wolken mit engelsflügelgleicher Leichtigkeit „pflügt“, d.h auflockert bzw. durcheinanderbringt. Die Farbsymbolik von „gold[nen]“ und bleich, zeigt den krassen Unterschied zwischen Himmel und Stadt.
In Vers 10 wird das „erwachen [der Dampfer und Kräne] am schmutzig fließenden Strom beschrieben“. Diese Personifikation3 beschreibt, dass hinter den Dampfer und Kränen, die früh am Morgen zu arbeiten beginnen, Menschen stehen die diese bedienen, von der Allgemeinheit aber nicht als solche wahrgenommen werden. Dies verdeutlicht die Unwichtigkeit und Mechanisierung des Menschen innerhalb des Systems der Industrialisierung. Der Fluss wird als „schmutzig fließende® Strom beschrieben“ (V. 8). Des Weiteren wird beschrieben wie die „Glocken [verdrossen am verwitterten Dom] klopfen“ (V. 9). Beide Verse beschreiben die negativen Auswirkungen der Industrialisierung. Dies wird vor allem durch negativ konnotierte Wörter wie „schmutzig“ (V. 8) und „verwittert“ (V. 9). In Vers 8 wird die Zerstörung und Verschandlung der Natur zugunsten der Industrialisierung beschrieben, in Vers 9 stellt das lyrische Ich die Abwendung oder Vernachlässigung des Glaubens dar. Dies wird vor allem durch das Adjektiv „verdrossen“ verdeutlicht. Die Kirchenglocken läuten zwar, rücken aber vermehrt in den Hintergrund. Im zweiten Teil wird das Leben und die Mechanisierung der Menschen beschrieben, hier am Beispiel der „Weiber“ und „Mädchen“ (V. 10). Diese gehen zur Arbeit. Sie werden als „[w]ild von der Nacht“ und mit „weh[enden] Röcke[n]“ (V. 11), dargestellt. Diese Beschreibung lässt auf Prostitution schließen. Auffällig ist hier, dass die Frauen zur Arbeit gehen, nicht aber die Männer. Dies steht wider die zur Zeit vorherrschenden Vorstellungen einer Familie. Die Abneigung gegen diese Zustände wird durch die Beschreibung „[i]m bleichen Licht“ (V. 11), verdeutlicht. Das Fehlen der männlichen Arbeiter könnte auf die Entstehungszeit des Gedichts zurückzuführen sein. Das Gedicht entstand vermutlich kurz nach, oder während des ersten Weltkrieges. Entstand es während des ersten Weltkrieges, waren die Männer im Krieg, verwundet oder untauglich. Nach dem ersten Weltkrieg, waren viele Männer Tod oder verwundet, auch dies deckt sich mit der gegebenen Beschreibung. In Vers 12 werden die Glieder der Frauen als, „zur Liebe geschaffen“ (V. 12) dargestellt. Diese im vorherigen Vers beschriebenen Glieder werden nun, in Vers 13 als Maschine dargestellt, die mürrische[…] Müh[en] vollführt. Der Autor beschreibt die Mechanisierung, vor allem die der Frau als extrem negativ, dies wird durch negativ konnotierte Wörter wie „bleich“, „wild“ oder „mürrischem Mühn“, verdeutlicht.
Im letzten Teil des Gedichtes appelliert das lyrische Ich an den Leser. Dies wird durch die Imperative „Sieh[...]“ und „Horch!“ (V. 14&V. 16) deutlich. Das lyrische Ich fordert den Leser auf, sich der Mechanisierung des Menschen abzuwenden und der Natur zuzuwenden. Die Beschreibung der Vögel, welche auf den Feldern „schreien“ (V. 16) und „singen“ (V. 18), steht in starken Kontrast zum Lärm der Stadt. In der Stadt dominieren negativ konnotierte Worte wie „stark“, „blutend“, „laut“, „donnern“, „bleich“ und „schmutzig“, während die Beschreibung der Natur sehr positiv behaftet ist. In diesem Teil des Gedichtes dominieren Worte wie „zärtlich[...]“ und „singen“ und auch die Farbsymbolik steht in starkem Kontrast zu den vorherigen Teilen. Dominieren dort Farben wie rot (vgl. „blutende Tore“) und grau, dominiert im letzten Teil ein „zärtliches Grün“ (V. 15). Die Farbe Grün beschreibt Hoffnung. Die Hoffnung aus Flucht aus der so grauen und leblosen Welt der Stadt. Dies lässt sich sehr gut in Verbindung mit der im letzten Teil vorkommenden Vogelmetaphorik in Verbindung bringen. Auch Vögel vermitteln Hoffnung und stehen symbolisch für Freiheit und Sorglosigkeit. Das lyrische Ich zeigt dem Leser klar und deutlich eine Fluchtmöglichkeit aus der Welt der Industrialisierung.
Das Gedicht lässt sich klar der Epoche des Expressionismus zuordnen. Der Verlust des Individuums in der Großstadt und innerhalb der Industrialisierung ist klar zu erkennen. Außerdem findet hier eine Aufgabe des traditionellen Weltbildes statt. Frauen die nach derzeitigen Weltbild nicht arbeiten sollten, sondern Zuhause sein und sich um Haushalt und Kinder kümmern, sind gezwungen sich zu prostituieren und tagsüber in einer Fabrik o.ä. zu arbeiten, obwohl ihre „Glieder zur Liebe“ und nicht zur harten oder erniedrigenden Arbeit einer Prostituierten oder einer Fabrikarbeiterin „geschaffen“ (V. 12) wurden.
Vergleich: Jakob van Hoddis: Morgens (1919) & Joseph von Eichendorff: Morgendämmerung (1837)
Im folgenden werde Ich das expressionistische Gedicht „Morgens“ von Jakob van Hoddis aus dem Jahre 1919, mit dem romantischen Gedicht „Morgendämmerung“ von Joseph von Eichendorff, welches 1837 veröffentlicht wurde, vergleichen.
Das Gedicht „Morgendämmerung“ von Eichendorff, thematisiert die Natur als Symbol oder Raum für Sehnsucht. Im Gegensatz zu Morgens von Hoddis, hat das Gedicht Morgendämmerung ein festes Reimschema. Das Gedicht entspricht der typischen Sonettform. In den beiden Quartetten liegt ein umarmender Reim vor, in den Terzetten wird dieser leicht abgewandelt. Bei Jakob van Hoddis liegt kein eindeutiges Reimschema vor, nur einige Verse reimen sich an manchen Stellen.
In beiden Gedichten wird der Beginn eines neuen Tages dargestellt, jedoch ist dieser in beiden Gedichten anders konnotiert. Im expressionistischen Gedicht wird der Beginn des Tages mit sehr negativ konnotierten Wörtern beschrieben. Wörter wie „rußig“, „donnern“, „schmutzig“, „bleich[...]“, zeigen die Lautstärke und Hässlichkeit des Morgens. Die Nacht stellt eine sehr kurze Zeit der Stille dar, welche mehr für Maschine als für Mensch gilt, die Dampfer und Kräne erwachen, während die Frauen und Mädchen noch „wild von der Nacht sind“. Für sie ist die Nacht in keinem Fall ausruhend, da sie nach ihrer Schicht noch als Prostituierte arbeiten müssen.
Im romantischen Gedicht „Morgendämmerung“ von Joseph von Eichendorff ist dies anders. Hier sehnen sich Mensch, Tier und sogar Pflanzenwelt nach dem Sonnenaufgang. Dies wird vor allem durch die Beschreibungen „Es ist ein still Erwarten in den Bäumen“ (Morgendämmerung V. 1), „Die Nachtigallen in den Büschen schlagen / In irren Klagen, können‘s doch nicht sagen“ (Morgendämmerung V. 2f.), „Die Lerche […] Schwingt sich vom Tal, eh‘s noch beginnt zu tagen, / Im ersten Strahl die Flügel sich zu säumen“ (V. 5, 6f.) oder „ihr [Vögelein] und ich, [...]warten / Auf‘s frohe Licht[...]“ (12.f). Die starken Unterschiede der Beschreibung des Tages lassen sich bei Betrachtung der Epochen in Verbindung mit dem Entstehungszeitraum erklären.
Das expressionistische Gedicht „Morgens“ beschreibt den Morgen als sehr negativ. Dies liegt an der Darstellung der Großstadt, den Folgen der Industrialisierung und dem ersten Weltkrieg. Aufgrund der Industrialisierung findet eine Entmenschlichung statt, welcher Jakob van Hoddis sehr negativ Gegenübersteht. In seinem Gedicht wird beschrieben, wie das zu der Zeit vorherrschende Frauenbild durch die Industrialisierung und dem ersten Weltkrieg komplett zerstört wird. Der Morgen zeigt wie sich jeden Tag dasselbe Schauspiel wiederholt. Dieser Tristesse steht der Autor ebenfalls extrem negativ gegenüber. Für den Autor ist die einzige Fluchtmöglichkeit die Flucht in die Natur, welche auch durch die Industrialisierung in Gefahr gebracht wird.
Der Morgen im Gedicht „Morgendämmerung“ von Joseph von Eichendorff ist völlig anders konnotiert. Dies lässt sich auf die zeitlichen Umstände zurückführen. Zunächst einmal herrschten zur Zeit der Romantik andere Verhältnisse. Die meisten romantischen Autoren kamen aus reichen Verhältnissen und mussten sich keine Gedanken um ihr Auskommen machen, noch waren sie in der Industrialisierung gefangen und mussten Tag für Tag arbeiten. Jeder Tag stand für etwas neues, einen Neuanfang und nicht, wie im expressionistischen Gedicht für einen weiteren Tag in der Tristesse der Großstadt. Abschließend kann gesagt werden, dass in beiden Gedichten das Thema des „Tagesanbruchs“ eine wichtige Rolle spielt, jedoch wird dieser in den jeweiligen Gedichten völlig anders dargestellt.