Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das expressionistische Gedicht „Morgens“, welches von Jakob van Hoddis verfasst worden ist und im Jahre 1919 erschien, handelt von einer Großstadt, die im Morgen dargestellt wird und eng an Naturelemente geknüpft ist.
Formal besteht das Gedicht aus lediglich einer Strophe mit 24 Versen. Das Gedicht ist größtenteils reimlos, da es nur einzelne Reime aufweist, jedoch keine Regelmäßigkeit bezüglich des Reimschemas aufweist. Das Metrum1 ist der Daktylus.
Zu Beginn des Gedichtes wird die Szenerie eindrucksvoll beschrieben, indem der Autor die Ausgangssituation, welche den Morgen darstellt, beschreibt. Dabei geht er nicht nur auf das äußere Erscheinungsbild der Stadt und Natur ein, sondern im Verlauf des Gedichts auf die Menschen (Weiber und Mädchen) und zuletzt auf andere Geschöpfe, hier Vögel (Spatzen und Lerchen).
Auffällig ist, dass der erste Vers im Präteritum verfasst ist. Hierbei wird ein starker Wind, der empor sprang (vgl. V. 1) beschrieben. In Kombination mit der dabei erfolgten Personifizierung des Windes (V. 1) entsteht ein eindrucksvolles Bild der Naturgewalt, welches durch das Adjektiv „stark“ gestützt wird.
Im Folgenden wendet van Hoddis ausschließlich das Präsens als Tempus an. Der starke Wind dient als „Schlüssel“ zum eisernen Himmel (vgl. V. 2). Die Metapher2 „öffnet des eisernen Himmels blutende Tore“ (V. 2) steht für den morgendlichen Regen, der durch die Morgendämmerung rötlich erscheint, und mit Blut umschrieben wird. Somit entsteht zu anfangs ein leicht negativ geprägtes Bild der Szenerie, was durch Adjektive wie stark, eisern, blutend, Verben wie springen und schlagen, sowie die damit entstandene Bildlichkeit zum Ausdruck gebracht wird. Diese Gewaltigkeit wird durch das Tempus unterstützt, da sich der Leser somit in jenem Augenblick in der Szenerie befindet. Gleichzeitig wird der Wind als etwas Majestätisches beschrieben, was durch die Wortwahl „Hellklingend laut geschmeidig“ (V. 4) deutlich wird. Das Bild der Stadt erscheint hierbei eher negativ, da sie sich in einem invariantem Zustand befindet, letzteres ausgedrückt durch die „eherne Ebene der Stadt“ (V. 4 ff.).
Im Gegensatz dazu steht die sehr dynamische und einnehmende Natur. Dieses Bild wird weiter fortgeführt, indem die Morgensonne als „rußig“ (V. 6) beschrieben wird, und die Farbsymbolik der Farbe Schwarz negativ konnotiert ist. Durch die donnernden Züge (vgl. V. 6 ff.) entsteht ein eher unangenehmer Höreindruck der Stadt. Die Eisenbahnen spielen auf den ersten Weltkrieg an, weil sie in diesem eine zentrale Rolle gespielt haben, wie auch auf einer der Errungenschaften der Menschheit, die während der Industrialisierung eine ebenfalls sehr globale und präsente Rolle einnahm. Die personifizierten Wolken, die die goldenen Engelpflüge pflügen (V. 8), erzeugen beim Lesen eine gewisse Bildlichkeit, die die verschwommenen Grenzen von Natur und Stadt bzw. Industrialisierung verdeutlicht. Durch den Neologismus3 „Engelpflüge“ (ebd.) wird eine trotzdem herrschende gewisse Hoffnung angedeutet. Der starke Wind wird erneut aufgegriffen.
Die bildliche Vorstellung der bleichen Stadt (vgl. V. 9) konträr zum starken Wind, lässt die Naturgewalt als eher überlegen da stehen. Die durch Industrialisierung geprägte Landschaft wird durch die Dampfer und Kräne (vgl. V. 10) noch weiter ausgeweitet. Durch die Verwendung des Adjektivs „schmutzig“ (V. 10) erscheint ein hässliches Bild der Stadt. Die Dynamik wird durch die Personifikation4 (V. 11) und den fließenden Strom (vgl. V. 11) unterstrichen. Durch die Verwendung des Verbs erwachen wird deutlich, dass morgens Stadt mit ihren Bewohnern erwacht und ihrem Alltag nachgeht. Das negative Bild der Stadt wird durch die Personifikation (V. 12) der verdrossen klopfenden Glocken besonders deutlich. Durch diese Wortwahl wird die lustlose und missmutige Stimmung stark hervorgehoben.
Interessant ist hierbei, dass zunächst lediglich nur die Stadt beschrieben und personifiziert wird, nicht aber ihre Einwohner. Im folgendem bezieht sich der Autor erstmals auf die Einwohner der Stadt, wobei er hier nur auf die vielen Weiber und Mädchen, die zur Arbeit gehen (vgl. V. 14 ff.) bezieht. Durch die Vielzahl der Weiber und Mädchen, sowie das Fehlen genauerer Beschreibungen werden die Menschen stark anonymisiert und sogar entmenschlicht, was besonders dadurch deutlich wird, dass die vorherigen Verse konträr zu dem stehen, weil die Stadt und Natur hier personifiziert wurde. Auch diese Gedichtpassage spielt auf einen Krieg an, da nur von weiblichen Wesen und nicht Männern gesprochen wird, was man so verstehen könnte, dass Frauen aufgrund der Männer, die an der Front kämpften, früh mit der Arbeit in Fabriken begannen. Dies geht nicht nur mit der Kriegssituation einher, sondern eben auch mit der Industrialisierung, die immer weiter voran schreitet.
Die Weiber, was ein abwertender umgangssprachlicher Begriff für eine Frau ist, sind wild von der Nacht (vgl. V. 16), was eine dezente Andeutung auf Prostitution ist. Die Situation der wehenden Röcke (vgl. V. 17) wirkt leicht anstößig wirkt. Die Andeutungen auf Prostitution werden im folgenden Vers mit der Formulierung „Glieder zur Liebe geschaffen“ (V. 18) deutlicher. Da Prostitution besonders während des ersten Weltkrieges weit verbreitet war, so scheinen diese Umstände sehr realistisch.
Die Atmosphäre spitzt sich weiter zu, da nicht nur zur Arbeit gegangen wird, sondern hin „zur Maschine und mürrischen Mühn“ (V. 19). Die industrialisierte Fabrikarbeit bekommt durch das Adjektiv „mürrisch“ einen stark negativ konnotierten Kontext. Besonders die Alliteration5 (ebd.) verdeutlicht die in der Fabrik wartende Monotonie. Somit wird die Industrialisierung als Gefährdung des Individuums gesehen.
Zwischen dem 19. und 20. Vers findet ein Stimmungswechsel statt, während die Atmosphäre zuvor eher negativ geprägt war, so wirken die folgenden Verse künstlich gesüßelt. Mit dem Imperativ „Sieh“ (V. 20) wird der Leser direkt ins Geschehen gezogen, wobei das Licht als „zärtlich“ (ebd.) bezeichnet wird. Auch im folgenden Vers wird das Grün der Bäume durch das stark positiv assoziierte Adjektiv „zärtlich“ beschrieben (V. 21). Dies steht stark im Kontrast zu den vorherigen Versen, in denen Adjektive wie bleich, verdrossen, verwittert oder mürrisch benutzt worden sind. Auffällig ist die leicht parallelistisch angehauchte Syntax, die die Zärtlichkeit der Natur und damit auch Schönheit unterstreichen soll.
Erneut wird der Leser mit einem Imperativ, der diesmal nicht zum Sehen animieren soll, sondern auf die auditiven Sinneseindrücke abzielt, angesprochen (V. 22). Die Spatzen schreien (vgl. V. 22), was, wenn man die Körpergröße dieser kleinen Lebewesen mit dem Lautstärkepegel ihres Gesangs vergleicht, eher antithetisch wirkt. Diese Personifikation (V. 22) bewirkt eine sehr angespannte Stimmung der Tiere und bewirkt, dass die gesamte Szene gefährlich erscheint. Doch draußen auf wilderen Feldern singen Lerchen (vgl. V. 23 ff.), was die Ernsthaftigkeit mildert, da die Natur insgesamt eine sehr friedvolle Erscheinung annimmt. Durch den Stimmungswechsel wirkt die Situation, die zuvor negativ beschrieben war, noch hoffnungsvoll und nicht verloren. Auffällig ist die gehäufte Verwendung von Adjektiven, die die Szenerie eindrucksvoll unterstreichen. Auch die zwei verschiedenen semantischen Felder, welche sich in Natur und Stadt unterteilen lassen, sind besonders auffällig.
Das Gedicht weist viele epochenspezifische Merkmale auf. So ist das zentrale Thema das Leben in der Großstadt und die fortschreitende Industrialisierung, was häufig verwendete expressionistische Motive sind. Auch der negative Beiklang dieser geschilderten Situation ist typisch. Ein weiteres Merkmal ist die Anonymisierung der Menschen und die gleichzeitige Vermenschlichung der Stadt, die eindrucksvolle Dimensionen annimmt.
Abschließend lässt sich festhalten, dass das Gedicht durch die vielen sprachlichen Bilder und die Verwendung der gehäuften Adjektive auffällt. Durch die erzeugte Stimmung und die sprachliche Gestaltung spiegelt das expressionistische Gedicht das zeitgemäße Lebensgefühl des Autors und vieler weiterer Expressionisten angemessen wieder. Die Intention van Hoddis ist es, auf mögliche Gefahren und negative Aspekte der Industrialisierung hinzuweisen.