Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Punkt“ von Alfred Lichtenstein erschien 1913 und besteht aus 2 Strophen zu je 4 Versen, verfasst in einem umarmenden Reim (abba). Thematisch befasst sich dieses Werk mit der Großstadt und der Ich-Dissoziation1.
Die ersten beide Verse stehen antithetisch zueinander. Das lyrische Ich beschreibt im ersten Vers den Stadtverkehr, welcher „wüst“ und „lichterloh“ ist. Dem gegenüber steht das Ich im zweiten Vers mit „erloschenem“ Kopf. Der Verkehr ist hektisch und lebhaft, während der Ich-Sprecher lediglich Leere empfindet. Der Verkehr zieht durch den Kopf des Sprechers und verursacht Schmerzen. Diese Metapher2 deutet darauf hin, dass das der Straßenverkehr für das Ich Schnelllebigkeit, Vergänglichkeit und Gefahr symbolisiert und die Welt an dem Ich vorbeizieht. Der Sprecher kann sich mit diesem hektische Stadtleben nicht identifizieren und fühlt sich bedroht. Folglich erscheint das Ich sehr alleine und teilnahmslos, was der Sprecher mit seinem Schmerz artikuliert.
Das Motiv der Vergänglichkeit und der inneren Sinnkrise des lyrischen Ichs wird im dritten Vers nochmal unterstrichen. Das Ich leidet offenbar derartig an Schwermut und Isolation, dass es bereits sein kurz bevorstehendes Ende herannahen sieht. Fortgeführt wird dieser „Weltschmerz“ im vierten Vers. In diesem letzten Vers der ersten Strophe wird auch deutlich, dass das Ich aus sich selbst heraus destruktiv ist und nicht nur durch äußere Einflüsse zerstört wird. Man spricht hier auch von einer Ich-Dissoziation, bzw. einem Ich-Zerfall oder Ich-Verlust.
Die zweite Strophe beginnt ähnlich gegliedert wie die erste: Zunächst wird in den ersten beiden Versen ein typischer Teil der Großstadt beschrieben, während sich die darauf folgenden Verse mit der Wirkung auf das lyrische Ich befassen. In der ersten Strophe beschrieb der erste Vers den „wüsten“ Straßenverkehr, in der zweiten Strophe beginnt der Sprecher mit der Schilderung des Laternenscheins.
Der Sprecher beschreibt die Laternen der Großstadt als „Giftlaternen“, welche die Nacht „kriechend“ mit grünem Dreck beschmiert. Laternen waren eine recht neuartige Erfindung zur Zeit der Spätindustrialisierung, welche zunächst nur in den Großstädten Einzug hielt. Der Sprecher steht dieser neuen, noch ungewohnten Erfindung noch mit Aversionen gegenüber. Das künstliche Licht der Laternen wird als giftig und unnatürlich empfunden, ihr Schein lässt die Nacht „verschimmelt“ aussehen. Das Adjektiv „grün“ aus dem 6.Vers korreliert dabei gut mit dem Nomen „Gift“ aus dem 5.Vers, da die Farbe Grün häufig mit Gift assoziiert wird und beide Verse durch einen Enjambement3 ineinander übergehen. Auffällig ist, dass die Nacht, die das lyrische Ich beschreibt, durch seine Verschimmelung ungewohnt „organisch“ zu werden scheint. Die Nacht wird aktiv und bedrohlich, die Giftlaterne wird durch das Verb „kriechend“ zur Personifikation4.
In den letzten beiden Versen kehrt das lyrische Ich wieder in sich. Es wird von Kälte umfangen und das Herz mit einem Sack verglichen (V. 7). Zum Abschluss erfährt der Sprecher seine persönliche Apokalypse. Interessant ist hieran, dass Alfred Lichtenstein hier das traditionelle Subjekt-Objekt-Verhältnis umdreht. Denn sicherlich ist es nicht die Welt, die einstürzt, sondern das lyrische Ich selbst. Diese Technik, die dem Leser dieses Gedicht teilweise grotesk5, surreal und verworren erscheinen lässt, wird häufiger von Alfred Lichtenstein verwendet, z. B. in „Die Stadt“ oder „Die Dämmerung“.
In diesem Gedicht lassen sich zwei typisch expressionistische Themen erkennen, zum einen wird das Thema Großstadt sehr häufig von den Expressionisten behandelt, zum anderen jedoch ist der Expressionismus auch dafür bekannt, dass es auf das lyrische Ich fixiert ist und das dessen subjektive Eindrücke geschildert werden. Speziell ist hierbei die bereits angesprochene Ich-Dissoziation, welche man auch Ich-Zerfall oder Ich-Verlust bezeichnet, hervorzuheben. Das lyrische Ich tritt in diesem Gedicht in eine passive Rolle, es ist nicht mehr autonom6 handeln, sondern wird Opfer einer übermächtigen Umwelt, die den Sprecher überwältigt. Es kann der Schnelllebigkeit des Straßenverkehrs nicht folgen, bleibt alleine und isoliert, hat Angst vor Veränderungen, wie der Einführung der Laterne, fühlt sich von seiner Umwelt bedroht und verfällt demnach in einen depressiven Zustand. Zum Schluss sind diese seelischen Schmerzen so groß, dass die Welt für das Ich zusammenfällt. Ob die Welt für das Ich im übertragenen Sinne zusammenfällt, oder das Ich gar Suizid oder ähnliches begeht, bleibt für den Leser offen.
Alfred Lichtenstein selbst war übrigens hingegen der gängigen Annahme, dass viele Expressionisten unter Depressionen litten, kein schwermütiger Mensch. Die These, dass der Autor von „Punkt“ mit dem Sprecher gleichzusetzen sei, liegt also fern. Alfred Lichtenstein und das lyrische Ich stehen in Distanz zueinander.