Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
„Die Dämmerung“ (1913) ist wahrscheinlich das berühmteste Gedicht von Alfred Lichtenstein. Es besteht aus drei Strophen mit je vier Versen und einem Wechselreim (abab).
Das lyrische Ich beschreibt in diesem Gedicht, was es zur Abenddämmerung in seiner Umgebung beobachten kann, z. B. einen Jungen der am Teich spielt (V. 1), den weißblauen Himmel (V. 3f), zwei Gehbehindert, die über ein Acker spazieren (V. 5f) oder eine Frau, die mit einem Pferd zusammenstößt (V. 8). Das Gedicht scheint keine Pointe zu haben oder etwas, dass man umgangsprachlich den „tieferen Sinn“ nennt. Dennoch hat es dieses Werk zu einiger Berühmtheit gebracht. Der Grund dafür ist, dass man an diesem Gedicht zum einen den typisch expressionistischen „Zeilen-“ und „Reihungsstil1“ erkennen kann. Reihungsstil bedeutet, dass es in diesem Gedicht eine Aneinanderreihung von kurzen prägnanten Sätzen gibt. Immer ein oder zwei Sätzen bilden zusammen eine logische Einheit. Diese Einheiten sind fast beliebig vertauschbar, ohne dass der Kontext wirklich verändert würde. Ganz radikal gesprochen: Man könnte das Gedicht auch andersrum lesen, es wäre immer noch genauso sinnvoll oder auch sinnlos.
Da alle diese Sinneinheiten autark sind und keine engere Verbindung mit den anderen Einheiten haben, wirkt für den Leser dass Gedicht „Die Dämmerung“ von Lichtenstein irgendwie wirr und zusammenhanglos.
Alfred Lichtenstein hat sich im wesentlichen von Jakob van Hoddis inspirieren lassen, ebenfalls ein expressionistischer Lyriker. Von van Hoddis stammt das sehr bekannte Gedicht „Weltende“, auch hier kann man den Reihungs- und Zeilenstil2 sehen. Würde man abschätzig über Lichtenstein reden wollen, so könnte man sein Werk auch als Plagiat3 oder Epigone4 bezichtigen.
Darüber hinaus fällt auf, dass sich die Beschreibung des Sprechers zur Eintönigkeit tendieren. Das hängt mit den zahlreichen Parallelismus zusammen, denn viele Verse haben den gleichen grammatikalischen Aufbau; aber auch die ständigen Wiederholungen von Wörtern (Anaphern5), wie z. B. das Wort „Ein“, welches am Anfang von Vers 1, V. 7, V. 8, V. 10, V. 11 und V. 12 auftaucht, unterstützen diesen Eindruck.
Dass uns das Werk als Leser sehr befremdlich erscheint, hängt aber nicht nur mit dem Zeilen- oder Reihungsstil zusammen, sondern auch mit den grotesken und surrealen Beschreibungen des Sprechers. Lichtenstein macht sich dazu verschiedene Techniken zu nutze. Zum Beispiel der Personifizierung (V. 2, V. 3f, V. 12), den obskuren Protagonisten, die in seinem Werk erscheinen (V. 7: „Dichter“, V. 11: „Clown“), den befremdlichen oder deplatzierten Adjektiven (V. 3: „Der Himmel sieht verbummelt aus“, V. 7: „Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt“ - Was für eine Rolle spielt die Haarfarbe des Dichters in diesem Vers?), der Auflösung von Zeit und Raum (V. 1: „Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.“ - Hier würde man eine lokale Präposition wie „spielt an einem Teich“ oder „spielt in einem Teich“ erwarten, stattdessen wird die modale Präposition „mit einem Teich“ benutzt) oder dem spielerischen Umgang und der Vertauschung von Subjekt und Objekt (V. 8: Für gewöhnlich würde man den Menschen als Subjekt nehmen, welches mit etwas zusammenprallt, nämlich dem Pferd).
Mit seinen surrealen Beschreibung ist Lichtenstein geradezu visionär und fortschrittlich, denn ungefähr im Jahre 1917-1945 gab es tatsächlich ein Kunst- und Literaturrichtung, die sich „Surrealismus“ nannte. Im Surrealismus geht es um die Verschmelzung, die Durchdringung und die Auflösung der Grenzen von Realität und Traum, „sur-realistisch“ (überrealistisch) eben.
Dass Lichtensteins Gedicht sich ein wenig zwischen diesen beiden Zuständen befindet, kann man vielleicht auch schon am Titel ablesen: „Die Dämmerung“. Die Dämmerung ist der Übergang von Tag zur Nacht, also eine Zwischenebene, genauso wie der Surrealismus zwischen Traum und Realität liegt. Die Dämmerung verwirrt die Sinne des Beobachters, Erscheinungen werden undeutlich und regen zur Fantasie an.
Lichtenstein selbst hat versucht sein Gedicht zu interpretieren und geschrieben, dass es ihm bei seinem Werk darum gegangen sei, die Dinge unmittelbar zu beschreiben, ohne überflüssige Reflexion. Natürlich wüsste Lichtenstein, dass z. B. nicht der Kinderwagen schreien würde (V. 12), sondern das Kind darin, aber dass zu schreiben wäre eine Reflexion zuviel. Der Sprecher des Gedichtes verknüpft nur das Offensichtliche; er sieht einen Kinderwagen und hört das Geschrei, er zieht daraus den Schluss, dass der Kinderwagen schreit. Diese Art der Beschreibung wirkt für uns Leser fast schon etwas kindlich und naiv.
Zu Lichtenstein ist des weiteren noch zu sagen, dass er anders als andere expressionistische Literaten, nicht von Schwermut und Depression begleitet wurde, wie z. B. Trakl, Wolfenstein oder Heym. Lichtenstein war auch kein Nihilist7 oder Zyniker8 wie Benn. Daher können wir auch in diesem Gedicht keine negative Stimmung oder ähnliches ausmachen; keines der typischen expressionistischen Themen (Großstadt, Abscheu vor dem Menschen, Zivilisationskritik, Weltuntergang etc.) trifft hier zu.
Ergänzend zu dieser Interpretation füge ich noch die Selbstkritik (1913) von Alfred Lichtenstein hinzu:
„Absicht ist, die Unterschiede der Zeit und des Raumes zugunsten der Idee zu beseitigen. Das Gedicht will die Einwirkung der Dämmerung auf die Landschaft darstellen. In diesem Fall ist die Einheit der Zeit bis zu einem gewissen Grade notwendig. Die Einheit des Raumes ist nicht erforderlich, deshalb nicht beachtet. In den zwölf Zeilen ist die Dämmerung am Teich, am Baum, am Feld, am Fenster, irgendwo … in ihrer Einwirkung auf die Erscheinung eines Jungen, eines Windes, eines Himmels, zweier Lahmer, eines Dichters, eines Pferdes, einer Dame, eines Mannes, eines Jünglings, eines Weibes, eines Clowns, eines Kinderwagens, einiger Hunde, bildhaft dargestellt. (Der Ausdruck ist schlecht, aber ich finde keinen besseren.)“