Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
„Kleine Aster“ von Gottfried erschien 1912 zusammen mit 5 weiteren Gedichten unter dem Gedichtzyklus „Morgue“. Morgue bedeutet Leichenschauhaus, genauer gesagt ist Morgue das pariser Leichenschauhaus, in dem Benn arbeitete. Diese Arbeit am Seziertisch hat Benn zum Gegenstand seiner Dichtung in Morgue gemacht. Dabei beschreibt Benn seine pathologischen Erfahrungen mit einer erschreckende Routiniertheit, Brutalität, Unterkühltheit und Gleichgültigkeit gegenüber seinen menschlichen „Sezierobjekten“. Das hat zur Folge, dass Benn damals wie heute skandalträchtig ist und von vielen als empörend und geschmacklos empfunden wird. Gottfried Benn hält sich fern von jeglicher Schöngeistigkeit, er ästhetisiert nicht den Tod, er beschreibt ihn nicht als friedlich und erlösend, sondern Benn ästhetisiert das Hässliche und „entwürdigt“ den Leichnam regelrecht. Benn bricht damit das Tabu der zeitgenössischen Wertvorstellungen, wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde und erzeugt Abscheu vor dem Menschen.
Das Gedicht besteht aus einer 3-versigen und einer 12-versigen Strophe. Es gibt kein Reimschema und auch kein festes Metrum1. Das Gedicht ist sehr einfach gehalten.
Der Sprecher beschreibt die Leichenöffnung eines „ersoffenen Bierfahrers“; der Tote ist also ertrunken (V. 1). Dadurch dass der Leichnam auf den Tisch „gestemmt“ wird, lässt sich wohl erahnen, dass der Tote sehr korpulent gewesen sein muss oder aber auch, dass die Obduktionsassistenten kein Feingefühl für den Toten haben. Zwischen die Zähne hat man dem Toten eine „dunkelhellila Aster“ geklemmt, „dunkelhellila“ ist jedoch ein Paradoxon2.
In der zweiten Strophe beginnt Benn mit der sehr detaillierten Sezierung des Bierfahrers. Der Sprecher hat die Brust der Leiche geöffnet und schneidet Gaumen und Zunge mit einem „langen Messer“ heraus (V. 4ff). Die Aster rutscht ihm dabei in das „nebenliegende Gehirn“ (V. 9f), er holt es raus und „packt sie ihm in die Brusthöhle“ (V. 11). Damit ist die Obduktion beendet, die Aster wird zusammen mit den Bauch des Toten zugenäht. Der Sprecher wünscht der kleinen Aster schließlich sanfte Ruhe (V. 15f).
Benn war als Zyniker3, Materialist4 und Nihilist5 bekannt. All diese Charaktereigenschaften lassen sich in „Kleine Aster“ mit einer bedrückenden Klarheit und der formalen sowie stilistischen Einfachheit, in der das geschrieben Gedicht wurde, genaustens erkennen. Wenn wir uns als Vergleich „Schöne Jugend“, ein weiteres Gedicht der Morgue-Reihe, heranziehen, dann lassen sich überraschend viele Parallelen erkennen:
1.Beide Werke handeln von der Obduktion einer Wasserleiche. Der Tod ist das zentrale Thema.
2.Auch in „Schöne Jugend“ ist eine „Duplizität des Schicksals“ zu erkennen. In „Schöne Jugend“ wird ein ertrunkenes Mädchen obduziert. In dem Leichnam wird ein Nest von jungen Ratten gefunden, welche ins Wasser geworfen werden und dadurch ebenfalls ertrinken. Das ertrunkene Mädchen und die Ratten erleiden damit dasselbe Schicksal.
In „Kleine Aster“ stopft der Sprecher die Holzwolle in die Bauchhöhle des ertrunkenen Bierfahrers. Die Holzwolle saugt sich dadurch mit Wasser voll und die kleine Aster hat damit eine „Vase“. Dadurch dass der Bauch allerdings zugenäht wird, wird die Aster ebenfalls ersticken, ihr Tod ist nur hinausgezögert. Bierfahrer und Aster müssen auch hier das gleich Schicksal teilen.
2.Beide Leichen werden nur von einer pathologisch-wissenschaftlichen Seite betrachtet. Die Persönlichkeit der beiden Leichen bleibt den Lesern in den beiden Gedichten weitestgehend unbekannt. Es ist lediglich bekannt, dass es sich in „Schöne Jugend“ um ein junges Mädchen handelt und in „Kleine Aster“ um einen Bierfahrer. Damit bleiben beide anonym.
3.Nicht die Wasserleichen sind in den beiden Gedichten die Hauptprotagonisten, sondern die Aster und die Ratten.
4.Der Mensch wird „entindividualisiert“. Beide Leichen werden bis auf den Einleitungsvers nie im Ganzen betrachtet, sondern stets nur in Teilen, wie Gaumen, Zunge, Hirn, Speiseröhre, Zwerchfell, Niere etc. (Metonymie6). Benn geht sogar so weit, dass er den Menschen in „Schöne Jugend“ als Rattenbehausung und in „Kleine Aster“ als Vase für die Aster degradiert.
Der Sprecher zeigt keine Sentimentalität gegenüber den Toten. Nur die Ratten und die Aster scheinen dem Sprecher gewisse Gefühlsregungen entlocken zu können. So verniedlicht er die Aster mit dem Adjektiv „klein“ und versucht ihren Tod hinauszuzögern, obwohl sie durch die Trennung von der Wurzel beim pflücken bereits keine Überlebenschance mehr hat.
5.Beide Gedichte sind formal und stilistisch sehr klar und einfach geschrieben. Die Verständlichkeit des Inhalts steht über der künstlerischen Leistung.
6.Benns Hang zur Morbidität7, zum Zynismus und Sadismus8 sind sehr deutlich erkennbar. Der Sprecher beschreibt die Sezierung jedoch sehr genau und durchaus realistisch.
Benn hat sich mit dem Gedichtband „Morgue“ auf die von den Expressionisten bevorzugt negativen Thematiken spezialisiert, nämlich den Tod, der Ästhetik des Hässlichen, Verfall und Hoffnungslosigkeit. Einzig die ungebundene und freie Form dieses Gedichtes scheint nicht besonders expressionistisch zu sein, da der Expressionismus häufig versuchte, den turbulenten Inhalt durch eine fest Form mit festem Reimschema und Metrum zu „bändigen“.
Benns Wasserleichen-Gedichte sind eine Reaktion auf das Bühnenstück „Hamlet“ von William Shakespeare. Die Figur „Ophelia“ aus diesem Stück wählt für ihren Freitod den Gang ins Wasser. Mehr dazu ist in der Gedichtinterpretation zu „Schöne Jugend“ zu finden.