Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
„Umbra Vitae“ (Schatten des Lebens) war ursprünglich wohl als Titel für das uns hier vorliegende Gedicht geplant. Heym ertrank jedoch beim Schlittschuhfahren auf der Havel1, als er einem Freund, der im Eis eingebrochen war, helfen wollte. So blieb das Gedicht zunächst titellos. Freunde Heyms haben sehr schnell nach seinem Tod einen Gedichtband mit 43 Werken veröffentlicht und mit „Umbra Vitae“ betitelt. Auf den Klappentext dieses Gedichtbandes ist die erste Strophe des Gedichtes „Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen“ abgedruckt.
Dass der komplette Gedichtband im Zeichen dieses Gedichtes steht, zeigt uns, wie typisch dieses Werk für Heyms komplettes expressionistisches Schaffen ist.
Es herrscht also ein wenig Verwirrung darüber, ob wir dieses Gedicht „Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen“ nennen, oder „Umbrae Vitae“. „Umbrae Vitae“ war der vermeintlich Titel, den Heym seinen Gedicht ursprünglich geben wollte, da es aber durch seinen Tod titellos blieb, haben seine Freunde den ersten Vers des Gedichtes als Titel hergenommen, nämlich „Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen“. „Umbrae Vitae“ ist also der inoffizielle Titel des Gedichtes und der offizielle Titel von Heyms Gedichtband.
So viel zur Klärung der verschiedenen Gedichttitel. Nun zum historischen Hintergrund.
Nach 1835 entdeckte man 1910 erneut den Halleyschen Kometen. Der Halleysche Komet ist einer der bekanntes und hellsten Schweifsterne und versetzte die Menschen damals aufgrund seiner Größe in eine Endzeitstimmung, da man einen Aufprall mit der Erde befürchtete. Die Menschen malten sich Schreckensszenarien über das Hereinbrechen des „Jüngsten Gerichts“ aus (vielleicht in etwa vergleichbar mit der Panik bei der Jahrtausendwende im Jahr 1999). Der Komet wurde auch häufig als schlechtes Vorzeichen gedeutet und in Verbindung mit schlechten Ereignissen wie z. B. die I. und II.Marokkokrise, den Balkan-Konflikt oder dem verheerenden Erdbeben in San Francisco, gebracht.
Heym verabeitete 1910 die Ängste seiner Zeitgenossen im Gedicht „Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen“. Parallel dazu lässt sich auch sehr gut das Gedicht „Weltende“ von Jakob van Hoddis heranziehen. Van Hoddis thematisiert in seinem Gedicht ebenfalls die apokalyptische Endzeitung Stimmung der damaligen Gesellschaft, jedoch verspottet er sie regelrecht. Heym hingegen kritisiert die Panik seiner Mitmenschen auf eine etwas latentere, Weise.
Äußerlich ist das Gedicht „Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen“ in ursprünglich 11 Strophen mit jeweils 4 Versen aufteilt, es besteht daher insgesamt 44 Verse. Häufig kürzt man das Gedicht allerdings um 3. und 7.Strophe. Ich werde auf diese beiden Strophen daher auch nicht eingehen. Das Metrum3 ist ein fünfhebiger Jambus (unbetont-betont), mit einem fast durchgängig reinen Kreuzreim (abab) (Ausnahme: V. 5 und 7). Heym benutzt daher einen sehr straffen und traditionellen äußeren Aufbau, abweichend davon sind lediglich eine Vielzahl von Enjambements4, zu sehen, z. B. in Vers 22, 23, 29, 31, 34, 35 und 36.
Das Gedicht beginnt mit dem Titel des Gedichtes. Die Menschen sind paralysiert von dem Anblick der fallenden Gestirne. Heym bezeichnet diese „Himmelszeichen“ als „Kometen mit Feuernasen“; diese Kometen werden somit durch den Neologismus5 „Feuernasen“ personifiziert. In der Tat bedeutet der Eintritt des Halleyschen Kometens in die Erdamosphäre, dass Reste des Staubschweifes als Meteoriten verglühen. Es entstehen dadurch eine Vielzahl von Sternschnuppen. Diese „Himmelszeichen schleichen drohend um gezackte Türme“, die Kometen werden erneut personifiziert (V. 3f). Die „gezackten Türme“ sind eine Anspielung auf die sogenannten „Zinnen“, welche an Stadtmauern und Türmen bei einem feindlichen Angriff die Verteidiger zusätzlich schützen. Hier allerdings können die Turmzinnen die Menschen nicht schützen, sie sind daher machtlos gegenüber den „drohenden Kometen“.
In der zweiten Strophe (V. 5-8) beschreibt der Beobachter, dass die Dächer mit „Sternedeuter“ übersät sind, die „große Röhren in den Himmel stecken“ (V. 5f). Es ist leicht zu erkennen, dass es sich bei dieser Metapher6 um Hobbyastronomen handelt. Bei der Wiederentdeckung des Halleyschen Kometens konnten sich plötzlich sehr viele Leute für Astronomie begeistern und verfolgten die Gestirne. Neben den Sternedeutern gibt es aber auch noch „Zauberer“, die aus den Bodenlöchern (Dachluken) wachsen und „Sterne beschwören“ (V. 7f). In der zweiten Strophe mag man einen leicht vorwurfsvollen Unterton erkennen, mit der Heym die Gesellschaft kritisiert. Denn die Menschen der damaligen Zeit hielten sich für aufgeklärt und der Mensch galt als vernunftbegabtes Wesen. Hier allerdings beginnen die Menschen aus Verzweiflung dem Aberglauben zurück zu verfallen; das ist aufgrund des technischen Fortschritts zu dieser Zeit anachronistisch und irrational zugleich.
Interessant ist aber, dass die Menschen nicht in Gottesfürchtigkeit und Frommheit verfallen um als Gläubiger von der Apokalypse verschont zu werden, wie es in der Offenbarung des Johannes niedergeschrieben ist, sondern sich der Mystik zuwenden. An Anlehnung an die Bibel bedeutet das weiteres Unheil, denn auch hier wird vor „Zauberern“ gewarnt: „Es werden falsche Propheten auftreten und werden Zeichen und Wunder tun, um die Auserwählten irrezuführen“. Die Bewohner der Stadt sind also der großen Gefahr ausgesetzt, gleichfalls mit den Zauberern mit ewiger Verdammnis bestraft zu werden.
In der vierten Strophe wird von einem Kollektiv an Selbstmördern berichtet, die orientierungslos und robotergleich durch die Gegend irren und ihr „verlornes Wesen“ suchen. Suizid ist in der Bibel eine Todsünde und bedeutet Ausschluss vom Paradies. Die vierte Strophe ist daher eine Weiterführung der zweiten Strophe, in der die Gesellschaft als degeneriert7 und verfallen dargestellt wird. Die Selbstmörder handeln auch hier irrational und realitätsfern. Durch die Endzeitstimmung bildet sich eine nicht mehr zu kontrollierende Gruppendynamik und eine Vielzahl von Menschen wählt den Freitod, noch bevor der tatsächliche Kometeneinschlag stattgefunden hat. Es ist zu diesem Zeitpunkt nicht einmal gewiss, ob die Erde tatsächlich mit dem Kometen aufschlagen wird, oder ob es gar nur bei dem oben beschriebenen Meteoritensturms des Halleyschen Kometens bleiben wird. Der Komet könnte die Erdatmosphäre schließlich auch nur streifen.
Die Selbstmörder in dieser Strophe stehen vielleicht stellvertretend für die „Entmenschlichung“ der Arbeitskräfte durch die Industrialisierung. Menschen wurden zu billigen Arbeitskräften degradiert. Ein ganz besonders negatives Beispiel dieser Industrialisierung ist der sogenannte „Manchesterkapitalismus“ am Anfang des 19. Jahrhunderts. Beim Manchesterkapitalismus wurden Arbeiter besonders rücksichtslos von den Kapitalisten ausgebeutet. Es gab eine sehr hohe Quote an Betriebsunfällen, Verstümmelungen und Deformationen. Da es keine sozialen Sicherungssysteme wie heute gab, wurden diese durch Arbeitsunfälle behinderten Menschen ihrem Schicksal überlassen und einfach durch neue Arbeitskräfte ersetzt.
Diese Arbeiter suchen nun in der vierten Strophe ihr „verlornes Wesen“ (V. 14). Da sie „gebückt“ umherirren unterstreicht, dass sie eine Last zu tragen haben. Dies könnte im übertragenen Sinne gemeint sein, es könnten sich allerdings auch um tatsächlich Rückenverformungen durch die harte Arbeit handeln. Die skurrile Metapher „Den Staub zerfegend mit den Armen-Besen“ zeigt eine eigenartige Konstruktion von Mensch-Maschine, die einerseits Arme hat, andererseits aber auch ein Werkzeug darstellt; die Menschen sind durch die erbarmungslose Industrialisierung schon längst zu Halbmaschinen herabgesetzt.
In der fünften (V. 17-20) und sechsten Strophe (V. 21-24) wird weiter auf die Selbstmörder eingegangen. Die Menschen sind bereits halbtot und verfallen (V. 17f). Plötzlich beginnt der Sprecher mit einer hektischen Zeitraffung, die Selbstmörder springen nun eilig in den Tod. Dieses „lemminghafte“ Sterben wirkt sehr grotesk8 auf den Leser. Wir interpretieren in diesen Massenselbstmord eine gewisse freudige Erwartung auf den Tod, auf der anderen Seite aber sind die Menschen identitätslos, hülsenhaft und marionettengleich.
Die Selbstmörder liegen nach ihrer Verzweiflungstat nun mit „toten Haupt im Feld“ (V. 20). Der Sprecher reduziert die Menschen auf ihren Kopf (Metonoymie).
Einen gewissen Ekel empfindet der Leser wahrscheinlich, wenn der Sprecher beschreibt, dass die Selbstmörder noch „manchmal zappeln“ (V. 21) und von „der Felder Tiere“ (hier sind sicherlich Nutztiere wie Kühe oder Ziegen gemeint) die noch lebenden Körper bedrängen und mit den Hörnern in den Bauch stoßen.
In der achten (V. 29-32) und neunten Strophe (V. 33-36) weitet sich die Apokalypse nun nicht mehr nur auf die Menschen aus, sondern auch auf die Natur. Die Umwelt ist tot, erstarren und gefroren. Die Meere und die Schiffe stehen still. Vers 29 bildet dabei ein Paradoxon9, da der Sprecher zwar schildert, dass die Meere stocken (also stillstehen), aber gleichzeitig die Schiffe in den Wogen hängen. Das Vorhandensein von Wogen impliziert jedoch Wasserbewegung.
Neben der Totenstarre von Mensch und Umwelt beschreibt der Sprecher, dass „aller Himmel Höfe verschlossen sind“ (V. 32), das heißt also, dass der Sprecher die Existenz eines Gottes zwar nicht negiert10, aber dass die Kommunikation mit Gott für den Menschen unmöglich ist oder das Gott sein Himmelsreich bewusst verschlossen hat. Dies ist ein eklatanter Widerspruch zur Offenbarung des Johannes aus der Bibel, denn die Apokalypse bedeutet in der Bibel zwar eine weitesgehende Zerstörung und Vernichtung, aber dennoch gibt es Auserwählte, die Gott in sein tausendjähriges Himmlisches Jerusalem aufnehmen wird. Die Apokalypse ist also nicht nur ein Untergang, sondern auch auf Neuanfang. Bei Heyms „Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen“ gibt es diese Hoffnung nicht, der Untergang ist determiniert und unumgänglich.
Nicht nur die Menschen werden für ewig vernichtet, sondern auch die Umwelt. Die Bäume wechseln nicht mehr die Jahreszeiten (V. 33) und „spreiten (spreizen) ihre langen hölzernen Finger-Hände über verfallene Wege“ (V. 35f). Die Bäume werden damit personifiziert, sie bekommen Hände. Analog dazu werden die Selbstmörder mit ihren „Armen-Besen“ (V. 16) teilweise depersonifiziert und entmenschlicht. Bäume und Menschen sind dadurch gleichberechtigt.
In der zehnten Strophe (V. 37-40) schrumpft die Existenz eines Menschenlebens zu einer Momentaufnahme zusammen (V. 38f: „Und eben hat er noch ein Wort gesprochen. Auf einmal ist er fort.“). Zwar versucht der Mensch sich zu wehren, wenn er den drohenden Tod zu erkennen vermag (V. 37), aber sein Aufbäumen verpufft lediglich. Sobald er sich erhebt, ist sein Leben bereits vorbei. Die Menschheit muss nicht nur durch eine Naturkatastrophe bedroht sein, wie es hier dargestellt wird, sie kann sich auch selbst zerstören (der Verfall der Gesellschaft wurde in Strophe 2 und 4 bereits angesprochen). Aber ein einzelnes Menschenleben ist zu kurz, um diese hereinbrechende Gefahr abzuwenden. Die Menschheit stagniert dadurch und bleibt in ihrem „alten Trott“, auch wenn es das Weltende bedeutet.
Die letzte Strophe (V. 41-44) zeigt dem Leser, dass die hier beschriebene Apokalypse nur ein Albtraum war. Aber dennoch erahnt der Sprecher, dass die Welt von verschiedenen Gefahren apokalyptischen Ausmaßes bedroht wird (V. 41: „Schatten sind viele“), aber man diese Gefahren noch nicht eindeutig bestimmten oder vorhersehen kann („Trübe und verborgen“). Aber zu mindestens gibt es Menschen (vielleicht gehört sogar der Sprecher selbst dazu), die sich darüber im Klaren sind, dass eine unmittelbare Bedrohung existiert. Diese Endzeit-Vorahnung artikuliert sich unterbewußt in den Träumen dieser Menschen. Diese Träume sind jedoch nicht einmalig, sie träumen immer wieder diese Albträume und müssen sich am „andern Morgen“ ihren „schweren Schlaf von grauen Lidern streifen“ (V. 42ff).
Eine mögliche Menschheitsbedrohung könnte der von den Expressionisten befürchtete Weltkrieg sein. Die Expressionisten waren stets sehr pessimistisch mit ihren Zukunftsvisionen und Seismographen ihrer Zeit, in der die Gesellschaft von politischer Instabilität, dem rasanten Anstieg der Rüstungsausgaben, der Isolierung Deutschlands, der Industrialisierung und Verstädterung zerrüttet war. Die Expressionisten hat sehr schnell die Erkenntnis, dass der Welt ein großer Krieg bevorstehen wird. Es gibt von Heym auch ein Gedicht „Der Krieg“, was ebenso wie „Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen“ in dem Gedichtband „Umbra Vitae“ enthalten ist.
Im Rückblick wissen wir, dass der erste Weltkrieg keine apokalyptischen Zustände angenommen hat, jedoch bleiben uns die Ängste der Expressionisten durch Erfindungen wie die Wasserstoffbombe weiterhin enthalten. Die Waffen unserer heutigen Moderne könnten tatsächlich ein apokalyptisches Inferno verursachen.