Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Weltende“ (1911) ist das bekannteste von Jakob van Hoddis. „Weltende“ ist sogar fast das einzige Gedicht von van Hoddis, was einen nennenswerten Grad von Berühmtheit erlangt hat, aber das gewaltig. Denn das Erscheinungsdatum von „Weltende“ wird von vielen als der Beginn der expressionistischen Epoche und Jakob van Hoddis als ihr Vorreiter gesehen. Das eigentlich Besondere an diesem Werk ist der sogenannte „Reihungsstil1“ (manchmal auch als „Simultanstil“ bezeichnet). Mit Reihungsstil ist das gleichzeitige oder kurz hintereinander Auftreten von zusammenhanglosen Metaphern2 gemeint. Genauer gesagt: Ein oder zwei Verse bilden jeweils eine Sinneinheit. Alle diese Sinneinheiten stehen in keinem offensichtlichen Zusammenhang mit den anderen Einheiten, so dass sich für den Leser der Eindruck erweckt, dass das Gedicht wirr, abgehackt oder zusammenhanglos wirkt. Dieser revolutionäre Reihungsstil wurde von vielen anderen expressionistischen Lyrikern rezipiert3, wie z. B. in dem Gedicht „Dämmerung“ von Alfred Lichtenstein (hier wird der Reihungsstil nochmals erklärt). Aber auch manch nachfolgende Epochen hat diese Technik für sich übernommen (z. B. der Dadaismus).
Was die äußere Form von „Weltende“ anbelangt, haben wir es hier mit einem einfachen zweistrophigen Gedicht mit jeweils 4 Versen zutun. Die erste Strophe ist in einem umarmenden Reim (abba) verfasst, die zweite Strophe in einem Kreuzreim (abab). Das Metrum4 ist ein fünfhebiger Jambus (unbetont-betont).
Wie sich aus dem Titel ableiten lässt, geht es natürlich um den Weltuntergang. Sehr grotesk5 klingen für den Leser nicht nur die disparaten Einzelbilder aufgrund des bereits angesprochenen Reihungsstils, sondern auch wegen den unverhältnismäßigen Gegenüberstellungen von Katastrophenszenen. In Vers 1 und 2 berichtet Sprecher davon berichtet, dass es sehr stürmisch ist und dem Bürger der Hut vom spitzen Kopf fliegt; Hoddis spielt damit nebenbei auch gleich auf das Spießbürgertum an. Im Gegenzug dazu fallen die Dachdecker im 3. Vers von den Häusern und werden durch den Aufschlag in zwei Teile zerfetzt. Noch krasser sind die letzten beiden Verse: Die „meisten Menschen haben einen Schnupfen“ und im nachfolgenden fallen die Eisenbahnen von den Brücken. Trotz des apokalyptischen Sujets7, welches viele Bezüge zur Bibel hat wie z. B. V. 2: „Zerdrückende Dämme“, V. 5: „Wilde Meere“ oder V. 2: „In den Lüften hallt es wie Geschrei“ (Offenbarung des Johannes/Apokalypse), werden die Beobachtungen des Sprechers total verharmlost, der Beobachter ist geradezu euphemistisch. Der grausame Tod der Dachdecker wird nur lapidar mit „Dachdecker gehen entzwei“ geschildert; die Dachdecker werden „verdinglicht“ und depersonifiziert, als sei ihr Tod zu vergleichen mit dem Entzweigehen einer heruntergefallenen Dachpfanne. Das Tosen des Meers wird nur mit „hupfen“ verniedlicht. Die Dammbrüche werden durch die Alliteration8 „dicke Dämme zu zerdrücken“ (V. 6) bagatellisiert9 und die Parenthese in Vers 4 („liest man“) scheinen dem Leser klar zu machen, dass der Sprecher sich vom Weltuntergang gar nicht betroffen fühlt.
Das Gedicht wirkt daher teilnahmslos, distanziert und emotionslos auf den Leser. Es fällt schwer, dieses ironisch-satirisch klingende Gedicht in seiner tatsächlichen Dimension ernst zu nehmen. Dazu setzt der Reihungsstil und die sehr starre äußere Form einen Kontrapunkt, zu dem ansonsten sehr bewegten Inhalt des Gedichtes; denn bei einer Beschreibung über den Weltuntergang erwartet man nicht unbedingt, dass noch auf Reimschema und Metrum geachtet wird. Äußere Form und Inhalt stehen also im Wettstreit zueinander.
Dieser schwarze Humor von van Hoddis speiste sich im Wesentlichen aus der Angst der sich vollziehenden Industrialisierung. Erfindungen wie die Eisenbahn waren für viele Menschen zunächst sehr befremdlich und man stellte absurde Theorien darüber auf, dass ein Mensch nur eine Geschwindigkeit bis 50 km/h aushalten könne. Die Städte erfuhren einen rasanten Bevölkerungswachstum und Zustrom aus der ländlichen Umgebung. Viele Städte waren dem nicht gewachsen und so machte sich Armut breit, sie hatten mit mangelnder Hygiene und der Bildung von Armenghettos zu kämpfen. Weltuntergangsstimmung machte sich allgemein breit. Ganz besonders traf dieses Ereignis allerdings mit der Wiederentdeckung des Halleyschen Kometen zusammen. Der Halleysche Komet versetzte die Menschen in große Panik, da man einen Aufschlag mit der Erde befürchtet hatte. Van Hoddis scheint die Weltuntergangsstimmung seiner Zeitgenossen in „Weltende“ zu verspotten.
Kleine Anmerkung: Parallel zu dem Gedicht „Weltende“ von van Hoddis gibt es noch das Gedicht „Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen“ von Georg Heym. Auch das Gedicht von Heym bezieht seinen historischen Hintergrund ganz wesentlich aus dem befürchteten Kometeneinschlag. Anders als van Hoddis „verpottet“ Heym die Hysterie seiner Zeitgenossen jedoch auf eine ganze andere Art. Sein Gedicht wirkt insgesamt viel beklemmender und überzeugender, als das thematisch gleiche Gedicht von van Hoddis.