Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Im expressionistischen Gedicht „Verfall“ (1913) von Georg Trakl wird die Wirkung der hereinbrechenden Herbstzeit auf das lyrische Ich geschildert. Wir haben es hier mit einem klassischen Sonett1 zu tun, es besteht daher aus zwei Quartetten mit jeweils vier Versen, gefolgt von zwei Terzetten mit jeweils drei Versen; ebenso typisch für ein Sonett1 ist die inhaltliche Zweiteilung zwischen Quartetten und Terzetten. Die beiden Teile des Gedichts würde ich so beschreiben: In den beiden Quartetten befindet sich das lyrische in einem transzendentalen Zustand bzw. in einem Traum von Sehnsüchtelei, während in den beiden Terzetten das Ich plötzlich aus seinem Traum aufwacht und wieder einen immanenten Geisteszustand annimmt.
Der Sprecher beginnt mit seiner Beschreibung bei den abendlichen Kirchenglocken, die „Frieden“ läuten (V. 1), als Stilmittel könnte man hier eine Periphrase3 oder eine Metonymie4 vermuten. Im zweiten Vers fängt dann das Ich an, in Fernweh zu verfallen. Er oder sie begleitet gedanklich den Zugvögeln, die in den wärmeren Süden fliegen. Trakl unterstützt und poetisiert die Sehnsucht des lyrischen Ichs mit einer „unreinen“ Alliteration5: „Folg ich der Vögel wundervollen Flügen“ (V. 2). Da man verschiedene Lettern wie „F“, „w“ und „V“ nicht als Alliteration bezeichnet, diese Buchstaben aber in der lateinischen Sprache verwandt sind und große phonetische Ähnlichkeit besitzen, bezeichne ich dies als „unreine“ Alliteration.
In der zweiten Strophe befindet sich das Ich in einem „dämmervollen“ Garten (V. 5). Auffällig ist, dass hier der Garten und die Umwelt des Sprechers noch mit einer positiven Konnotation6 geschildert wird. Zum ersten mal erwähnt auch das lyrische Ich selbst das Wort „träumen“, da es nach „helleren Geschicken“ der Zugvögel träumt (V. 6). Typisch expressionistisch hieran ist, dass Trakl an dieser Stelle eine Synästhesie7 verwendet, indem er zwei Wörter in eine ungewöhnliche Kombination bringt, nämlich den Wörtern „hell“ und „Geschick“.
Das lyrische Ich ist so befangen und geistig fern von der Realität, dass es den „Stunden Weiser“ nicht mehr „rücken fühlt“ (V. 7); die Zeit steht für das Ich also still.
Plötzlich (unterstrichen durch das Wort „Da“) wacht das Ich jedoch aus seinem transzendentalen Zustand auf und wird mit der Realität konfrontiert (V. 9). Hier beginnt also die bereits angesprochene Zäsur8 zwischen Quartetten und Terzetten. Ein „Hauch von Verfall“ spricht dafür, dass der Sprecher eine heraufziehende Bedrohung wahrnimmt, allerdings erst eine Vorstufe davon, da es nicht der Verfall selbst ist. Durch die diffuse Wahrnehmung einer zerstörerischen Kraft, die man nicht genau identifizieren kann, wirkt die Schilderung jedoch nicht minder bedrohlich. Darüber hinaus benutzt Trakl hier eine Inversion10; dies kann metrische Gründe haben, ganz sicher aber wird dadurch die Betonung des Satzes auf das Wort „Hauch“ gelegt.
Im zehnten Vers nimmt das Ich eine „klagende Amsel“ in „entlaubten Zweigen“ wahr. Wir können daran folgendes feststellen: Spätestens hier fällt die starke reflexive Neigung des lyrischen Ichs auf. Die Amsel stellt für das Ich eine Art „Identifikationsobjekt“ dar. Nicht die Amsel „klagt“ (was übrigens eine Personifikation11 wäre), sondern er selbst interpretiert seine Wehleiden in den Drosselgesang. Darüber hinaus ist die Amsel kein Zugvogel, sondern bleibt über den Winter standorttreu; sie ist damit ebenso wie das lyrische Ich gezwungen, sich mit dem hereinfallenden Herbst zu arrangieren („Duplizität des Schicksals“). In der Traumsymbolik wird die Amsel meist als Vorbote guter Botschaften oder froher Ereignisse gedeutet. Dass das lyrische Ich gerade in den Drossellauten ein Klagelied vernimmt, verstärkt für den Leser die negative Wahrnehmung des Sprechers. Insgesamt ist zu der Tiersymbolik noch zu sagen, dass in den beiden Quartetten die Vögel als positive Resonanzkörper für die Empfindungen des Ichs dienten, in den beiden Terzetten dreht sich dieses Bild nun auf einmal völlig um.
Ebenso gegensätzlich wird nun die Beschreibung der Umwelt gegenübergestellt. Die Amsel sitzt in den „entlaubten Zweigen“. Wenn wir dies als Metapher12 und Chiffre13 deuten, so könnte man das Bild der entlaubten Zweige so dechiffrieren15, dass damit der skelettierte Zustand von Lebewesen (im übertragenen Sinne auch der von Tier und Mensch) gemeint sein könnte und damit stellvertretend für den Tod ist. Im elften Vers wird dann der „rote Wein“ vor „rostigen Gittern“ beschrieben (Alliteration). Das Bild des „dämmervolle Garten“ aus dem fünften Vers hat sich damit vollständig zum Negativen gewendet. Der Leser wird geradezu ein Opfer der Reizüberflutung von negativen Sinneseindrücken, auch in der letzten Strophe. Denn hier wird der „rote Wein“ geschildert, der sich wie „blasser Kinder Todesreigen“ an den „rostigen Gittern“ bewegt (V. 11f). Die dritte und vierte Strophe gehen also hier in einem Enjambement14 ineinander über und sind gespickt mit negativen Adjektiven und Substantiven. Das einzige positive Wort in diesem Vers scheint „Kinder“ zu sein, welches aber antithetisch seinen negativen Wortnachbarn gegenübersteht und damit die Aussage nur noch verstärkt (V. 12).
In den letzten beiden Versen beschreibt das lyrische Ich weiter den Garten, es erblickt dunkle Brunnenränder, die „verwittern“ (V. 13). Auch hier wird mit „dunkel“ und „verwittern“ wieder ein düsteres Bild gezeichnet, der Brunnen könnte darüber hinaus für Tiefe, Ungewissheit und Gefahr stehen.
Als letztes werden die „blauen Astern“ erwähnt, die sich im Wind neigen. Auch letzte Vers ist wieder besonders sinnreich. Die Aster ist eine besonders kältefeste Pflanze, die auch über den Winter hinaus wächst, jedoch nur im Sommer Blüten trägt. Dass mit den Astern das lyrische Ich wahrscheinlich wieder in Relation zu sich selbst stellt, wird durch die Personifikation „fröstelnde Astern“ deutlich. Der Aster selbst stellt die Kälte keine besondere Bedrohung dar, da sie – wie bereits gesagt – ein sehr winterfestes Gewächs ist; viel mehr ist es wieder das lyrische Ich, welches sich bedroht fühlt. „Blau“ ist eine Farbe der Hoffnung und eine Sehnsuchtsmetapher in expressionistischer Lyrik. Für das lyrische Ich wird der Herbst und der darauf folgende Winter ebenso wie für die Pflanze eine „Dürrezeit“ (bzw. aus Sicht der Pflanze das Ende der „Blütezeit“).
Dennoch ist der Vergleich mit der Aster am Ende durchaus noch ein positive Erkenntnis, aus den ansonsten durchgehend negativen Terzetten. Die Aster symbolisiert für den Sprecher Hoffnung und Standfestigkeit.
Um einige typische Parallelen zu anderen expressionistischen Werken zu ziehen, sollte erwähnt werden, dass Trakl aus Österreich bzw. Salzburg/Wien kam. Wien und Berlin stellten die Epizentren und Hochburgen der Expressionisten dar, jedoch gibt es kleinere Unterschiede zwischen den Wiener und Berliner Expressionisten, so dass man manchmal auch von einem Wiener und einem Berliner Expressionismus spricht.
Sehr typisch für Trakl sind hier die kognitiven Reize, die er dem Leser liefert, das heißt also meist optische und akustische Empfindungen schildert. Aber auch der Tast- oder Fühlsinn wird nicht vernachlässigt, was wir z. B. an dem Adjektiv „fröstelnd“ (V. 14) oder Vers 9 sehen können. Dazu kommen einige Symbole, die man in Trakls Werken häufiger finden kann. Hier z. B. die Amsel und die blaue Aster.
Eher vernachlässigt werden hier Trakls religiöse Komponenten, aber auch diese werden in Vers 1 (Kirchenglocken) zumindestens am Rande erwähnt.
Im Unterschied zu bekannten Berliner Expressionisten wie Gottfried Benn oder Georg Heym können wir noch sehen, dass Trakl sehr „Ich-fixiert“ ist. Das Ich steht hier sehr im Vordergrund. Selbst in Alfred Wolfensteins „Städter“ wird das „Ich“ erst im zweiten Teil des Sonetts erwähnt und dort auch nur gleichgestellt mit seinen Mitmenschen (welche in „Verfall“ nebenbei gar nicht vorhanden sind).
Noch etwas ungewöhnlich ist, dass Trakl den Empfindungen des lyrischen Ichs ein „Spiegelbild“ über die Umwelt und der Natur Ausdruck gibt. Das lyrische Ich befindet sich in einem Wechselbad zwischen emotionalen Höhen- und Tiefenflügen und versucht fast krampfhaft die dazu passenden Äquivalente16 in seiner Umwelt aufzusuchen (z. B. über die Amsel, der Aster und den Zugvögeln). Vorsichtig formuliert würde ich darin sogar eine „pantheistische Komponente“ sehen, ähnlich wie in Johann Wolfgang von Goethes Werther zu beobachten ist. Auch Werther erleidet immer wieder Höhen und Tiefen und sieht sowohl für Leid als auch Freud Entsprechungen in seiner Umwelt. Sollte meine These zutreffen, so steht dies im krassen Gegensatz zu den Berliner Expressionisten, da diese mit Supranaturalismus17 und göttlichen Erscheinungen keine Bedeutung beimessen und solche Phänomene in ihren Gedichten zumeist gar nicht oder nur in einem negativen übertragenen Sinne (siehe z. B. Georg Heyms „Der Gott der Stadt“) erwähnen.
Wiederum typisch für alle Expressionisten sind die Farben in Trakls Gedicht (rot, dunkel [schwarz] und blau).