Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Der Mensch: das Wesen, welches kontrollierend und ordnend in die Geschehnisse der Welt eingreift. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts prägte dieses neue, aufgeklärte Menschenbild die Gesellschaft und den Geist der Menschen. Als Gegenbewegung zur Aufklärung entstand in der Dichtkunst die Romantik. Die Romantiker betrachteten die aufgeklärte Welt als „entfremdet“, in der der Mensch seinen ursprünglichen Platz vergessen habe, nämlich den als Teil der Natur, und an den er auch nicht mehr zurückkehren könne. Auch Joseph Freiherr von Eichendorff befasste sich mit dieser Thematik, als er 1817 sein Gedicht „Abend“ verfasste (Veröffentlichung: 1826). Ein Ausbruch aus der entfremdeten Welt ist dem Gedicht nach zwar erstrebenswert, eine Verschmelzung von Ich und Welt aber nur in der Ruhe des Abends in der Phase zwischen Wirklichkeit und Traum möglich.
200 Jahre zuvor hatte sich schon ein anderer Dichter mit dem gleichen Motiv beschäftigt. Andreas Gryphius Gedicht „Abend“ zeigt deutlich, wie sich die Interpretation der Motive zwischen seiner Epoche, der des Barocks, und Eichendorffs Epoche, der der Romantik, veränderte. Geprägt von den Unruhen des 30-jährigen Krieges interpretierte Gryphius das Abendmotiv ganz anders: Für ihn bedeutete der Abend im Gegensatz zu Eichendorff keinen Neuanfang, sondern das Ende: den Tod.
Eichendorff scheint mit seinem Gedicht keine spezifische Aussage vermitteln zu wollen, sondern möchte viel mehr seinen Leser in einen bestimmten Gemütszustand versetzen. Dazu benutzt er das Motiv der Ruhe des Abends, wenn die „laute Lust“ (V.1) der Menschen „schweigt“ und ganz andere Dinge an Wichtigkeit gewinnen: nämlich die „wunderbar rauschende Erde“(V.2/3), die Natur, die in der Stille des Abends gar nicht mehr alltäglich und normal, sondern eben „wunderbar“ erscheint. Nur ein Mensch, der sich in dieser besonderen Stimmung zwischen Wachen und Schlafen, also zwischen Wirklichkeit und Traum, befindet, kann das Unbewusste an die Oberfläche dringen lassen, und sich so an „alte Zeiten“(V.5) erinnern. Durch diese Erinnerung findet er zurück zu seinem Ursprung in der Natur und schließlich wird so auch die Wiedervereinigung mit der Natur herbeigeführt.
Auch die äußere Form des Gedichts unterstützt dessen Stimmung sehr deutlich: Das nur sieben Verse umfassende Werk vermittelt eine absolut harmonische, ruhige Stimmung, wie sie auch für Vereinigung von Mensch und Natur nötig wäre.
Dies liegt zum einen an den sauberen und gleichmäßigen umarmenden Reimen (Reimschema: abbacca), zum anderen an der ebenso gleichmäßigen Silbenverteilung und deren Betonung: Der erste, mittlere und letzte Vers bestehen aus sieben Silben und enden auf einer männlichen Kadenz, die restlichen Verse haben weibliche Kadenzen1 und bestehen aus jeweils acht Silben. Zusätzlich verwendet Eichendorff durchgehend trochäische Betonung.
Eichendorff beginnt das Gedicht mit einer Bedingung, gekennzeichnet durch einen Doppelpunkt am Ende des ersten Verses: „Schweigt der Menschen laute Lust:“. Die Konsequenz dieses kurzen Konditionalsatzes stellt Eichendorff im weiteren Verlauf des Gedichts dar. In diesem ersten Vers betont er die „laute Lust“ der Menschen durch eine Alliteration2; gemeint ist hier die Gesellschaft, die in ihrem Drang nach Unterhaltung alles Natürliche übertönt. Die „laute Lust“ bildet im ersten Vers einen starken Kontrast zum „schweigen“, in welches sie am Abend verfällt und welches die Bedingung für alles Folgende ist.
Im zweiten und dritten Vers wendet sich der Dichter nun von der Betrachtung der Menschen ab und widmet sich ganz der Natur, die durch ihr aktives „Rauschen“ auch gleich personifiziert wird. Auffällig ist hier, dass nicht die Bäume selbst rauschen, sondern nur mit der Erde zusammen. Durch die Verwendung der Begriffe „rauschen“, „Traum“ und „wunderbar“ versetzt Eichendorff den Leser schon mit diesen beiden Versen in einen ruhigen Gemütszustand. Er lässt allerdings offen, ob nun die Erde „träumerisch“ vor sich hin rauscht oder ob sich die Menschen selbst in einem Traumzustand befinden. (Hier ist noch ein klarer Gegensatz zwischen Mensch und Natur zu erkennen: Während die Natur etwas „Wunderbares“, also Übernatürliches, an sich hat, folgt der Mensch normalerweise anscheinend lieber seiner „lauten Lust“.)
Mit den nächsten beiden Versen kommt Eichendorff nun wieder auf den Menschen zurück. Hier wird der erste Schritt zur Verschmelzung von Mensch und Natur getan, denn „was dem Herzen kaum bewußt“ dringt hervor. Das Hervorkommen dieses Unbewussten ist nötig, damit sich der Mensch an „alte Zeiten“ erinnern kann. Die „alten Zeiten“ könnten hier für die Zeit stehen, in der der Mensch noch vollkommen mit der Natur vereint war und es keine Trennung von „Ich“ und „Welt“ gab. Eichendorff würde sich also auf das Leben des Menschen im Paradies vor dem Sündenfall beziehen. Auch das Motiv „Herz“ spielt in diesen Versen eine wörtlich zu nehmende zentrale Rolle, denn es steht genau in der Mitte des mittleren Verses. Demnach sind die Gefühle der Menschen, für die das Herz steht, sehr wichtig, wenn es um die Vereinigung mit der Natur geht.
Im letzten Verspaar findet nun die endgültige Verschmelzung von Mensch und Natur statt. Die „laute Lust“ ist endgültig vom Menschen abgefallen, stattdessen fühlt er den genauen Gegensatz: Jetzt „schweifen leise Schauer“ durch seine „Brust“. Das Wort „schweifen“ drückt ähnlich dem „Rauschen“ der Erde Ruhe aus, die nun also auch den Menschen erfasst hat. Auch dem Begriff „wetterleuchtend“ sollte man besondere Beachtung schenken: Erst einmal verweist auch er auf die Verschmelzung von Natur und Mensch, denn er wird normalerweise zur Beschreibung des Naturphänomens Gewitter benutzt, hier aber für einen Vorgang im Menschen selbst verwendet. Andererseits drückt das „Wetterleuchten“ aus, dass der Mensch, ähnlich wie bei einem Gewitter, nur eine kurze Erhellung des Geschehens zu sehen bekommt, nie aber das Ganze betrachten kann. Er fühlt also, wie ihn „leise Schauer“ durchschweifen, die aufgrund der Erinnerung an die „linde Trauer“ zustand
e kommen, kann sie aber nicht in Verbindung bringen oder sie aus seinem Traum heraus mit in die Realität nehmen, wo sie, unter Einfluss seiner Vernunft, keinen Sinn mehr ergeben würden.
Während innerhalb des Gedichts die Verschmelzung von Natur und Mensch stattfindet, gelingt es Eichendorff gleichzeitig, auch den Leser von seiner „lauten Lust“ zu befreien und die ruhige, harmonische Stimmung des Gedichts auf ihn zu übertragen. In dieser Stimmung wird der sonst so elementare Einfluss der Vernunft auf den menschlichen Verstand unwichtig und der Mensch kann sich wieder ganz auf das Natürliche konzentrieren, seinen Ursprung in der Natur. So gelingt es Eichendorff, den Leser durch seine Kunst der erstrebenswerten Vereinigung mit der Natur einen Schritt näher zu bringen und ihn somit wieder ein wenig mehr zu sich selbst finden zu lassen.