Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das romantische Gedicht „Bei einer Linde“ von Joseph von Eichendorff (1788-1857) aus dem Jahre 1826 thematisiert Liebeskummer und die Sehnsucht nach der ersten Liebe.
In dem Gedicht geht es um ein lyrisches Ich, das sich an seine erste Liebe zurückerinnert, deren Namen er in die Rinde einer Linde geritzt hat. Jedoch gehört diese Liebe aus seiner Jugend mittlerweile der Vergangenheit an, weshalb das lyrische Ich sehr traurig über den Verlust seiner Geliebten ist und unter inneren Wunden leidet. Diese inhaltliche Tragik des Gedichts passt zu der Form, die auf den ersten Blick durch eine gleiche Silbenanazahl in allen Strophen und einen gleichmäßigen abab-Reim harmonisch erscheint, aber in der letzten Strophe durch ein abweichendes Metrum1 gekennzeichnet ist. Dadurch wird deutlich, dass das lyrische Ich sein Leben zwar auch ohne seine große Liebe gelebt hat, aber dennoch nach so vielen Jahren immer noch verletzt und deprimiert ist, was vor allem in der letzten Strophe, in der er am Ende seines Lebens steht, durchscheint.
In der ersten Strophe des Gedichts betrachtet das lyrische Ich eine Linde, in deren junge Triebe er vor vielen Jahren den Namen seiner ersten Liebe geritzt hat. In der zweiten Strophe beschreibt das lyrische Ich die Veränderungen der Äste des Baumes, welche mittlerweile verwachsen sind und den Schriftzug, der ihn an die schöne Zeit mit seiner Geliebten erinnert, nicht mehr sichtbar machen. In der letzten Strophe erzählt das lyrische Ich davon, dass es selbst zwar gewachsen ist und sich im Laufe der Zeit verändert hat, aber die Wunden, die durch ihre Beziehung entstanden sind, bis zu seinem Tod wohl nicht mehr heilen werden.
Formal besteht das Gedicht aus drei Strophen, die aus jeweils vier Versen bestehen. Es liegt ein gleichmäßiger abab-Kreuzreim vor. Dieses Schema wird an keiner Stelle gebrochen. Die beiden Verse mit dem Buchstaben a enden in allen Strophen mit einer männlichen Kadenz2, bei der die letzte Silbe betont wird, während die Verse mit dem Buchstaben b mit einer weiblichen Kadenz abgeschlossen werden, bei der die letzte Silbe unbetont ist. In den ersten beiden Strophen liegt ein gleichmäßiges Metrum vor, das jambisch aufgebaut ist, was sich in der letzten Strophe ändert. Dort liegt kein gleichmäßiges Metrum mehr vor, wodurch die innere Trauer und Sehnsucht des lyrischen Ichs aufgrund seines gebrochenen Herzens deutlich gemacht wird.
Alle Strophen sind so aufgebaut, dass der erste Vers aus 10 Silben besteht, der zweite aus 7, der dritte wieder aus 10 und der letzte aus 11. Diese Harmonie hinsichtlich der Silbenanzahl erzeugt eine friedliche und ausgeglichene Wirkung beim Leser, die im Gegensatz zur psychischen Verfassung des lyrischen Ichs steht.
Zu Beginn des Gedichts stellt das lyrische Ich seinem „geliebte[n] Baum“ (V. 1) eine rhetorische Frage, die durch das Fragezeichen am Ende der Strophe deutlich wird. Als er den Baum sieht, fühlt er sich an seine erste Liebe zurückerinnert, da er in genau diese Linde ihren Namen geschnitten hat. Dies geschah „in jenes Frühlings schönstem Traum“ (V. 3). Der Frühling und Träume sind zwei typisch romantische Motive. Der Frühling ist ein Symbol für die Jugend und generell den Beginn des Lebens. In dieser Zeit fangen alle Blumen an zu blühen und die Tiere erwachen aus ihrem Winterschlaf. Dieser Bezug auf die Natur ist ebenfalls ein Merkmal der Romantik. Das lyrische Ich war zu der Zeit, als er seine erste Liebe kennenlernte noch jung und stand am Anfang seines Lebens, weshalb es durch das Fragezeichen so wirkt, als ob er erstaunt sei und nicht damit gerechnet hätte, diesen Baum, der für ihn die Schönheit seiner Jugendzeit repräsentiert, noch einmal wiederzusehen.
In der zweiten Strophe bemerkt das lyrische Ich, dass sich die Linde im Laufe der Jahre stark verändert hat, was die Wölbung und Form der Äste betrifft, in die er einst den Namen seiner Geliebten ritzte. Ihm fällt auf, dass „der Äste Bug“ (V. 5) nun „verwachsen und verschwunden“ (V. 6) ist. Der gleiche Anfang dieser beiden Adjektive soll betonen, wie stark sich der Baum verändert hat. Diese große Veränderung trifft auch auf die Beziehung des lyrischen Ichs zu seiner Geliebten zu, die zu dem Zeitpunkt ebenfalls verschwunden, also nicht mehr vorhanden, ist. Genauso wie der Baum ist auch das ehemalige Liebespaar gealtert und befindet sich nun in einer späteren Lebensphase. Durch die Ellipse3 „im härt’ren Stamm“ (V. 7) wird erneut deutlich, dass es bei ihrer Liebesbeziehung um etwas Vergangenes handelt, das nicht rückkehrbar ist und niemals wieder geschehen wird, da auch das Innere eines Baumes von außen nicht mehr erreichbar ist, nachdem der Baum eine bestimmte Höhe erreicht hat. In dieser Strophe bezieht sich das lyrische Ich wieder auf den Schriftzug, den er als „vielgeliebt[…]“ (V.7) bezeichnet. Das Wort „geliebt“ taucht bereits im ersten Vers auf und wird durch das „viel“ betont und hervorgehoben. Es wird deutlich, wie sehr das lyrische Ich an seiner ehemaligen Geliebten hängt und was für eine starke Verbindung er trotz der vielen vergangenen Jahre seit dem Ende der Beziehung zu ihr fühlt.
In der letzten Strophe bezieht sich das lyrische Ich auf den weiteren Verlauf seines Lebens nach dem Ende der Beziehung. Er beschreibt, dass er „seitdem [stille fortwuchs]“ (V. 9), woran deutlich wird, dass er trotz seines Liebeskummers ein normales, erfülltes Leben führen konnte. Dabei spricht er den Baum direkt an („wie du“) und verwendet das Verb „wachsen“, das eigentlich aus der Natur stammt, um seinen persönlichen Fortschritt im Leben auszudrücken. Bereits in der ersten Strophe lässt sich so eine direkte Ansprache an den Baum erkennen (vgl. V. 1). Des Weiteren wird hier deutlich, dass das lyrische Ich, das sich nun in einer späteren Lebensphase befindet, in seinem Leben gereist ist und sich nicht nur an einem Ort aufgehalten hat. Gegen Ende des Gedichts äußert das lyrische Ich sich über seine Wunde, die „wuchs – und wuchs nicht zu“ (V. 11). An dieser Stelle wird durch die Verwendung des Gedankenstrichs klar, dass seine seelischen Verletzungen trotz der vielen Veränderungen in seinem Leben niemals geheilt sind und die Wunde stattdessen mit der Zeit sogar größer wurde. Des Weiteren kann aus den Aussagen des lyrischen Ichs ein religiöser Aspekt entnommen werden, da der Verfasser des Gedichts Eichendorff ein tiefreligiöser Mann war. Im Christentum besteht der Glaube, dass die Menschen durch Gott nach ihrem Tod von ihren Leiden erlöst werden und im Paradies ihren Frieden finden. Das lyrische Ich scheint so großen Schmerz zu verspüren, dass es der Ansicht ist, nur durch Gott von seinem Liebeskummer erlöst werden zu können. Es wendet sich indirekt an seine ehemalige Geliebte, indem er den Baum mit „du“ anspricht, um ihr dadurch seine Gefühle mitzuteilen.
Bei dem vorliegenden Gedicht handelt es sich um ein romantisches Gedicht, da es 1826 verfasst wurde. Die Epoche der Romantik geht von ca. 1895 bis 1840. Des Weiteren gilt der Verfasser Joseph von Eichendorff als einer der berühmtesten Dichter aus dieser Zeit. In seinem Gedicht verwendet er verschiedene Motive, die typisch für die Romantik sind, beispielsweise Träume, die Liebe und den Frühling. Außerdem taucht durchgehend ein Baum als Symbol auf, was ein Naturmotiv darstellt. Das lyrische Ich schmachtet seine Geliebte aus der Ferne an und versucht nicht, sich ihr nach der Trennung wieder zu nähern, sondern findet Gefallen an seiner irrationalen Sehnsucht, die nicht ergebnisorientiert ist. Dies war sehr geläufig in der romantischen Liebe. Das lyrische Ich bevorzugt es, sein ganzes Leben lang unter seinem Liebeskummer zu leiden, anstatt sich an der Zukunft zu orientieren. In der Romantik herrschte eine starke Sehnsucht nach der Vergangenheit, die im Gegensatz zum Fortschrittsgedanken der Aufklärung steht. Genauso verhält sich aus das lyrische Ich in diesem Gedicht.
Abschließend lässt sich sagen, dass meine Interpretationshypothese zum Gedicht passt. Trotz der scheinbar harmonischen Form des Gedichts verbirgt sich in der letzten Strophe ein abweichender Rhythmus, durch den der innere Schmerz und die Sehnsucht des lyrischen Ichs deutlich wird, die er seit der Trennung von seiner Geliebten in seiner Seele trägt. Das lyrische Ich denkt zwar zunächst mit Freude an die alten Zeiten, doch es wird letztendlich deutlich, dass es auch nach so vielen Jahren nicht dazu fähig war, mit seiner ersten Liebe abzuschließen.