Gliederung:
- A. Goethes Sicht auf die Romantik
- B. Analyse des Gedichts „Bei einer Linde“ von Joseph von Eichendorff
- I. Form
- 1. drei Quartette
- 2. regelmäßiger Kreuzreim
- 3. äquivalenter Kadenzenwechsel
- 4. Wechsel von dreihebigem und fünfhebigem Jambus
- 5. Enjambements2
- 6. Ruhe und Melancholie als Wirkung
- 7. Volksliedton und Vermeidung von Ablenkung
- II. Inhalt
- 1. Ansprechen der Linde V. 1 - 2
- 2. Linde mit einst eingeschnitztem Namen des/der Geliebten V. 3 - 4
- 3. Veränderungen am Baum V. 5 - 8
- 4. Veränderung des lyrischen Ichs mit einer Ausnahme V. 9 - 12
- III. Sprachliche Gestaltung
- 1. Helle, weiche Vokale, Wortfeld „Liebe“ und „Frühling“, Parataxen, positive Adjektive zur Schaffung einer angenehmen, ruhigen Atmosphäre
- 2. Alliterationen3, Onomatopoesien, viele Adjektive, Synästhesien4 zur Steigerung der Wahrnehmungen
- 3. Personifikationen5, Vergleiche, Apostrophen6, abstrakte Nomen zum Ausdruck des Übernatürlichen der beschriebenen Welt
- 4. rhetorische Fragen, Inversionen7, Alliterationen, Wortfeld der „Liebe“, Ausrufe, Wiederholungen, Hyperbeln8, dunkle Vokale zum Ausdruck der Stimmung des lyrischen Ichs
- 5. Vergleiche, Wechsel im Tempus, Anapher9 zur Verbindung der Liebesgeschichte mit dem Baum
- IV. Interpretation und Vergleich des Baummotivs
- 1. Baummotiv in „Bei einer Linde“
- a. Naturverbundenheit in der Romantik
- b. Positive Konnotation10 des Baumes
- c. Wachstum des Baums als Ausdruck des Voranschreitens der Zeit
- 2. Vergleich zu „Der Lindenbaum“
- a. Gemeinsamkeiten
- i. persönliche Beziehung zum Baum
- ii. Rindenschnitzen
- iii. Gefährtenmotiv
- b. Unterschiede
- i. Ruheplatz
- ii. Anrufe des Baum
- iii. Anziehung des Baums
- C. aktueller Bezug der Romantik
Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
„Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke.“ Als Johann Wolfgang von Goethe 1829 dies sagte, ahnte er wahrscheinlich noch nicht, dass die Romantik in späteren Jahren eine der berühmtesten und auch beliebtesten Literaturepochen werden würde. Im Gegenteil, Goethe verachtete diese neue Richtung der Literatur und nannte sie sogar etwas „Bizarres“, obwohl Goethe selbst von den Romantikern sehr verehrt und fast schon vergöttert wurde. Einer dieser Romantiker ist der sehr bekannte Lyriker Joseph von Eichendorff, der das Gedicht „Bei einer Linde“ verfasst hat, in dem das lyrische Ich seine Beziehung zu einem Lindenbaum schildert.
Dieses romantische Gedicht ist aufgebaut aus drei Strophen zu je 4 Versen, also aus drei Quartetten. Formal gesehen hat dieser lyrische Text das sehr regelmäßige Reimschema abab, das ein Kreuzreim ist. Äquivalent1 zu diesem ändern sich die Kadenzen2, wobei das a im Reimschema die männliche bzw. stumpfe Kadenz ist und das b die weibliche oder klingende Kadenz. Auch im Versmaß ist eine Regelmäßigkeit zu finden. So ist das Gedicht komplett aus Jamben aufgebaut mit der Ausnahme des ersten Verses, der dadurch betont wird. Es ist auffällig, dass in jeder Strophe der zweite Vers mit einem dreihebigen, die restlichen Verse aber mit einem fünfhebigen Jambus versehen sind. Zudem findet man einige Enjambements3 vor, wie zum Beispiel in V. 2 f. oder V. 6 f.. Diese Regelmäßigkeiten bewirken eine Ruhe beim Lesen und verdeutlichen die Abgeschlossenheit und Harmonie des Gedichts. Zum Schluss hin kann die Wirkung auch als sehnsüchtig oder sogar melancholisch beschrieben werden, was aber vor allem durch den Inhalt verstärkt wird. Diese einfache Form des Gedichts bezeichnet man auch als Volksliedton, der vor allem in der Romantik sehr beliebt war und deshalb von Eichendorff oft verwendet wird. Der Autor will zudem durch die regelmäßige und einfache Form des Gedichts nicht von dem Inhalt dessen ablenken und die Aufmerksamkeit des Lesers komplett auf die Aussage des lyrischen Textes richten. Doch nicht nur formal, sondern auch inhaltlich lassen sich einige Besonderheiten entdecken.
So beginnt das Gedicht (V. 1 - 2) damit, dass der lyrische Sprecher einen - wie der Titel vermuten lässt - Lindenbaum, den das lyrische Ich offenbar liebt, anspricht und diesen Baum im zweiten Abschnitt der ersten Strophe (V. 3 - 4) frägt, ob er diejenige Linde ist, in die der lyrische Sprecher einst in einem Traum von Frühling, als der Baum noch jung war, den Namen der oder des Geliebten geschnitzt hat. In der zweiten Strophe (V. 5 - 8) beschreibt das lyrische Ich die Veränderungen am Baum. So haben sich die Äste verformt und sind miteinander verwachsen. Durch die Veränderungen wurde auch der in die Rinde geschnitzte Name in das Innere der Linde gezogen, wobei der lyrische Sprecher das mit dem Liebesaus und der mit der oder dem Geliebten verbrachten, aber vergangenen schönen Zeit vergleicht. In der letzten Strophe (V. 9 - 12) erzählt das lyrische Ich nun, dass auch es sich verändert hat. So gibt es nichts an ihm mehr, das verblieben ist, sondern alles, wie auch beim Baum, hat sich in der Stille geändert. Dabei macht der lyrische Sprecher aber eine Ausnahme. Denn die Wunde, die durch das Liebesaus mit der oder dem Geliebten verursacht wurde, blieb offen und wird laut dem lyrischen Ich auch niemals - zumindestens nicht auf Erden - geheilt werden. Inhaltlich erkennt man also einige Schwerpunkte, die vom Autor gesetzt wurden, aber auch in der Sprache.
So ist auffällig, dass vor allem helle, weiche Vokale besonders am Anfang des Gedichts verwendet werden wie zum Beispiel „Frühlings schönstem Traum“ (V. 3). Dazu kommt, dass die Wortfelder der „Liebe“ und des „Frühlings“ herausstechen. Beispiele hierfür sind „geliebter“ (V. 1), „Liebe“ (V. 4) oder „Frühlings“ (V. 3). Darüber hinaus werden eigentlich durchweg nur Parataxen verwendet und auch positive Adjektive, wie zum Beispiel „schönstem“ (V. 3) oder „vielgeliebte“ (V. 7). Dies alles führt dazu, dass eine sehr positive, angenehme und auch ruhige, wie getragene Atmosphäre geschaffen wird, in der sich der Leser wohlfühlt. Darüber hinaus findet man auch die Alliteration4 „Verwachsen und verschwunden“ (V. 6) und die Onomatopoesie „Triebe“ (V. 2), wobei das nur Beispiele für diese rhetorischen Mittel sind, da eine Vielzahl von diesen im Gedicht verwendet werden. Diese sprachlichen Auffälligkeiten lassen den Leser das Gedicht noch viel intensiver erleben und wahrnehmen, sodass er förmlich in die im lyrischen Text beschriebene Welt hineingezogen wird. Dies wird durch die Synästhesie5 „wuchs stille“ (V. 9) nochmals verstärkt und gesteigert. Eichendorff will aber auch die von ihm beschriebene Welt im Gedicht traumhaft und auch übernatürlich darstellen. So wird der Baum oft durch zahlreiche Vergleiche mit dem Menschen (vgl. V. 9) und der Personifikation6 „geliebter Baum“ (V. 1) vermenschlicht, was natürlich phantastisch und nicht von dieser Welt ist. Darüber hinaus werden in dem Gedicht viele abstrakte Nomen wie „Traum“ (V. 3), „Liebe“ (V. 4) oder „Frühlings“ (V.3) verwendet, die alle die Welt des lyrischen Textes nicht greifbar und unnatürlich oder „wie im Traum“ darstellen. Aber sehr signifikant ist die Darstellung der Stimmung des lyrischen Ichs. So drückt die rhetorische Frage in Vers 1 ff. klar die Wiedersehensfreude des lyrischen Sprechers aus, die für ihn selbst nicht wirklich ist, sodass er den Baum selber fragen muss, ob dieser der bekannte und geliebte Lindenbaum ist. Dazu kommt, dass das Wortfeld „Liebe“ vor allem in diesem Gedicht sehr stark verwendet wird. Beispiele hierfür wären „geliebter“ (V. 1) oder „Liebe“ (V.4). Damit drückt das lyrische Ich die positive Beziehung zu dem Lindenbaum und allgemein zur Natur aus, was sehr verbreitet war in der Romantik. In der zweiten Strophe wird vor allem das Wundern über die Veränderungen am Baum verstärkt. Dies wird bewerkstelligt durch einen Ausruf (vgl. V. 5) oder die Inversionen7 in Vers 5 von „Wie anders“. In der dritten und letzten Strophe schwankt die Stimmung des lyrischen Ichs hin zur Melancholie, Selbstmitleid, bis hin zur Selbstverzweiflung. Durch die häufige Verwendung von dunklen Vokalen wie „u“ in „meine Wunde wuchs“ (V. 11) oder die Alliteration „hiernieden heilen“ (V. 12) wird eine eher negative Gefühlslage betont und dem Leser sehr deutlich. Diese Stimmung wird schließlich noch durch die Hyperbel8 „wohl niemals“ (V. 12) und die Wiederholung „wuchs und wuchs nicht zu“ (V.11) verstärkt, da diese die unheilbaren Schmerzen durch das Liebesaus nochmals verdeutlichen. Schließlich wird noch die Verbindung zwischen dem Baum und der Liebesgeschichte verstärkt dargestellt. So drücken der Vergleich „Wie ihre Liebe“ (V. 8) und die damit verbundene Anapher9 in Vers 5 bzw. 8 die nahe Beziehung zwischen dem Baum und der Liebesbeziehung des lyrischen Ichs und natürlich deren Ähnlichkeiten aus. Dazu kommt ein Wechsel des Tempus, wenn der lyrische Sprecher von der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spricht. Beispiele sind „schnitt“ (V. 4), „ist“ (V. 5) und „wird“ (V. 12). Damit wird verstärkt, dass die Liebesgeschichte und das Liebesaus mit der Geschichte des Baums schon früher zusammenhingen und auch immer werden. Doch erst im Vergleich mit einem anderen Gedicht wird die unterschiedliche Auffassung von bestimmten Aspekten im Gedicht deutlich.
Dazu muss aber zuerst das Gedicht „Bei einer Linde“ von Eichendorff nach dem allgegenwärtigen Baummotiv interpretiert werden. So ist nicht zu übersehen, dass der „Lindenbaum“ in dem lyrischen Text ein zentraler Aspekt ist. Schon im Titel ist er vorhanden und wird im Gedicht von zahlreichen Wörtern aus der Natur begleitet. So steht der Baum im Gedicht eigentlich stellvertretend für die gesamte Natur, die vor allem in der Romantik eine wichtige Rolle spielte. Die Romantiker sahen nämlich in der Natur eine bedrohte Welt, vor allem durch die zu der Zeit der Literaturepoche der Romantik stattfindende Industrialisierung. Die Natur war aber auch eine Art Gegenwelt, in die man sich vor alltäglichen Problemen und der tristen Welt der Philister fliehen konnte. Deshalb, um der Wirklichkeit zu entgehen, vergötterten und verehrten Romantiker die Natur, woraus sich dann deren Naturverbundenheit schließen lässt. Der Baum und die Natur wurden also als ursprünglich empfunden und das Leben in dieser scheinbar seit Ewigkeiten unveränderten Welt bezeichneten die Romantiker als den richtigen Weg des Lebens. Dabei spielte natürlich auch das Motiv der Entgrenzung eine zentrale Rolle, da die Natur einen Ort ohne Einschränkungen bot, an dem man sich der Muse und dem Gefühl widmen konnte. So brachte Eichendorff in vielen seiner Gedichte die Natur als zentrales Motiv mit ein, wie auch in dem Gedicht „Bei einer Linde“ in Form des Baumes. In diesem lyrischen Text ist der Baum sehr positiv konnotiert. So ist der Lindenbaum für das lyrische Ich ein „geliebter Baum“ (V. 1), der schon bei seiner „ersten Liebe“ (V. 4) wuchs. Dadurch wird der Baum und auch die Natur hochgeschätzt und verehrt, fast schon einem Menschen gleichgesetzt. Besonders in dem Eichendorff-Gedicht ist aber auch vorzufinden, dass das Wachstum des Baumes als Ausdruck der Vergänglichkeit der Liebe, was auch ein zentrales Motiv der Romantik war, dargestellt wird. So wächst der „vielgeliebte Zug“ (V. 7) in den Baum hinein und gleichzeitig ist die Liebe des lyrischen Ichs verschwunden. Also hat der Baum eine deutliche Verbindung zu der Liebesgeschichte des lyrischen Sprechers und symbolisiert sozusagen den Lauf der Zeit.
Im Vergleich zu dem Gedicht „Der Lindenbaum“ von Wilhelm Müller lassen sich einige Parallelen vorfinden. So hat jedes lyrische Ich eine persönliche Beziehung zu dem Baum. Im Eichendorff-Gedicht als Symbol der Zeit, in Müllers Gedicht als „Gefährte“, der „in Freude und Leide“ (V. 7) dem lyrischen Ich zur Seite stand. Bei beiden Gedichten ist auch der Aspekt des Rindenschnitzens vorzufinden. So schnitzt das lyrische Ich in „Bei einer Linde“ den Namen der/des Geliebten in den Baum, bei Wilhelm Müller werden die Worte nicht näher charakterisiert, sondern als „liebe Wort“ bezeichnet. Auch ist in beiden Gedichten eine Art Gefährtenmotiv vorzufinden, da jedes lyrische Ich in den Gedichten lange Zeit durch den Baum „begleitet“ wird, wenn auch nur geistig oder im übertragenen Sinn. Man findet aber natürlich auch Unterschiede. So ist in Müllers Gedicht der Baum eher ein Ruheplatz, an dem man „manchen süßen Traum“ erfahren kann, wohingegen bei Eichendorff der Baum in enger Beziehung zu einer Liebesgeschichte steht und eher als Symbol für die Zeit selbst steht und keinen wirklichen Ort widerspiegelt. Auch wird in Müllers Gedicht deutlich, dass die Beziehung zwischen lyrischem Ich und Baum nicht nur einseitig wie bei Eichendorff ist, sondern von beiden aufrechterhalten wird. So wirkt der Baum bei Müller viel lebendiger und dieser Baum, der übrigens auch als Lindenbaum näher spezifiziert wird, bietet sogar dem lyrischen Ich Hilfe in Form von einem Ruheplatz an, der auch als Tod interpretiert werden kann. Ein weiterer Unterschied ist die Anziehung des Baumes in Müllers „Der Lindenbaum“, die in Eichendorffs Gedicht gar nicht vorkommt. So ruft der Baum das lyrische Ich an, dass er „zu mir“ (V. 15) kommen solle und auch der lyrische Sprecher hat eine gewisse Sehnsucht zum Baum, (vgl. V. 7f). Diese Anziehung kann auch negativ interpretiert werden, da sich auch das lyrische Ich von dem Baum „wendete“ (V. 20) und vielleicht den Baum als endgültige Ruhestätte, also den Tod, verstand, was auch ein Unterschied zu Eichendorffs lyrischem Ich ist, das den Baum rein positiv sieht und keine Bedenken hat. Allgemein kann man schlussendlich resümieren, dass in „Der Lindenbaum“ von Wilhelm Müller der Baum lebendiger, aktiver, vielleicht aber auch etwas furchteinflößender wirkt, wobei das im Auge des Betrachters liegt.
Obwohl die Literaturepoche der Romantik, aus der Joseph Eichendorffs „Bei einer Linde“ stammt, schon lange vergangen ist, hat sie trotzdem auch noch heute eine Botschaft. Denn ein Ziel der Romantiker war es, Harmonie und Naturverbundenheit unter die Bevölkerung zu bringen. Im Angesicht eines durch menschliche Rücksichtslosigkeit verursachten Klimawandels und des drohenden dritten Weltkriegs sind die Ansichten aus der Romantik vor allem heutzutage aktuell und bedenkenswert. Deshalb ist es wichtig, auf das zu hören, was schon der deutsche Romantiker und Lyriker Novalis forderte: „Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder.“