Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Das vorliegende Gedicht „Einsamkeit“ wurde von Andreas Gryphius (1616-1664) in der literarischen Epoche des Barocks verfasst, die zeitlich etwa von 1600-1720 einzuordnen ist. Wie schon anhand des Titels deutlich wird handelt das Gedicht von der Einsamkeit und der Vergänglichkeit, die dem lyrischen Ich in der Natur deutlich werden.
Durch die Aufteilung von 14 Versen auf vier Strophen, wobei die ersten beiden jeweils vier Verse haben und dadurch Quartette sind und die letzten beiden jeweils drei Verse, was sie zu Terzetten macht, wird die Barock-typische Form des Sonetts aufgegriffen. Dies entsteht auch dadurch, dass jeder Vers ein sogenannter Alexandriner ist, der sich aus einem sechshebigen Jambus und einer Zäsur1 nach der dritten Hebung zusammensetzt (vgl. z. B. V. 1). Eine solche sehr typische Regelpoetik setzt sich auch im Reimschema fort, welches allerdings leicht abweichend ist, da es auf „Höh’“ (V. 3) keinen Reim gibt und ein unreiner Reim durch „Wüsten“ (V. 1) und „nisten“ (V. 4) entsteht. Ansonsten liegt auch hier eine Regelmäßigkeit vor, die sich in den beiden umarmenden Reimen im zweiten Quartett und den beiden Terzetten zeigt (vgl. V. 5 und 8, V. 6 und 7, V. 11 und 14, sowie V. 12 und 13). Insgesamt fällt also nur die erste Strophe mit einem ungereimten Vers, einem unreinen Reim und einem Schweifreim in Vers 2 aus dem Schema. Im Barock war es wichtig eine Regelmäßigkeit in den Gedichten zu bewahren, die entgegen des sonstigen Chaos der Welt stand. Die erste Strophe könnte daher antithetisch dem Gegenüber stehen und gleichzeitig für die unterschiedlichen Landschaften, die das lyrische Ich erlebt, stehen. Ansonsten passt nämlich die äußere Form überall zusammen, da auch die Kadenzen2 bei den Quartetten immer im ersten und vierten Vers weiblich und dazwischen männlich sind und in den Terzetten immer nur der letzte Vers weiblich ist. Dies ist bedingt durch den Alexandriner, bei dem es eine letzte unbetonte Silbe geben kann, aber nicht muss.
Inhaltlich durchlebt das explizit genannte lyrische Ich eine Erfahrung mit der „Einsamkeit“ (Titel u. V. 1) inmitten der Natur. In Strophe eins bekommt man bildlich geschildert bekommt, wie diese Einsamkeit, die durch eine Hyperbel3, sie sei „mehr (...) (als) öde(..) Wüsten“ (V. 1), dramatisiert wird, erfahren wird. Dies geschieht durch eine – ebenfalls Barock-typische – Antithese: Oben von einem Berg geht der Blick hinunter in das Tal (V. 3), gleichzeitig scheint „diser Felsen“ (V. 3) ein sehr verlassener Ort zu sein. Dies wird verdeutlicht durch das Oxymoron4 „stille Vögel“ (V. 4), nicht einmal solche sonst lebhaften Tiere geben hier einen Ton von sich.
Das erste Quartett leitet also gleich eine negativ – einsame Stimmung ein, die in den folgenden beiden Strophen weiter belegt wird und schließlich im letzten Terzett daraus ein Fazit gezogen wird. Auch, wenn die Ausführung hier nicht ganz so deutlich wie in manch anderen Sonetten ist, wird hiermit die typische Struktur eines Sonetts im Barock aufgegriffen: These – Argumentation – Fazit. Die These, wie die Einsamkeit erfahren wird und was die Rolle des Menschen ist, wird also nun im zweiten Quartett anhand von Antithesen6 (V. 5, 8) verdeutlicht: Egal ob reich oder arm, letztendlich ist der Mensch und also so auch das lyrische Ich selbst vergänglich, was vor allem eine Anspielung an das Motiv „memento mori“ – „Bedenke, dass du sterblich bist.“ darstellt. „Hoffen steh(t) auff nicht festem Grund“ (vgl. V. 7) und zu dieser Erkenntnis kommt das lyrische Ich entfernt von dem ganzen Menschlichem, mitten in der Natur. Diese Ansicht setzt sich im ersten Terzett fort, mit einzelnen Metaphern7 wie einem „Todtenkopff“ (V. 9) oder „abgezehrten“ Knochen (V. 10) wird das barocksche Motiv der vanitas deutlich, was zuvor eben schon auf den Menschen bezogen wurde, verdeutlicht. Im Barock waren die Menschen geprägt von der Pestepidemie, die ein Drittel der Bevölkerung auslöschte, und den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges (1618 – 1648) bzw. dessen Folgen. Wie könnte einem die eigene Vergänglichkeit stärker bewusst gemacht werden als durch ständiges sterben anderer Menschen vor den eigenen Augen? Im Gedicht wird diese Vergänglichkeit also zunächst im zweiten Quartett auf den Menschen und dann auch auf alles Weitere bezogen: „Höl`, (...) Wald“ und sogar „der Stein“ (V. 9) wird von der Zeit gefressen, wie es die Personifikation8 der Zeit in Vers 10 verdeutlicht. Es bleibt also nichts Weltliches von der vanitas verschont. In Sonett-typischer Manier wird das im ersten Terzett angesprochene fortgeführt zu Beginn des zweiten Terzetts: Auch hier findet sich eine Anspielung auf die verheerenden Folgen des Dreißigjährigen Krieges, verdeutlicht durch eine weitere Antithese: Auf der einen Seite sind die Mauern nur noch Trümmer auf der anderen Seite sind Teile des Landes unbebaut. Und doch vereint dies alles, dass es eben vergänglich ist. Andererseits wird hier aber auch ein weiteres Motiv des Barocks angesprochen, welches eher einen Kontrast zur vanitas und memento mori darstellt: Das unbebaute Land (V. 12), welches zwar vergänglich ist, ist trotzdem „schön und fruchtbar“ (V. 13). Diese Wörter fallen in der sonst negativen Gesamtstimmung auf und sind Ausdruck des carpe diem Gedankens. Nutze/Genieße den Tag! Der Tod kommt früh genug, man kann also den Moment nutzen um sich der schönen Seiten zu erfreuen, die sich im Gegensatz zu den Kriegstrümmern auf dem Land in der Natur finden – welches auch „fruchtbar“ (V. 13) ist, was man also nutzen könnte um noch gute Gaben hervorzubringen.
Wie anfangs angedeutet wird dann im allerletzten Vers einerseits der wichtigste Gedanke und gleichzeitig eine Art Fazit gezogen im Barock- typischen Sonett. Auch dies ist hier der Fall: Trotz all der Vergänglichkeit bleibt eine Sache beständig und dies ist hier der Fall: Trotz all der Vergänglichkeit bleibt eine Sache beständig und dies ist der christliche Glaube (V. 14). Während nämlich menschliches Hoffen auf irdische Rettung nicht „auf festem Grund (…) Stehe“ (V. Sieben), Wie bereits erwähnt, Und Angst vor dem Tod bestehen, der genau durch die Motive der vanitas und memento mori Vorgebeugt werden soll, besteht die wahre Ruhe im Himmelreich Gottes, Worauf hier der Fokus gelegt wird. Der Geist, der also nicht beim christlichen Gott ist, „muß wancken“ (V. 14).
Insgesamt wird im Gedicht „Einsamkeit“ mit vielen epochentypischen Elementen gearbeitet. Auch die Sprache, die keinen einheitlichen oder aktuellen Rechtschreib- und Grammatikregeln folgt, ist voll von motivischen, bildlichen Wörtern, die so stimmungserzeugend sind und dafür sorgen, dass die wichtigste Botschaft, die Hoffnungslosigkeit im irdischen Dasein, die Einsamkeit und die Vergänglichkeit herüber gebracht werden können.
Form, Inhalt und Sprache lassen das Werk von Andreas Gryphius, der einer der bedeutendsten Dichter seiner Epoche ist, dann also zusammenfassend in die Zeit des Barocks einordnen.
Vergleich mit „Der Herbst des Einsamen“ von Georg Trakl
Um im folgenden das Motiv der Einsamkeit in Andreas Gryphius Gedicht „Einsamkeit“ von 1658 mit dem Motiv in „Der Herbst des Einsamen“ von Georg Trakl (1887 bis 1914) aus dem Jahre 1915 zu vergleichen, muss dieses zunächst eingeordnet werden. Das expressionistische Gedicht Trakls ist aufgeteilt in drei Strophen mit jeweils sechs Versen, es gibt einen durchgängigen Kreuzreim und es liegt ein fünfhebiger Jambus vor. Diese Regelmäßigkeit passt auch zu Gryphius Gedicht, trotzdem sind die Umsetzungen deutlich anders. In „Der Herbst des Einsamen“ wird durch kurze parataktische Sätze und Enjambements9 (vgl. V. 5f, V. 11f, V. 15f) kein Lesefluss erzeugt, während bei Gryphius der Alexandriner für einen solchen sorgt – beide Dichter arbeiten mit ihrer Epoche typischen Stilmitteln. Andererseits passt bei Trakl die stoische Regelmäßigkeit zu der im Gedicht beschriebenen Stelle, Die aus der Einsamkeit heraus entsteht. In der ersten Strophe wird der Übergang „von schönen Sommertagen“ (V. 2) zum „ dunkle(n) Herbst“ (V. 1) geschildert, wobei besonders deutlich schon in Farben gesprochen wird, Wie es typisch ist für den Expressionismus: „ Vergilbt“ (V. 2), „ Reines Blau“ (V. 3), „dunk(el)“ (V. 1 Und 6). Gleichzeitig wird klar, das die Wende der Jahreszeiten einer Entwicklung unterliegt: Während der Sommer noch positiv war, wird die Entwicklung im Herbst schon negativer trotz „Frucht und Fülle“ hin zu Einsamkeit (wahrscheinlich im Winter), die zentrales Thema in Trakls Gedicht ist, wie auch bei Gryphius. Diese Entwicklung steigert sich im Gedicht: „Reines Blau“ (V. 2) in der ersten Strophe, die Farbe der Hoffnung, „tritt (schon) aus verfallener Hülle“ (V. 3), gleichzeitig lauern aber schon „dunkle (...) Fragen“ (V. 6). Der „vergilbte (...) Glanz“ (V. 2), der zunächst noch bestand, wird im Laufe des Herbstes ein „roter Wald“ (V. 8), am Ende der zweiten Strophe ist dann die Rede von „schwarze® Erde“ (V. 12) und am Schluss dann auch vom „schwarz(en) (...) Tau“ (V. 18). Parallel zu dieser jahreszeitlichen Entwicklung findet die Entwicklung hin zur stillen Einsamkeit statt, ebenso die Entwicklung vom Tag zur Nacht. Während also bei Trakl die Einsamkeit mit der Metapher der Jahreszeiten, die von einer Farbentwicklung dargestellt wird, charakterisiert wird und außer im Titel nie tatsächlich genannt wird, geschieht dies im vorher analysierten Gedicht anders. Bei Andreas Gryphius ist die Einsamkeit permanent präsent und wird vom lyrischen Ich in der Natur erlebt. Doch dies geschieht anders als bei Trakl. Dieser nutzt die Darstellung der Natur, um die Einsamkeit auszudrücken und diese näher zu bestimmen. Gryphius lässt sein lyrisches Ich in der Natur diese Einsamkeit erleben. Die Gestaltung der Einsamkeit wirkt wahrscheinlich auch wegen der verschiedenen lyrischen Ichs unterschiedlich: Bei Gryphius liegt ein explizites lyrisches Ich vor, was sich an einem näher bestimmten Ort befindet, während Trakls lyrisches Ich nur implizit vorhanden ist und eher von außen eine solche Entwicklung beschreibt. Dies wird deutlich anhand von vorhandenen (vgl. V. 3 Gryphius) bzw. fehlenden (vgl. Trakl) Personalpronomina10.
Die Wahrnehmung der Einsamkeit ist allerdings in beiden Gedichten ähnlicher, bei Trakl wird dieser aber etwas stärker herausgestellt: Beide Male ist von „stille“ die Rede (vgl. V. 4 Gryphius, V. 5 Trakl), in der man Zeit hat über Dinge nachzudenken bzw. einem manche Sache klar wird. Bei Gryphius ist dies die Vergänglichkeit aller Sachen und die „unzehliche(n) Gedancken“ (V. 11), die diese hervorruft. Bei Trakl sind es unbestimmte „dunkle (...) Fragen“ auf die man die „leise Antwort“ (V. 6) findet.
Eine weitere Gemeinsamkeit in der Darstellung der Einsamkeit sind die Bilder die verwendet werden, sowohl bei Gryphius als auch bei Trakl spielt natürlich wie schon angesprochen die Beschreibung der Natur die Hauptrolle, daneben finden sich aber auch die Themen „Vögel“, Mauern bzw. Gebäude allgemein, sowie Menschen in beiden Gedichten. Auch findet sich das Motiv des Glaubens in beiden Werken, allerdings auf völlig unterschiedliche Art und Weise. Während bei Gryphius der Glaube das einzig Beständige, das, was einem in seiner Einsamkeit beisteht, ist, wird bei Trakl die Religion oder das dafür symbolisch stehende „Kreuz“ (V. 7 Trakl) eher als Zeichen für die Einsamkeit verwendet. Dieser Unterschied ist darauf zurückzuführen, dass die Epochen der Werke einen anderen Hintergrund hatten. Während im Barock der Glaube das einzige war, was den Menschen noch Halt bot, hatten die Expressionisten keinerlei Hoffnung mehr auf einen guten Gott und waren Religionskritiker.
Die Absicht der Darstellung der Einsamkeit oder auch die Ursache für die jeweilige Umsetzung ist ein weiterer Aspekt, der beleuchtet werden muss. Bei Gryphius ist die Einsamkeit Ergebnis der Vergänglichkeit alles irdischen Seins und wird in der Natur wahrgenommen. Bei Trakl stand historisch der erste Weltkrieg unmittelbar bevor, außerdem war die Welt geprägt von der Industrialisierung. Die Einsamkeit und Stille ist hier also einerseits durch den drohenden Krieg, worauf wahrscheinlich auch die Alliteration um die, typisch expressionistische, ungewöhnliche Wortkombination „Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen“ (V. 17) anspielt. Andererseits kann die Einsamkeit auch eine fehlende Liebesbeziehung andeuten, was einmal der Titel ausdrückt, da hier klar von einem „Einsamen“ die Rede ist und außerdem die Erwähnung der „blauen (also hoffnungsvollen) Augen der Liebenden“ (V. 15f), zu denen wahrscheinlich das lyrische Ich nicht zählt. Die Einsamkeit in Trakls Gedicht könnte demnach ambivalent verursacht sein. In beiden Gedichten wird also zwar auf die Einsamkeit angespielt, der Hintergrund ist aber ein anderer.
Sprachlich verdeutlicht Trakl seine Einsamkeit bzw. die seines lyrischen Ichs mit beliebten Stilmitteln seiner Epoche. Seine Wortwahl ist metaphorisch, fast onomatopoetisch („rauscht das Rohr“, „verfallener Hülle“) und er bedient sich Alliterationen11 und Synästhesien12 (vgl. V. 4). Er charakterisiert die Einsamkeit mit farblichen Bildern, Metaphern und Vergleichen.
Auch Andreas Gryphius arbeitet in sein Gedicht den typisch barocken Sonett-Stil ein, wie in 1 dargestellt. Dabei verwendet er aber im Vergleich zu Trakl eher andere sprachliche Mittel, wie die Antithesen oder Symbole. Auch macht er sich die Argumentationsstruktur vieler Sonette5 zu Nutze, um so die Aussageabsicht herauszustellen. Bei Trakl hingegen ist das Konzept nicht durchkomponiert, parataktische Sätze haben alleine wenig Sinn und tragen nicht ohne das Gesamtgefüge zum Verständnis bei. Während bei Gryphius also von Anfang an klar ist, wie das Thema aufzufassen ist, muss zwischen Trakls Sprache bzw. seinen Sätzen gesucht werden, die Poetik unterliegt bei ihm keinen Regeln, er nutzt lediglich die strenge äußere Form zum Polarisieren und für den Ausdruck. Außerdem fällt auch die Art der Sprache und die Wortwahl in der Gestaltung auf: Gryphius verwendet die damals normale Sprache und Rechtschreibung, Trakl benutzt zwar teils auch normale Sprache, baut aber Neologismen13 (V. 9), ungewöhnliche Wortkombinationen und einen Fachterminus (V. 5) ein. Das Motiv der Einsamkeit wird so bei Gryphius alltäglich und allgemein eingewoben, bei Trakl kommt die persönlichere, subjektive Wahrnehmung der Einsamkeit in den Vordergrund durch den nicht stringenten oder einheitlichen Einsatz von Sprache.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass in beiden Gedichten ähnliche Bilder, vor allem die Natur, genutzt werden, um die bei beiden zentrale Einsamkeit zu verdeutlichen. Dies geschieht aber aus unterschiedlichen Absichten und aus verschiedenen Perspektiven, sodass Wirkung und Art und Weise der Gestaltung des Einsamkeitsmotivs deutlich anders sind, als man es vielleicht beim bloßen Blick auf die Titel „Einsamkeit“ und „Der Herbst des Einsamen“ vermuten würde. Der Vergleich der Hintergründe der beiden Epochen aus denen die Gedichte stammen, gibt Aufschluss über die Ursachen für diese unterschiedlichen Lösungen, sowohl in Form als auch in Inhalt.