Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Der Herbst des Einsamen“ wurde von Georg Trakl verfasst und im Jahr 1915 veröffentlicht, sodass es sich der Epoche des Expressionismus zuordnen lässt. Der Autor thematisiert die Wahrnehmung des Herbstes und die Eindrücke eines lyrischen Sprechers in dieser beschriebenen Situation.
Die erste Strophe des Gedichts handelt von der Einkehr des Herbstes und den somit vergangenen Sommertagen (vgl. V. 1-6). In der zweiten Strophe (vgl. V. 7-12) wird das Tagesende unter anderem genauer beschrieben, das vom lyrischen Sprecher mit Blick auf oder in einem Wald erlebt wird. In der dritten Strophe wird anschließend die Einkehr der Nacht näher erläutert, was den Abschluss einen Prozesses widerspiegelt. Das Gedicht schließt mit der Empfindung einer Bedrohung oder Todesnähe (vgl. V. 13-18).
Der lyrische Sprecher nimmt den Herbst als dunkle und triste Jahreszeit wahr, die trotz dessen wenige angenehme Einblicke in die Natur bietet. Diese Zeit des Jahres stellt er anhand der Situation eines einsamen Landmanns dar. Hier wird exemplarisch die Vergänglichkeit allen Seins thematisiert. Die teilweise negativen Einflüsse im Gedicht lassen sich hierbei höchstwahrscheinlich auf den ersten Weltkrieg (Beginn August 1914) und weitere historische Ereignisse zurückführen, in dem Trakl als Sanitätsfähnrich diente und somit schreckliche Erlebnisse verarbeiten musste. Damit vermittelt das Gedicht weniger eine Handlung als vielmehr eine Atmosphäre vermittelt.
Um die Deutungshypothese zu überprüfen, werden im Folgenden der formale Aufbau, die sprachlich-stilistische Gestaltung und die Bildsprache / Motivik des Gedichts im Hinblick auf die Bedeutung und Wahrnehmung des Herbstes untersucht.
Das Gedicht besteht aus drei Strophen mit jeweils sechs Versen unterschiedlicher Länge. Das Metrum1 ist ein fünfhebiger Jambus. Das Reimschema ist ein durchgängiger Kreuzreim (ababab / cdcdcd / efefef), wobei in jeder Strophe ein unreimer Reim vorhanden ist. Die Wörter die sich nicht vollständig auf die anderen zwei reimen, sind „Stille“ (V. 5) in Strophe eins, „Spiegel“ (V. 9) in Strophe zwei und „blauen“ (V. 15) in der abschließenden. Dieser Bruch mit einem harmonischen Aufbau wirkt störend und irreführend auf den Leser, was sich mit den chaotischen Ereignissen zu der Zeit der Entstehung in Verbindung setzen lässt. Zudem lässt dieser formale Aufbau keine wahrhafte Harmonie zu, was mit der tristen und zum Teil trostlosen Darstellung des Herbstes zusammenhängt. Somit wird die zu Beginn aufgestellte Deutungshypothese durch die Untersuchung des formalen Aufbaus bestätigt.
Ein weiterer Aspekt, der sich zur Überprüfung der Deutungshypothese eignet, ist die sprachlich-stilistische Gestaltung. Auffallend ist das negativ konnotierte Wortfeld der Vergänglichkeit/ des Verfalls, dem sich die Wörter „vergilbter“ (V. 2), „verfallener“ (V. 3), „dunkler“ (V. 6), „knöchern und Grauen“ (V. 17) und „kahlen Weiden“ (V. 18) zuordnen lassen. Zu der Farbe Rot (vgl. V. 8) lässt sich zudem sagen, dass sie eine dunkle, alarmierende Farbe darstellt und somit typisch für die Farbsymbolik des Expressionismus ist. Dies gilt auch für die Farbe Schwarz (vgl. V. 12,18). Die Verwendung all dieser Wörter verdeutlicht eine triste Wahrnehmung der dargestellten Jahreszeit, was auch mit einer gewissen Hoffnungslosigkeit verbunden ist, die mit dem ersten Weltkrieg zusammenhängt. „Der dunkle Herbst“ (V. 1) scheint jedoch auch für den lyrischen Sprecher als angenehm empfundene Einblicke in die Natur zu bieten, was durch das Wortfeld der Stille verdeutlicht wird. Zu diesem gehören die Wörter „milde Stille“ (V. 5), „leiser“ (V. 6), „ruhige“ (V. 10), „sehr leise“ (V. 11), „still“ (V. 14) und „leise“ (V. 15). Es ist wahrscheinlich, dass der lyrische Sprecher diese Stille und Ruhe als angenehm wahrnimmt, da sie einen Kontrast zum Kriegslärm und den damit verbundenen Geschehnissen darstellt. Dabei ist auch der Übergang im Gedicht von positiver Naturwahrnehmung zu einer negativen Abend-(Todeswahrnehmung von Bedeutung. Die Verwendung des Verses „Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen“ (V. 4) zeigt, dass der Herbst in den Augen des lyrischen Sprechers auch etwas Mystisches und Geheimnisvolles an sich hat. In der ersten Strophe wird das Naturphänomen eröffnet, das in den folgenden beiden Strophen zu einer Wahrnehmung von Abend und Tod verwendet wird. Auffallend ist auch die Alliteration2 „die Wolke wandert“ (V. 9), was zugleich eine Personifikation3 darstellt. Wolken werden meist als Vorahnung einer Bedrohung und Dunkelheit gedeutet, was die triste und dunkle Wahrnehmung des Herbstes verdeutlicht. Das Verb „wandert“ zeigt zugleich eine gewisse Vergänglichkeit des Lebens, das am lyrischen Sprecher vorbeizieht, ohne wirklich dagewesen zu sein. Dies lässt sich erneut auf die historischen Ereignisse zur Lebenszeit von Trakl und der Entstehungszeit des vorliegenden Gedichts übertragen. Auffallend ist auch die Onomatopöie zum Abschluss des Gedichts: Die Verwendung der Begrifflichkeiten „es rauscht das Rohr“ (V. 17) und „der Tau tropft“ (V. 18) hebt die akustischen Eindrücke, die auf den lyrischen Sprecher einwirken, hervor. Zudem wird hier deutlich, wie vorherrschend die Stille ist, da selbst solche minimalen Geräusche vom lyrischen Sprecher wahrgenommen werden. Eine weitere Auffälligkeit, die die Deutungshypothese bestätigt, ist der zunächst positiv wirkende Vers „vergilbter Glanz von schönen Sommertagen“ (V. 2). Hier wird “der dunkle Herbst“ (V. 1) den „schönen Sommertagen“ (V. 2) gegenüber gestellt, was erneut den Kontrast der beiden Jahreszeiten, und gleichzeitig die Ambivalenz in der Wahrnehmung des Herbstes, hervorhebt. Des weiteren ist der Gebrauch von Enjambements4 sehr prägnant, was in jeder der drei Strophen auffällt. Dies zeigt ebenfalls den Fluss der Ereignisse , die am lyrischen Sprecher vorbeiziehen, ohne wirklich verarbeitet werden zu können.
Der letzte zu analysierende Aspekt ist die Bildsprache des Gedicht. Ein sehr auffallendes Bild, das in der zweiten Strophe erzeugt wird, ist das in V. 8f.: Der lyrische Sprecher beschreibt: „Und hier und dort ein Kreuz auf ödem Hügel/ Im roten Wald verliert sich eine Herde“. Die beschriebene Herde von Kreuzen der Verstorbenen bzw. der Kriegsgefallenen sein, mit denen Trakl als Sanitäter sicherlich häufig konfrontiert wurde. Solche Erlebnisse prägen einen Menschen und dementsprechend auch die Wahrnehmung der Umgebung. Daher kann man auch diese Feststellung auf die Deutungshypothese beziehen. Die Personifikation „Die Wolke wandert überm Weiherspiegel“ (V. 9), die auch im Bereich der sprachlich-stilistischen Gestaltung bereits erwähnt wurde, verstärkt diesen Gesamteindruck. Die Einkehr der Nacht oder das Eintreten des Todes wird durch die Metapher5 „des Abends blauer Flügel“ (V. 11) deutlich. Eine letzte besondere Auffälligkeit im Bereich der Bildsprache ist die Verwendung des Engelsymbols: „Und Engel treten leise aus den blauen / Augen der Liebenden, die sanfter leiden“ (V. 15f.). Engel gelten häufig als Symbol der Reinheit, Güte und Unschuld oder auch als Boten Gottes. In diesem Fall stehen sie im Kontrast zum Leid, könnten aber auch als Erlöser gedeutet werden, die den Schmerz von den Leidenden bzw. den Sterbenden nehmen. Auch hier zeigt sich, dass die Wahrnehmung des Herbstes durch den lyrischen Sprecher eng mit Erfahrungen und Erlebnissen des Ersten Weltkriegs verbunden ist, was die Deutungshypothese bestätigt.
Nach der Untersuchung der verschiedenen Aspekte wie dem formalen Aufbau, der sprachlich-stilistischen Gestaltung und der Bildsprache lässt sich sagen, dass die zu Beginn aufgestellte Deutungshypothese sich als richtig erweist. In diesem Gedicht wird der Herbst zum Großteil als trist, dunkel, hoffnungslos und trostlos wahrgenommen – trotzdem bietet er auch als positiv empfundene Eindrücke in die Natur wie die milde Stille. Die Wahrnehmung der Umgebung und auch die des Herbstes sind hierbei höchstwahrscheinlich eng mit Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg, der im August 1914 begann (also ungefähr die Entstehungszeit des Gedichts), verbunden ist. Es dominiert Melancholie, Abschied und Vergänglichkeit.