1. Gedicht: Im Nebel / Seltsam, im Nebel zu wandern (1906)
Autor/in: Hermann HesseEpoche: Symbolismus
Strophen: 4, Verse: 16
Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-4, 4-4
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und kann daher nicht angezeigt werden.
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Und immer wieder, | ||
wenn ich mich müde gesehn | ||
an der Menschen Gesichtern, | ||
so vielen Spiegeln | ||
unsäglicher Torheit, | ||
hob ich das Aug | ||
über die Häuser und Bäume | ||
empor zu euch, | ||
ihr ewigen Gedanken des Himmels. | ||
Und eure Größe und Freiheit | ||
erlöste mich immer wieder, | ||
und ich dachte mit euch | ||
über Länder und Meere hinweg | ||
und hing mit euch | ||
überm Abgrund Unendlichkeit | ||
und zerging zuletzt | ||
wie Dunst, | ||
wenn ich ohn' Maßen | ||
den Samen der Sterne | ||
fliegen sah | ||
über die Äcker | ||
der unergründlichen Tiefen. |
Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
In dem Gedicht „Im Nebel“ aus dem Jahre 1905 beschreibt Hermann Hesse die Einsamkeit des Menschen im Schicksalsschlag und betont die Natürlichkeit dieser Erfahrung für alle Menschen.
Formal teilt sich das Gedicht in vier Strophen, die jeweils eine Bedeutungseinheit bilden. Alle Strophen sind im Kreuzreim (a b a b) verfasst, weisen jedoch kein gemeinsames Versmaß auf. Weder ist die Silbenzahl einheitlich, noch der Versfuß oder die Kadenzen1. Es überwiegen allerdings Daktylen und Trochäen. Da hierdurch in der Betonung ein „Fallen“ der Stimme hervorgerufen wird, kann eine Parallele zum „fallenden“ Nebel der Strophe 2 und dem beschriebenen „Fall“ des lyrischen Ich, der zum Verlust seiner Freunde führt, gezogen werden. Auffällig bleibt auch, dass die erste und letzte Strophe sich im Aufbau sehr ähneln und dabei ihre Bedeutung verstärken.
Bereits zu Beginn des Gedichts fallen eine Inversion2 und Ellipse3 ins Auge: „Seltsam, im Nebel zu wandern!“ (I, 1) Das Ausrufezeichen am Ende des Satzes verstärkt noch den deklamatorischen4 Ton des Satzes. Im zweiten Vers geht das lyrische Ich dann auch gleich auf die Gründe ein und benennt das vorherrschende Thema im Gedicht: „Einsam“ ist alles, was sich in Vers 2 auf Unbelebtes und in Vers 3 dann auf die Natur erstreckt, ehe mit dem Abschluss „Jeder ist allein“ in Vers 4 die Grundaussage auch auf die Menschheit auszudehnen – eine klassische Klimax5. Die relative Kürze des vierten Verses unterstreicht noch die Einsamkeit.
In der zweiten Strophe wird das lyrische Ich dann bezüglich des Nebels, der bislang noch als reines Bild im Raum steht, konkreter. Es handelt sich um irgendeine Form von Schicksalsschlag, denn der Nebel „fällt“ (II, 3) plötzlich über das lyrische Ich, was zum Verlust aller Freunde führt, von denen die Welt noch „voll war“ (II, 1), als es ihm gutging. Dieser Schicksalsschlag hat damit zwei Komponenten: einerseits desorientiert er das lyrische Ich (im Nebel sieht man den Weg nicht), andererseits macht er es einsam, was die Erkenntnis aus Strophe 1 noch einmal bestärkt.
In der dritten Strophe kommt das lyrische Ich dann zum Kernpunkt seiner Überlegungen. Das Fallen des Nebels im Leben ist „unentrinnbar“ (III, 3) und wird hier noch weiter gesteigert: es ist „das Dunkel“ (III, 1), das ihn „von allem ihn trennt“ (III, 4). Es muss also sogar fraglich bleiben, ob die vielen in Strophe 2 beschriebenen Freundschaften überhaupt echt waren; so oder so aber wird ein pessimistischer, durch die Vergleiche mit Nebel und Dunkelheit verstärkter Ton angeschlagen, der die Erfahrung dieses Freundesverlusts im Schicksalsschlag als natürlichen Lauf des Lebens begreift: „Wahrlich, keiner ist weise, der nicht das Dunkel kennt“ (III, 1-2). Die Inversion erzeugt, wie bereits in der ersten Strophe, erneut einen mahnenden, deklamatorischen Ton.
Durch diese Erkenntnis gereift wie verbittert wandert das lyrische Ich mit den gleichen Worten wie in Strophe 1 durch den Nebel. Doch die Seltsamkeit ist nun ergründet und kein Geheimnis mehr, weswegen die Einsamkeit nun nicht mehr wie in Strophe 1 mit Naturmetaphern6 erfasst werden muss, sondern in den Versen 2 und 3 der schlichten Erkenntnis Platz machen kann, dass „Leben Einsamsein“ sei und „Kein Mensch den anderen kenne“ – das in Strophe 3 beschriebene Dunkel, das die Menschen „unentrinnbar und leise“ trennt, steht zwischen ihnen. Dies gilt damit auch für die „lichten“ Momente, die in Strophe 2 beschrieben werden. Das lyrische Ich fühlt sich daher bestätigt und wiederholt auch den vierten Vers der ersten Strophe: „Jeder ist allein.“
Die Interpretationshypothese hat sich daher bestätigt. Das Gedicht beschreibt eine natürliche Einsamkeit des Menschen, die sich nicht überwinden lässt und in Schicksalsschlägen noch verstärkt wird.
Eine Einsamkeit inmitten der Menschen spielt auch in dem Gedicht „An die Wolken“ aus dem Jahr 1905 eine Rolle. Hier beschwört das lyrische Ich Christian Morgensterns die Wolken, ihre transzendente7 Majestät mit ihm zu teilen, wann immer es der „Menschen Gesichter“ müde wird, ist sich aber auch der Gefahr bewusst, die eine solche Abnabelung von allem Irdischen mit sich bringt, und der unüberwindbaren Grenze zwischen den kosmischen Kräften und der irdischen Existenz.
Das Gedicht weißt nur wenig formale Struktur auf. Weder ist ein eindeutiges Reimschema erkennbar, noch folgt es einem regelmäßigen Versmaß oder besitzt einen regelmäßigen Versfuß. Stattdessen besteht das Gedicht aus zwei großen Sätzen, einem hypotaktisch geordneten und einer parataktisch durch die Konjunktion „und“ verbundenen Hauptsatzakkumulation. Angesichts der Freiheit, die das lyrische Ich gegenüber den Bindungen der Welt und der menschlichen Gesellschaft (und damit auch ihren Vorschriften an die Form der Lyrik) erstrebt, verwundert diese freie Form aber auch nicht, sondern fügt sich stimmig in das Gesamtbild ein.
Zu Beginn des Gedichts beklagt das lyrische Ich seine Ermüdung mit den Menschen im Allgemeinen („der Menschen Gesichter“, Vers 3) und ihrer „unsäglichen Torheit“ (Vers 5) im Besonderen, die sich in selbigen, metaphorisch verklärten Gesichtern ausdrückt („so vielen Spiegeln“, Vers 4). Es handelt sich dabei auch nicht um die Erschöpfung des Connoisseurs, sondern vielmehr um den Ekel des Snobs, der durch die Wortwahl „müde gesehen“ (Vers 2) anstatt eines ebenso möglichen Synonyms wie „satt“ zum Ausdruck gebracht wird. Erleichterung findet das lyrische Ich bei den personifizierten Wolken, die in der 2. Person Plural angesprochen werden, und die im wahrsten Sinne des Wortes über den Dingen schweben („über die Häuser und Bäume empor zu euch“, Vers 7/8).
Im zweiten Satz beschwört das lyrische Ich dann die „Größe und Freiheit“ (Vers 10) der Wolken, die ihn „erlösen“ (Vers 11), was dem imaginierten Flug mit den Wolkenfreunden eine religiöse Dimension verleiht und die transzendente Natur dieser Gedanken unterstreicht. Zusammen mit den Wolken verlieren geographische Dimensionen ihre Bedeutung („über Länder und Meere hinweg“, Vers 13) und machen stattdessen einer kosmischen Dimension Platz („überm Abgrund Unendlichkeit“, Vers 15), die für das lyrische Ich aber unbegreifbar bleibt: es spricht von „unergründlichen Tiefen“ (Vers 22), über die der „Samen der Stern“ (Vers 19) „fliegt“ (Vers 20) und ihre „Äcker“ (Vers 21) befruchtet. Hier wirken Gewalten, die der Mensch gar nicht begreifen kann und die damit in einer krassen Antithese9 zu der „Torheit“ steht, die „an der Menschen Gesichter“ gespiegelt wird.
Doch diese Erfahrungen kommen für das lyrische Ich nicht ohne Preis, denn genauso wie die Wolken letztlich formlos bleiben und sich nach Belieben neu strukturieren und auflösen, so verliert sich auch das lyrische Ich im Kosmis: „und zerging zuletzt wie Dunst“ (Vers 16/17). Ob es den Preis wert war, bleibt dem Leser dabei letztlich unklar. Das lyrische Ich spricht zwar davon, dass es mit den Wolken schrankenlos „denkt“ (Vers 12), was in Antithese zur Torheit der Menschen steht, und dabei in „unergründliche“ Geheimnisse und den Ursprung des Universums selbst (der Samen der Sterne) schaut, aber mit unseren eigenen Beschränkungen bleibt es uns versagt, diese Erkenntnisse zu teilen. Das lyrische Ich kann uns zwar mitteilen, dass es unendliche Weiten gesehen und unergründliche Geheimnisse kennengelernt hat; diese bleiben uns aber letztlich verschlossen, wohl weil die Beschränkungen menschlicher Sprache auch zu jenen Torheiten gehören, an denen das lyrische Ich sich „müde gesehn“ hat.
Die Hypothese hat sich daher bestätigt; das lyrische Ich vermag dem Leser zwar einen Vorgeschmack kosmischer Geheimnisse mitzugeben, der sich aus seiner Müdigkeit für die menschliche Beschränktheit ergibt, vermag die Grenze zwischen Erde und Universum aber nicht einzureißen und unternimmt den Versuch auch nicht ernsthaft.
Für den Vergleich der beiden Gedichte zeigen sich daher einige Gemeinsamkeiten. Sowohl Hesse als auch Morgenstern lassen das lyrische Ich mit dem Leser ein Gefühl tiefer Einsamkeit unter Menschen erleiden und anteilnehmende Partner in nebulösen Naturerscheinungen finden. In beiden Fällen geht das lyrische Ich auch mit einem Erkenntnisgewinn aus seiner Reise ins Innere der Seele heraus.
Am Ende aber überwiegen die Unterschiede deutlich. Dies beginnt bereits bei der Form. Wo bei Hesse eine klare Struktur erkennbar ist, die von der Fragestellung in Strophe zu über den Erkenntnisprozess in Stufe 2 und 3 zur endgültigen Formulierung der Erkenntnis in Strophe 4 verläuft und dabei der Unausweichlichkeit dieser Erkenntnis durch die klare Form mit Kreuzreimschema Ausdruck verleiht, bricht das lyrische Ich bei Morgenstern aus sämtlichen irdischen Beschränkungen heraus und findet folglich auch keinem Poesiegesetz folgenden Aufbau.
Dies spiegelt sich auch in der Erkenntnis selbst. Während Morgensterns lyrisches Ich eine solche Transzendenzerfahrung erlebt, dass es nicht einmal in der Lage ist, diese mit dem Leser in der Sprache der Menschen zu teilen und sich so auf Andeutungen beschränken muss, hin- und hergerissen zwischen der Euphorie der Erfahrung und seiner Verwurzelung in der irdischen Sphäre, formuliert Hesses lyrisches Ich seine Erkenntnis mit durchkonstruierter und unausweichlicher Härte: „Jeder ist allein.“ Bei Morgenstern liegt der Grund für die Einsamkeit unter Menschen eher im Überlegensein, einer Art snobistischer Arroganz. Hesse dagegen formuliert eine allgemeingültige Erkenntnis, deren Realisierung keinen Vorteil bringt. Beide teilen in ihren Gedichten ein negatives Menschenbild, doch sieht Hesse kein Entrinnen, wo Morgenstern sich in die Wolken flüchtet.
Am Ende aber finden beide zusammen, denn in ihrer jeweiligen Erkenntnis gewinnen sie „Weisheit“: Bei Hesse besteht diese Weisheit daraus, die eigene Einsamkeit im Universum zu erkennen, während sie bei Morgenstern eher darin besteht, statt die Einheit mit seinen Mitmenschen lieber gleich mit dem ganzen Kosmos zu suchen.
Während beide Gedichte also durchaus denselben Themengegenstand haben – die Einsamkeit des lyrischen Ichs unter seinesgleichen – unterscheiden sie sich fundamental in der Ursachenforschung und in den daraus zu ziehenden Schlüssen. Morgensterns lyrisches Ich bestätigt die Größe und Majestät des Kosmos‘, Hesses lyrisches Ich wandert alleine durch den Nebel.