Autor/in: Andreas Gryphius Epoche: Barock Strophen: 4, Verse: 14 Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-3, 4-3
In dieser Einsamkeit, der mehr denn öden Wüsten,
Gestreckt auf wildes Kraut, an die bemooste See:
Beschau ich jenes Tal und dieser Felsen Höh',
Auf welchem Eulen nur und stille Vögel nisten.
Hier, fern von dem Palast; weit von des Pöbels Lüsten,
Betracht' ich: wie der Mensch in Eitelkeit vergeh',
Wie, auf nicht festem Grund all unser Hoffen steh',
Wie die vor Abend schmähn, die vor dem Tag uns grüßten.
Die Höll', der rauhe Wald, der Totenkopf, der Stein,
Den auch die Zeit auffrisst, die abgezehrten Bein'
Entwerfen in dem Mut unzählige Gedanken.
Der Mauern alter Graus, dies unbebaute Land
Ist schön und fruchtbar mir, der eigentlich erkannt,
dass alles, ohn' ein' Geist, den Gott selbst hält, muss wanken.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Unsicherheit und Orientierungslosigkeit prägten das Lebensgefühl der Menschen in der Barockzeit. Man ging davon aus, dass nichts von Bestand und alles vergänglich war. Dies begründete einerseits eine tiefe Religiosität, andererseits beim Adel aber auch eine Verschwendungssucht. Man wollte das Leben genießen solange es andauerte. Die Vergänglichkeit allen Lebens und Schaffens war den Menschen bewusst und wurde auch in der Literatur reflektiert.
Diese epochale Grundeinstellung spiegelt das Gedicht „Einsamkeit“ wider, welches 1650 von Andreas Gryphius verfasst wurde. Es handelt von der Vergänglichkeit alles Irdischen und benennt als einzigen Ausweg die Erlösung durch Gott.
In der ersten Strophe wird ein einsames, naturbelassenes Gebiet beschrieben, welches die Gefühlsebene des lyrischen Ichs widerspiegelt. Das lyrische Ich befindet sich an einer höher gelegenen Stelle, von wo aus die Landschaft überblickt werden kann. In der zweiten Strophe legt das lyrische Ich, fernab der Zivilisation, seine Ansichten über die Lebensweise der Menschen dar.
Die dritte Strophe thematisiert die Vergänglichkeit aller Dinge und in der vierten Strophe wird der Glaube an Gott als Ausweg aus der Vergänglichkeit beschrieben.
Das Gedicht folgt dem Aufbau eines Sonetts, welches aus zwei Quartetten und zwei Terzetten besteht und in Alexandrinern verfasst ist. In den ersten beiden Strophen sind umarmende Reime (jeweils Vers 1 und 4) und Paarreime (jeweils Vers 2 und 3) zu finden, die Terzette enthalten jeweils einen Paarreim und drei Enjambements2 und sind miteinander durch einen Schweifreim verbunden.
In der ersten Strophe wird die Situation des lyrischen Ichs beschrieben. Es ist einsam und isoliert von der Außenwelt. Mit einer Hyperbel3 wird die Abgeschiedenheit der „mehr denn öden Wüsten“ (Vers 1) verdeutlicht. Die Wüste steht für einen verlassenen, stillen und unwirtlichen Ort und die Hyperbel verstärkt diesen Eindruck noch. Die einzigen genannten Lebewesen sind Eulen, welche nachtaktiv sind, und „stille Vögel“ (Vers 4), die das lyrische Ich nicht in seiner Einsamkeit stören. Es liegt auf „wildem Kraut“ (Vers 2), was abermals verdeutlicht, dass es sich weit entfernt von jeglicher Zivilisation befindet. Von hier aus beschaut es „jenes Tal und dieser Felsen Höh“ (Vers 3). Das lyrische Ich befindet sich an einem Ort, von dem es ein größeres Gebiet von oben überblicken kann. Diese Wahl des Standortes steht im Bezug zur zweiten Strophe, in der das lyrische Ich die Lebensweise seiner Mitmenschen distanziert erfasst und beurteilt. Von oben hat es eine bessere und klarere Sicht auf die Dinge. Es befindet sich „fern von dem Palast weit von des Pöbels Lüsten“ (Vers 5). Die Metonymie4 des Palastes, welcher für die reichen Adligen steht, ist ein Hinweis auf deren verschwenderischen Prunk und Luxus. Das lyrische Ich scheint sich vom Adel zu distanzieren; dieser Eindruck wird mit der abwertenden Bezeichnung „Pöbel“ verstärkt. Mit dem Wort „Pöbel“ wird ein Mangel an Bildung und Kultiviertheit unterstellt.
Fernab der Zivilisation wird sich das lyrische Ich über die „Eitelkeit“ (Vers 6) des Menschen bewusst. Der Begriff der Eitelkeit ist in der Sprache des Barock ein Synonym für die Vergänglichkeit. Das lyrische Ich begreift die Vergänglichkeit allen Lebens und Schaffens. Alles steht auf „nicht festem Grund“ (Vers 7), ist unsicher, instabil und endlich. Das lyrische Ich beobachtet, wie die Menschen „vor Abend schmähn, die vor dem Tag […] grüßten“ (Vers 8). Der Abend steht für das Ende des Lebens, da er mit dem Einbruch der Dunkelheit und der Nacht verbunden wird. Die Angst der Menschen vor dem Tod wird hier verdeutlicht. Wer am Tag noch Lebensfreude und Geselligkeit zeigte, hat bereits am Abend Angst vor dem Tod. Die Gegenüberstellung von „Tag“, als Metapher für das Leben und „Abend“ als Metapher für das Sterben, verdeutlicht die Kürze des menschlichen Lebens und die Unausweichlichkeit des Todes, da der Rhythmus von Tag und Nacht schnell und regelmäßig ist. Diesen zu verändern oder zu umgehen, liegt nicht in der Macht des Menschen.
Die Antithetik zwischen der Diesseitsorientierung des Adels und der Erkenntnis, dass alles vergänglich ist, veranschaulicht den Zwiespalt des barocken Lebensgefühls.
Im ersten Terzett wird der Leitgedanke der Vergänglichkeit allen Seins erneut aufgegriffen und vertieft. Es beginnt mit einer Kumulation: „Die Höhl, der raue Wald, der Totenkopf, der Stein“ (Vers 9). Die Aufreihung karger, beunruhigender Gegenstände illustriert das „Memento mori“ Motiv. Die Höhle ist dunkel und es ist schwer, sich in ihr zu orientieren. Diese Orientierungslosigkeit wird auch mit dem rauen Wald assoziiert. Der „Totenkopf“ ist ein Symbol des Todes.
Die Metapher des Steins, „den auch die Zeit auffrisst“, (Vers 10) umschreibt, dass nichts beständig ist. Selbst ein harter und robuster Stein ist nicht beständig. Die Personifikation5 der fressenden Zeit verleiht ihr etwas Bedrohliches und Mächtiges. Niemand kann sich widersetzen oder davonlaufen, wenn seine Zeit abgelaufen ist.
„Die abgezehrten Bein“ (Vers 10) beschreiben ein Skelett, welches als einziger Überrest eines verstorbenen Menschen wiederum auf den Tod und die Vergänglichkeit hinweist. All diese Gegenstände wecken „in dem Mut unzählige Gedanken“, welche vermutlich von Angst und Hilflosigkeit geprägt sind.
Im vollständigen Gegensatz zur von Pessimismus geprägten dritten Strophe steht die vierte Strophe des Gedichts. Hier begreift das lyrische Ich, dass „alles, ohn ein Geist, den Gott selbst hält, muss wanken.“ Nur Menschen, die von Gott gesegnet sind, haben Aussicht auf ein Leben nach dem Tod. Das lyrische Ich erkennt, dass einzig Gott ewig und unvergänglich ist und nur der christliche Glaube einen Ausweg aus der Vergänglichkeit weist. Angesichts dieser Erkenntnis erscheint dem lyrischen Ich „der Mauren alter Graus, dies ungebaute Land […] schön und fruchtbar“. Obwohl der Schutt der Mauern und die karge Landschaft Metaphern6 für die Vergänglichkeit sind, stellen sie keine Bedrohung mehr da, denn der Glaube an Gott und ein ewiges Leben nach dem Tod stimmt das lyrische Ich optimistisch.
Der Titel des Gedichts, „Einsamkeit“, weist darauf hin, dass das lyrische Ich erst durch die Abgeschiedenheit von der Zivilisation und dem pompösen Lebensstil der Adligen begreifen kann, dass einzig der Glaube an Gott wichtig ist. Der Abstand und die Einsamkeit ermöglichen dem lyrischen Ich die Erkenntnis der Nichtigkeit des irdischen Lebens und der Notwendigkeit der Hinwendung zu Gott.
Das Sonett1 ist ein Beispiel für das Lebensgefühl der Menschen in der Barockzeit. Es greift vor allem den Leitgedanken der Vergänglichkeit auf, zeigt anders als viele andere Barockgedichte am Ende jedoch den Ausweg der Erlösung durch Gott auf.
80;
Bewertungen
Bisherige Besucher-Bewertung: 13 Punkte, sehr gut (-) (13,3 Punkte bei 872 Stimmen) Deine Bewertung: