Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Marie Luise Kaschnitz (1901-1974) schrieb im Jahre 1962 „Ein Gedicht“. Die Autorin befasste sich schon ihr ganzes Leben lang mit der Literatur. Sie vollzog eine Ausbildung im Buchhandel und arbeitete ab 1958 als freie Schriftstellerin.
In diesem Werk beschreibt sie ihr besonderes Verhältnis zu Gedichten und wie ihre Gedichte entstehen.
„Ein Gedicht“ gliedert sich in fünf Strophen von unterschiedlicher Länge. Es beginnt mit einer Strophe aus sechs Versen, wobei es bis zur dritten Strophe immer ein Vers weniger wird.
Die vierte Strophe besteht dann nur noch aus zwei Versen, aber die letzte besitzt wieder vier Verse. Es zeigt sich kein festes Reimschema oder Metrum1. Diese Merkmale sind typisch für die Lyrik in der Zeit nach 1945 und den 2. Weltkrieg.
Das lyrische Ich steht meiner Ansicht nach stellvertretend für alle Dichter. Man könnte es also auch mit der Verfasserin Marie Luise Kaschnitz gleichsetzen.
Das lyrische Ich ist ein erlebendes Ich voller Tatendrang. Das erkennt man daran, dass die Handlungen durch unzählige Verben beschrieben werden, wie zum Beispiel „zu scheren“ (V.9) oder „zu waschen“ (V. 10).
Im ersten Vers wird erklärt, dass ein Gedicht aus Worten gemacht sei, also etwas Künstliches ist. Das lyrische Ich fragt anschließend: „Wo kommen die Worte her?“. Diese rhetorische Frage regt den Leser zum Nachdenken an, doch ehe er für sich diese Antwort gefunden hat, gibt das lyrische Ich diese schon selbst. Die unvermittelte und ausführliche Antwort wird durch die Anapher „Aus den…“ (V. 3,4 und 5) und jeweils einem Vergleich, der durch die Konjunktion „wie“ charakterisiert ist, verstärkt. Die Worte kommen „Aus den Fugen wie Asseln“ (V.3). Das zeigt, dass sie seinen Willen aus seinen Gedanken hervorkommen. Die Worte kommen „Aus dem Maisstrauch wie Blüten“ (V.4). Dieses sprachliche Bild soll die Schönheit der Worte beschreiben. Ein Maisstrauch entwickelt sich zu etwas Schönem, wenn seine Blüten hervorkommen. Wenn Worte aus dem Feuer wie Pfiffe kämen (V.5) wäre das ebenso unvermittelt. Diese drei Verse stellen eine Synästhesie2 dar, denn es verbindet zwei Sinneseindrücke miteinander.
Das lyrische Ich erläutert anschließend, dass sie sich alles, was ihr zufällt, nehmen würde (V.6).
Im Folgenden beschreibt das lyrische Ich , wie sie die Wörter verarbeitet und was sie mit ihnen macht.
In der zweiten Strophe werden ebenfalls durch Anaphern3 („Es zu…“ V.7,8 und 9) vier Verfahren genannt, wie Worte bearbeitet werden. „Es zu kämmen gegen den Strich“ (V.7) meint die Verwendung des Wortes als etwas, was es eigentlich gar nicht aussagt oder bedeutet.
Auch „Es zu paaren widernatürlich“ (V.8) soll darauf hinweisen, dass mehrere Wörter, die inhaltlich ebenfalls nicht zusammenpassen, durch die Kunst des Dichters so verwendet werden, dass sie gemeinsam eine sinnvolle Aussage darstellen.
„Sie nackt zu scheren“ (V.9) oder „Sie in Lauge zu waschen“ (V.10) weist darauf hin, dass der Dichter den Worten durch ihre Zusammenstellung eine eindeutige Aussage bzw. Bedeutung zukommen lässt.
Nach diesen Verfahren beschreibt das lyrische Ich „die Worte“ (V.2) mit dem Possessivpronomen „Mein Wort“ (V.11) und zeigt somit, dass ein Dichter sich alle denkbaren Wärter durch seine eigene Zusammenstellung zu seinen Worten macht. Um auf diese These besondere Aufmerksamkeit zu lenken, ist dieser Vers auch in den Gedichtmittelpunkt gesetzt worden.
Die vorhergehend erläuterte Feststellung ist auch in Vers 12 zu beobachten, indem die Worte „Taube“ und „Fremdling“ durch das Pronomen „mein“ zu Worten des lyrischen Ichs und somit zu Worten eines Dichters gewandelt werden.
Die darauffolgenden drei Verse verdeutlichen die Art und Weise der Verwendung der ausgewählten Wärter eines Dichters. Ihre Bedeutung kann so verändert werden, dass das Wort, obwohl es einen eindeutigen Charakter besitzt, diesen Charakter verliert und bedeutungslos erscheint („Von den Lippen zerrissen“ V.13).
Man kann den Worten aber auch Kraft und Ausdruck verleihen, indem sie besonders hervorgehoben werden („Vom Atem gestoßen“ V.14) oder ihre Bedeutung minimieren und sie weniger stark hervorheben („In den Flugsand geschrieben“ V.15). Die Art der Bedeutungsverschiebung bestimmt im Wesentlichen die Aussage der Wörter eines Gedichtes.
Die vierte Strophe ist die kürzeste im gesamten Gedicht. Daher kommt ich die meiste Bedeutung zu, denn die Verfasserin möchte durch die Verwendung von nur zwei Versen das Auge des Lesers auf diese Stelle des Gedichtes lenken.
Die Verse beschreiben das Zusammensetzen der Worte. Entweder mit Worten „seinesgleichen“ und „seinesungleichen“ . Damit wird der Bezug zu Vers 8 wieder hergestellt: die Wörter „paaren widernatürlich“.
Wie die Wärter durch den Dichter zusammengesetzt werden, ist das Wichtigste im gesamten Prozess des Gedichteschreibens. Er verleiht somit seinem Gedicht eine Aussage und eine Intention. Der Dichter hat also durch seine Wortwahl und Wortzusammensetzung die Macht in seinen Händen. Er kann auch Gedichte schaffen, die die Leser manipulieren, wie es beispielsweise zur Zeit des Nationalsozialismus geschehen ist. Auf der anderen Seite kann man aber auch Liebe oder Glück darstellen und eine positive Absicht verfolgen.
Die letzte Strophe stellt die Fertigstellung eines Gedichtes dar. Es wird „Zeile für Zeile“ (V.18) zusammengebaut. Um zu verdeutlichen, dass es ein Prozess ist, also eine Abfolge von Handlungen, wird dieser Vers nach einem weiteren Vers nochmals wiederholt.
Das Ergebnis beschreibt das lyrische Ich mit einer Antithese4 von „Wüste“ und „Paradies“ (V.18 und 19). Die Wüste symbolisiert etwas Trockenes und Totes bzw. Unlebendiges. Sie deutet auf ein Gedicht hin, welches vielleicht Trauer oder sogar den Tod darstellen soll. Das Paradies hingegen ist voller Leben, Farbe und symbolisiert Freude oder gar Liebe, wenn man es auf Adam und Eva bezieht. Trotzdem ist es bloß auf dem ersten Blick eine Antithese, denn die Wüste ist ebenfalls voller Leben. Man findet dort viele Tierarten, aber auch Oasen.
Das Paradies ist auch nicht nur Freude und Leichtigkeit. Adam und Eva wurden großen Versuchungen ausgesetzt und haben so ihr Paradies verloren.
Diese beiden Worte stehen sinnbildlich für die Aussagekraft von Gedichten, denn man kann sie immer wieder anders deuten.
Auffällig ist aber auch, dass erst an dieser Stelle ein Satzzeichen steht. Von Vers 2 bis zum Schluss sind nur Kommata und Enjambements5 zu finden. Die Verwendung dieser langen Hypotaxe soll dem Leser verdeutlich, dass das Verfassen eines Gedichtes von Anfang an bis zum Ende ein gut überlegter Prozess zu Grunde liegt. Am Ende dieses Ablaufes entsteht ein Gedicht, das der Verfasser als „Mein “ bezeichnen kann.
Marie Luise Kaschnitz versucht mit „Ein Gedicht“ zu zeigen, wie ein solches entsteht. Sie will dem Leser aber auch die Verantwortung eines Dichters näherbringen, da dieser durch die Zusammenstellung der Wörter eine Aussage formuliert, die den Leser auf eine Gewisse Art und Weise beeinflussen kann.
Obwohl das Gedicht vor knapp einem halben Jahrhundert geschrieben wurde, ist die Kernaussage immer noch aktuell. Gedichte werden immer durch ihre Wörter und deren Bedeutung bestimmt.