1. Kurzgeschichte: Hauptsache weit / Und weg, hatte er gedacht (2001)
Autor/in: Sibylle BergEpoche: Gegenwartsliteratur / Literatur der Postmoderne
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Es schienen so golden die Sterne, | ||
Am Fenster ich einsam stand | ||
Und hörte aus weiter Ferne | ||
Ein Posthorn im stillen Land. | ||
Das Herz mir im Leib entbrennte, | ||
Da hab ich mir heimlich gedacht: | ||
Ach, wer da mitreisen könnte | ||
In der prächtigen Sommernacht! | ||
Zwei junge Gesellen gingen | ||
Vorüber am Bergeshang, | ||
Ich hörte im Wandern sie singen | ||
Die stille Gegend entlang: | ||
Von schwindelnden Felsenschlüften, | ||
Wo die Wälder rauschen so sacht, | ||
Von Quellen, die von den Klüften | ||
Sich stürzen in die Waldesnacht. | ||
Sie sangen von Marmorbildern, | ||
Von Gärten, die überm Gestein | ||
In dämmernden Lauben verwildern, | ||
Palästen im Mondenschein, | ||
Wo die Mädchen am Fenster lauschen, | ||
Wann der Lauten1 Klang erwacht | ||
Und die Brunnen verschlafen rauschen | ||
In der prächtigen Sommernacht. - |
1 | Die Laute ist ein Musikinstrumente. Sie wird häufig mit dem Mittelalter in Verbindung gebracht, da das Saiteninstrument von Minnesängern eingesetzt wurde. |
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Aufgabe 1: Interpretation von „Hauptsache weit“
Aufgabe 2: Vergleich zu „Sehnsucht“ von Eichendorff
Interpretieren Sie die Kurzgeschichte „Hauptsache weit“ von Sibylle Berg.
Die Kurzgeschichte Hauptsache weit (2001) wurde von Sibylle Berg verfasst und behandelt die Asienreise eines 18-jährigen Schulabgängers.
Im Mittelpunkt stehen hierbei die unerfüllten positiven Erwartungen des Protagonisten an die Reise, die sogar ins Gegenteil umschlagen. Durch die negativen Erfahrungen während der Reise erscheint die Heimat hier als der positive Bezugspunkt des Individuums.
Die Geschichte leitet ein mit einem Abschnitt (Z. 1-6), der die Ausgangssituation des namenlosen Protagonisten im Präteritum schildert, was auf die Vergangenheit des Gedachten verweist. Dieser sei nämlich ein „schöner Junge mit langen dunklen Haaren“ (Z. 3) und mache gerne kreative Dinge (vgl. Z. 3-5). Nach dem Abschluss der Schule hatte für den Jungen das Leben noch nicht richtig angefangen (vgl. Z. 1-2), wodurch die spätere Reise als dessen Beginn aufgewertet wird.
Das Fernweh des Jungen wird gleich am Anfang durch die zwei Wörter der Ellipse1 „Und weg“ (Z. 1) und auch durch den Titel der Kurzgeschichte prägnant ausgedrückt. Der Protagonist möchte eine große Reise machen, damit sein Leben endlich beginnt und kennt hierbei auch keine Angst (vgl. Z. 1-2), was bereits die Naivität seines Unternehmens andeutet.
Im nächsten Abschnitt (Z. 7-24) befindet sich der Protagonist in einem Hotelzimmer und blickt auf die hauptsächlich negativen Erlebnisse seiner Reise zurück.
In einem kurzen Binnenabschnitt (Z. 11-16) werden die Motive der Reise erläutert. Bei diesen ursprünglichen Motiven wird die negative Charakterisierung der Heimat Deutschland deutlich, der hier Adjektive wie „eng“ (Z. 13) und „langweilig“ (Z. 14) zugeschrieben werden. Dies wird verstärkt durch das Adjektiv „blass“ (Z. 15), mit dem die Freunde des Protagonisten bezeichnet werden, die den Protagonisten nach Angst fragen. Gegenüber dem kühnen Jungen wirken die Heimat und die Freunde als dessen Repräsentanten hier spießig und kleinkariert.
Die Illustration der negativen Erlebnisse der Reise wird eingeleitet durch eine rhetorische Frage:„Warum kommt der Spaß nicht?“ (Z. 7), in der bereits die Gesamtaussage des Abschnitts steckt, denn die hohen Erwartungen erfüllen sich nicht, ganz im Gegenteil gibt es sogar negative Erfahrungen. So bekommt er angesichts des fremden Essens Magenprobleme (vgl. Z. 9-11) und auch die kennengelernten Mädchen sehen deutlich älter aus als sie sind (vgl. Z. 18).
Das Pensionszimmer wird mit dem pejorativen2 Adjektiv „hässlich“ (Z. 20) belegt, was die negative Gesamtaussage verstärkt. Die negativen Erfahrungen kulminieren am Ende des Abschnitts in der Erfahrung, sich vom Weinen zurückhalten zu müssen (vgl. Z. 21).
In diesem Abschnitt (Z. 25-40) wird der Themenkomplex Heimweh auf behandelt. So hat der Junge nun sogar ein Heimweh nach den heimischen Prominenten (vgl. Z. 25-28), aber insbesondere auch nach persönlichem Kontakt wie einem Anruf (vgl. Z. 28). Er denkt, ohne diesen persönlichen Kontakt existiere er gar nicht, also weitet sich hier sein Heimweh zu handfesten existenziellen Sorgen aus. Dieser „erhitzte“ Gemütszustand wird auch durch das Adjektiv „heiß“ betont, welches hier das „Zimmer“ (Z. 29) und die „Nacht“ (Z.30) näher charakterisiert. Der Junge fängt nun doch an zu weinen (vgl. Z. 34), womit der im vorherigen Abschnitt noch unterdrückte Wunsch hiernach zu Ende geführt wird. Er lässt noch einmal die nicht in Erfüllung gegangenen positiven Erwartungen an die Reise Revue passieren (vgl. Z. 36-37), die direkt von der paradoxen3 negativen Empfindung kontrastiert werden, dass selbst die Tiere „ausländisch“ sprächen (vgl. Z. 39).
Doch jetzt kommt es zum Wendepunkt in der Geschichte, der auch einen neuen, letzten Abschnitt (Z. 41-49) einleitet. Hier macht der Protagonist die Entdeckung eines Internet-Cafés, in welchem zumindest temporär seine Probleme wie gelöst erscheinen. Er kann nämlich durch das Internet und Soziale Netzwerke wieder mit der gewohnten sozialen Umgebung seiner Heimat in Kontakt treten. Dieser Vorgang wird ist auch auf sprachlicher Ebene zu beobachten; hier wird mit den beiden Verben „verschwimmen“ und „eintauchen“ (Z. 46) metaphorisch ein Einswerden mit der Heimat, eine zumindest gedankliche Heimreise suggeriert. Der als Vehikel hierzu dienende Monitor wird metaphorisch als ein „weiches Bett“ (Z. 47) gehuldigt.
Auffällig ist, dass er seine Freunde anlügt und positiv von seiner Reise berichtet, er also nicht dazu bereit ist, seine ursprüngliche schwärmerische Naivität einzugestehen, die ihn zur Reise veranlasste und die er als Begründung hierzu vor den Freunden nutzte. Möglicherweise würde so ein Eingestehen vor Dritten zu einer noch größeren psychischen Verletzung des Protagonisten führen, da es ihm die eigene mangelnde Urteilskompetenz vor Augen führt; so dient die Lüge als Flucht vor den eigenen Fehlern.
Schlussendlich wird ausgeführt, der Junge sei während der Zeit im Internet-Café wieder „am Leben“ (Z. 48), womit metaphorisch ausgedrückt wird, dass er seinen drückenden Existenzsorgen ob des Heimwehs nun enthoben ist durch die Verbindung zur Heimat.
Bei der Analyse des Erzählsystems fällt zuerst das zu konstatierende personale Erzählverhalten auf, da wir nur die Perspektive des Protagonisten auf die Geschichte sehen und kommentierende Elemente fehlen. In dieser Kurzgeschichte führt das personale Erzählverhalten und die Innensicht der Erzählperspektive dazu, dass insbesondere die individuellen Gefühle und Emotionen des Protagonisten trotz fehlender Ich-Perspektive genau gezeichnet werden können. Die Erzählhaltung kann als neutral-distanziert gewertet werden, weil weder eine besonders positive noch eine negative Beziehung der erzählenden Person zum Protagonisten ersichtlich ist.
Die Kurzgeschichte von Berg thematisiert insbesondere die Gefühle Heim- und Fernweh und ihr Verhältnis zueinander. Aus dem Fernweh des Jungen entsteht schließlich Heimweh aufgrund der negativen Erfahrungen der Reise. Wegen dieser Folge wird das Fernweh selbst konterkariert und die Heimat als ein persönlicher Bezugspunkt, ein Safe Space für das Individuum rehabilitiert.
Als eine Art Lehre kann aus der Geschichte der Schluss gezogen werden, dass ein emotional bedingtes Fernweh immer reflektiert werden und nicht vorschnell in die Tat umgesetzt werden sollte.
Vergleichen Sie – ausgehend von Ihren Interpretationsergebnissen – die Sicht auf das Thema Reisen in Bergs Kurzgeschichte mit derjenigen in der ersten Strophe aus Joseph von Eichendorffs Gedicht Sehnsucht.
Die Kurzgeschichte Hauptsache von Sibylle Berg behandelt wie auch die erste Strophe des Gedichts Sehnsucht (1834) von Joseph von Eichendorff das Thema Reisen im weitesten Sinne.
In Eichendorffs Gedicht wird vor allem eine verklärend-idealisierte Sichtweise des Reisemotivs ausgedrückt, die hier dem Gefühl des Fernwehs, ausgelöst durch einen Blick in den nächtlichen Himmel, entspringt. Der lyr. Sprecher ist durch seine Einsamkeit (vgl. V.2) zu einer besonderen Gefühlsintensität fähig, die auch sogleich durch den Blick in den Sternenhimmel evoziert wird (vgl. V. 1,5). Durch das der Romantik spezifische Nachtmotiv wird die Dimension der Transzendenz5 berührt (vgl. V. 1,7), die vor allem im Gefühl des Fernwehs steckt (vgl. V. 7,8). Das Werk könnte als eine hymnische Verklärung des Fernwehs, ja des Reisens schlechthin gelesen werden, legte nicht der Epochenkontext nahe, dass es sich hierbei vielmehr um eine metaphysische Sehnsucht nach der Unendlichkeit handelt.
In Bergs Kurzgeschichte wird das Thema Reisen erst durch die früheren naiven Illusionen des Protagonisten behandelt (vgl. Z. 1-5). Hier können Parallelen mit der scheinbar ebenso naiv-verklärenden Verarbeitung des Fernwehmotivs in Eichendorffs Gedicht gesehen werden. Beide Sprecher sind dem Reisen entgegen positiv eingestellt (vgl. Z.1; V. 7), wenn auch mit unterschiedlichen Zielen. So möchte Bergs jugendlicher Protagonist Abenteuer erleben, da sein Leben noch nicht begonnen habe (vgl. Z.1,2), während Eichendorffs lyr. Sprecher – meiner Interpretation zufolge – durch das Reisen auf eine Erlösung von existenziellen Lebenssorgen abzielt, ja geradezu in die Unendlichkeit reisen möchte.
Der Protagonist bekommt bei Berg bekommt es im Gegensatz hierzu erst mit existenziellen Lebenssorgen zu tun, nachdem er dem Drang des Fernwehs nachgibt, welches dann in Heimweh umschlägt (vgl. Z. 24).
Gerade die Substantive „Sterne“ (V. 1) und „Sommernacht“ (V. 8) deuten bei Eichendorff eine mystische Grundierung der Handlung an, die in Bergs Kurzgeschichte und auch in dessen ideellen Kontext gänzlich absent ist.
Berg schildert ferner zahlreiche Probleme und negative Konsequenzen, welchen der Protagonist auf seiner Asienreise ausgeliefert ist (vgl. Z. 7-40), was bei Eichendorff nicht der Fall ist – ganz im Gegenteil, da solche negativen Aspekte entscheidend die verklärende Konzeption des Werkes stören würden.
Die Rettung aus seinem Debakel erlebt Bergs Protagonist erst, als er im Internet-Café mit der angestammten sozialen Umgebung seiner Heimat in Kontakt treten kann (vgl. Z. 40-49). Durch die Verbindung mit der Heimat wird das Debakel so einige Stunden pausiert. Dieser Vorgang wird natürlich wegen des unterschiedlichen Handlungsverlaufes in Eichendorffs Gedicht nicht thematisiert.
Nichtsdestotrotz sind auch hier Parallelen zu finden, da nämlich beide Personen Erlösung suchen, hierfür ist das Reisen bei Eichendorff die Lösung und bei Berg das Problem. Berg verdeutlicht hier die stabilisierende Bedeutung des heimischen Sozialgefüges, für die das mit hohen Zielen angefangene und im Debakel der Isolation endende Reisen eher eine Gefahr denn eine Erlösung – wie bei Eichendorff - darstellt.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Thema Reisen der Ausgangspunkt beider Werke ist, wobei in Bergs Kurzgeschichte eher mögliche negative Folgen aufgezeigt werden, die erst durch ein Rückbezug auf die Heimat des Protagonisten – temporär – gelöst werden können. Im Gegensatz dazu bietet Eichendorff mit seinem Gedicht eine einseitig-positive Auseinandersetzung mit dem Reisen als Lösung aller Probleme, als eine Weltflucht in die Transzendenz.