Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Joseph von Eichendorff ist einer der bekanntesten und bedeutendsten Lyriker der Romantik, der die romantische Epoche nachhaltig geprägt hat. Sein gegen Ende der Hochromantik (1815) veröffentlichtes Gedicht „Das Mädchen“ handelt von einem Mädchen, das morgens am Fenster steht, in den Garten blickt und dabei anfängt, ein Lied zu singen.
Das Gedicht beginnt mit der Beschreibung der Situation: Ein Mädchen steht morgens am Fenster, kämmt seine Haare und wäscht seine Augen. In der zweiten Strophe werden Natur und Tiere, die vom Fenster aus wahrgenommen werden, beschrieben. In der dritten Strophe wandert der Fokus wieder auf das Mädchen, welches sich streckt und sorgenvoll seine Haare flicht und dabei ein Lied singt. Dieses Lied bildet die vierte Strophe. Es handelt davon, dass die Vögel durch ihre Freiheit und Unbeschwertheit einen dazu ermutigen, selbst hinauszugehen.
Typisch für die Romantik ist es, dass unterschiedliche Gattungen miteinander verschmelzen. In diesem Fall also Lyrik und Musik.
Das Gedicht „Das Mädchen“ besteht aus 4 Strophen mit jeweils 4 Versen, die dem Reimschema des Kreuzreims folgen. Unterbrochen wird dieses Schema nur im ersten und dritten Vers, da sich „Fenster“ (V. 1) und „Haare“ (V. 3) nicht reimen. Das Metrum1 wird durchgängig durch einen vierhebigen Trochäus bestimmt. Durch die klare Struktur, das Reimschema und die sich abwechselnden weiblichen und männlichen Kadenzen2, wirkt das Gedicht wie ein Volkslied, was typisch für die Romantik ist.
Es fällt auf, dass das Gedicht ein Gefühl von Harmonie und ein Bild eines lebendigen, schönen Morgens bei dem Leser bewirkt. Erreicht wird dies durch positiv konnotierte Adjektive wie „klar“ (V. 4), „schönen“ (V. 7), „hell“ (V.13), „rein“ (V.13) und „muntre“ (V.14), außerdem durch positiv konnotierte Substantive wie „Vöglein“ (V.5), „Sonnenschein“ (V. 6) und „Lieb“ (V.14). Gebrochen wird diese Harmonie nur durch den Vers „Ach, sie war so voller Sorgen“ (V.11). Möglicherweise handelt es sich hierbei um Ironie, da sich das lyrische Ich über des Mädchens Unschuld und Unbeschwertheit lustig macht. Wenn man aber genauer auf den Inhalt schaut, wird deutlich, dass das Mädchen trotz dieses schönen Morgens Sorgen hat. Dies ist unter anderem an dem Ausruf in Vers 16 zu erkennen („Ach, wer da zu Hause blieb!“ (V.16)). Das Mädchen wünscht sich also, in die Welt zu gehen, die es aus seinem Fenster beobachten kann. Offensichtlich scheint sie selbst nicht frei zu sein, da sie gern „wein Vöglein hell und reine“ die Freiheit in der Natur genießen würde. Auch das Bild von fliegenden Wolken (V.8) verstärkt ihre Sehnsucht nach Ungebundenheit. Es stellt sich die Frage, wer sie denn daran hindert, hinauszugehen. Möglicherweise liegt es an ihrem Geschlecht, auf das sogar schon der Titel hinweist („Das Mädchen“). Mädchen und Frauen besaßen zur Zeit der Romantik nur wenig Entscheidungsrecht und wurden meist von Männern bevormundet. In der Romantik spielte das weibliche Geschlecht in der Literatur nunmehr eine aufstrebende Rolle. Bei dem Mädchen im Gedicht stellt sich die Frage, ob sie wirklich nur Sehnsucht nach dem Garten hat oder sogar nach einem anderen Leben: Ein Leben in Freiheit?
Auf die bereits erwähnte Unschuld des Mädchens, die auch mit Unreife zu vergleichen ist, weist das Diminutiv3 „Äuglein“ (V.4) hin. Durch das Diminutiv „Vöglein“ (V. 5, V. 13) wirkt das Gedicht wie ein Kinderlied oder sogar ein Märchen, was zum einen durch die Zeitform des Präteritums erreicht wird, zum anderen aber vor allem durch den Fakt, dass das Mädchen am Fenster steht, ihre langen Haare kämmt und nicht nach draußen kann. Diese Begebenheit erinnert stark an das Märchen „Rapunzel“, was kein Wunder ist, da die Romantik als Epoche bekannt ist, in der die Gebrüder Grimm4 ihre Märchensammlungen veröffentlicht haben.
In der Romantik taucht außerdem der Begriff der „progressiven5 Universalpoesie“ auf, welche das erste Mal von Friedrich Schlegel erwähnt wurde. Das Ziel der progressiven Universalpoesie war neben Aspekten wie der Poetisierung der Welt auch das Lebendigmachen der Poesie. Diese Lebendigkeit wird durch Personifikationen6 in Vers 6 „Sonnenschein spielt‘ vor dem Haus“ und Vers 8: „Flogen Wolken“ erreicht. Sehr prägnant ist das in der Romantik immer wieder auftauchende Fenstermotiv, welches auch in diesem Gedicht Rolle spielt („Stand ein Mädchen am Fenster“ (V.1)) und im Allgemeinen ein Symbol von Sehnsucht, aber auch der Verbindung zweier Ebenen, nämlich draußen und drinnen, und somit des Verschwimmens von Grenzen, das ebenfalls ein Motiv der Romantik ausmacht, darstellt.
Das einzig „Unromantische“ in „Das Mädchen“ ist die Tatsache, dass eine Situation am Morgen beschrieben wird. Eine Vielzahl romantischer Gedichte handelt von Nacht oder Abenddämmerung, da gerade in der Dunkelheit das eben erwähnte „Verschwimmen von Grenzen“ zum Tragen kommt. Warum hat Joseph von Eichendorff sein Gedicht also nicht in der Nacht spielen lassen?
Das mag daran liegen, dass in der Nacht, wenn alles schläft und in Dunkelheit getränkt ist, die wahren Probleme und Sorgen auch in der Dunkelheit verschwinden. Von dieser Unbeschwertheit in der Nacht handeln viele romantische Gedichte. Dieses Gedicht hingegen zeigt das Erwachen nach so einer Nacht und somit auch die Sorgen, die nun wieder zum Vorschein kommen, nämlich die nach der nicht erreichbaren Freiheit.