Gedicht: D-Zug (1912)
Autor/in: Gottfried BennEpoche: Expressionismus
Strophen: 8, Verse: 24
Verse pro Strophe: 1-2, 2-5, 3-3, 4-1, 5-4, 6-4, 7-1, 8-4
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Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Gottfried Benns D-Zug erschien 1912 und gehört zur Epoche des Expressionismus (1910-1920). Der Begriff ‚Expressionismus‘ stammt vom lateinischen Wort expressio (Ausdruck) und bedeutet ‚Ausdruckskunst‘. Die Dichter dieser Zeit lehnten sich gegen die Tradition des 19. Jahrhunderts auf, das schon lange kritisiert wurde, aber bisher nicht in einer solchen Schärfe. Sie kritisierten aktuelle Entwicklungen wie die Industrialisierung, Urbanisierung, Zivilisation und das wilhelminische Bürgertum.
Expressionistische Themen waren die Großstadt, der Weltuntergang, der Krieg und der Ich-Zerfall. Viele Dichter wendeten sich in ihren Texten provozierend gegen bürgerliche Geschmacksnormen und einen künstlerischen Schönheitsbegriff, der bestimmte Bereiche ausschloss. So griffen sie häufig hässliche Motive auf, wie Verfall, Tod, Wahnsinn, Krankheit und Verwesung, weshalb man auch von der Ästhetik des Hässlichen spricht. Dabei wurden hässliche mit schönen Elementen verschränkt oder traditionelle lyrische Bereiche wie die idyllische Mondpoesie ironisiert. Georg Heym lässt beispielsweise sein Kriegsmonster in Der Krieg den Mond zerdrücken und Georg Trakls Sonne rollt in Grodek dunkel und bedrohlich über den Himmel. Die Dichtersprache wurde auch zerschlagen, weil sie nicht mehr als Ausdrucksmittel der neuen Wirklichkeit taugte. Es handelt sich um Provokation, Spielerei und um ein Aufbegehren gegen die ästhetischen Werte der Bürger, was man gerade in Gottfried Benns Texten sehen kann.
D-Zug gehört zum Themenkomplex des Ichzerfalls, der eng in Zusammenhang mit der Zivilisations- und Großstadtkritik der Lyriker steht. Den Ichzerfall kann man als Krise definieren, die durch die Wahrnehmungsfülle im modernen Lebensraum Großstadt ausgelöst wurde. Das lyrische Ich äußert oft Gefühle der Ohnmacht, der Verlorenheit und der Auflösung des Ichs. Teilweise wird dies auch an körperlichen Verfallsprozessen dargestellt, wie in Gottfried Benns Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke, in seinem Gedicht Schöne Jugend oder in Georg Heyms Die Tote im Wasser. Der Verfallsvorgang wird in vielfältigen Variationen dargestellt und steht in Verbindung mit Themen wie Krankheit, Selbstmord, Verfall und Verwesung des Ichs, bzw. mit der Ästhetik des Hässlichen. Einerseits wird die Ichdissoziation negativ beschrieben wie in Alfred Lichtensteins Punkt, andererseits wird sie in Benns D-Zug oder in Kokain als lustvolle Ich-Entgrenzung erlebt, in der man der Rationalität entgeht.
Benn thematisiert in diesem Gedicht Erotik als Rausch-Erfahrung, wobei sich das Ich zeitweise im Rausch und in einem Zustand des Unbewussten auflöst. Er verdeutlicht den Drang der Menschen nach der Ich-Entgrenzung, die sich im sexuellen Rausch ergibt.
Der Text ist weder logisch noch traditionell aufgebaut. Benn geht nicht chronologisch vor, sondern reiht mehrere Wahrnehmungen aneinander. Er wechselt zwischen Strophen und Versen und verwendet den typisch expressionistischen Zeilenstil1. Der Text weist auch keinen einheitlichen Rhythmus auf. Seine Metaphern2 und Vergleiche sind teils unauflösbar und verdichten sich zu mehrdeutigen Chiffren3. Er schafft Neologismen4 und spricht von „Sichel-Sehnsucht“ (V. 6), „Georginennähe“ (V. 10), „Frauenhellbraun“ (V. 20) und „Männerdunkelbraun“ (V. 20). Auch in der Syntax, Grammatik und Zeichensetzung finden sich Unregelmäßigkeiten.
Zum Einstieg des Gedichts zählt Benn in kurzen, unvollständigen Sätzen, die mehrere Vergleiche oder Komposita enthalten, Farbimpressionen auf: „Braun wie Kognak. Braun wie Laub. Rotbraun. Malaiengelb.“ (V. 1). Dabei greift er verschiedene Konnotationen5 auf: Der Kognak deutet auf Rausch. Das Laub weist auf die Natur und die Jahreszeit hin. Das Malaiengelb gibt dem Braunton einen exotischen Zug.
Der Leser kann zunächst keine Verbindung zum Titel herstellen. Das Motiv der Eisenbahn war schon in der ersten Zeit ihrer Erfindung in der Kunst aufgegriffen worden. Es ist überraschend, dass das Titelmotiv nur in dem 2. Vers erscheint, in der dem Leser die Information über die abgefahrene Strecke gegeben wird: „D-Zug Berlin – Trelleborg und die Ostseebäder.-“ (V. 2). Der Vers hört sich wie eine Bahnhofansage an, verleiht dem Gedicht einen realistischen Zug und steigert den Charakter von Impressionen. Das Wort ‚Ostseebäder‘ verdeutlicht, dass die Farbimpressionen des ersten Verses für Eindrücke stehen, die man haben kann, wenn man einen D-Zug entlanggeht und die Fahrgäste beobachtet, die unterschiedlich braun gebrannt vom Ostseeurlaub sind. Die Wendung „Bis in den Mund gebräunt“ (V. 4) ist hyperbolisch zu verstehen. Im Text findet sich nur die Farbe Braun, wodurch ihr eine besondere Bedeutung zugesprochen wird. Sie bezieht sich auf das „Fleisch, [das] nackt ging“ (V. 3) und weist auf das Körperliche hin, das den Text dominiert. Die Farbmetaphorik war im Expressionismus sehr wichtig und Farben erhielten einen eigenständigen Ausdruckswert. Die Autoren verwendeten sie teilweise abstrakt und drückten mit ihnen Gefühle aus. Es wurden meist grelle, expressive Farben verwendet, die beim Leser bestimmte Assoziationen auslösen sollten. Man kann davon ausgehen, dass die Vereinigung der Geschlechter bildlich durch die Dominanz der Farbe Braun symbolisiert wird, die sich in der gemeinsamen Farbe des gebräunten Fleisches vereinen. Der dritte Vers verdeutlicht durch die Verwendung des Präteritums, dass der Urlaub beendet ist. Der Urlaub wird nicht erwähnt, sondern nur angedeutet. Die Urlauber werden nur mit dem Begriff ‚Fleisch‘ bezeichnet und entpersonalisiert, was wiederum das Körperliche betont.
Aus den Versen 5 bis 7 geht hervor, dass sich der Sommer dem Ende zuneigt. Der Sprecher scheint dies zu bedauern, was Benn formal durch die Ausrufezeichen zum Ausdruck bringt: „wie weit der Sommer ist! Vorletzter Tag des neunten Monats schon! -“ (V. 6-7).
Die Verse 8-19 beschreiben männliche Eindrücke. Das lyrische Ich spricht unter der Verwendung des Personalpronomens ‚uns‘, das sich auf das männliche Geschlecht bezieht und äußert sich zur Anziehungskraft des weiblichen Geschlechts wie folgt: „Die Georginennähe macht uns wirr. –“ (V. 10). Bei der Georgine handelt es sich um einen Frauennamen und um den Namen einer Pflanze. Die Pflanze wird in einer Chiffre auf das weibliche Geschlecht übertragen und stuft es als Lustobjekt herab. Da nicht von einer bestimmten Frau die Rede ist, ergibt sich eine Entindividualisierung, die noch weiter getrieben wird zur Enthumanisierung: „Eine Frau ist etwas für eine Nacht“ (V. 12), „Eine Frau ist etwas mit Geruch“ (V. 16). Der unbestimmte Artikel betont die Anonymität und die beliebige Austauschbarkeit. Das Wort ‚etwas‘ verdeutlicht die Überlegenheit des Mannes, der das weibliche Geschlecht unterordnet und verdinglicht. Die Wörter ‚Frau‘ und ‚Georginennähe‘ beziehen sich hier nur auf die Sexualität.
Der 11. Vers leitet die Verse 12-15 ein, in denen die männliche Sicht genauer beschrieben wird. Durch die Begriffe „Männerbraun“ und „Frauenbraun“ (V. 11) wirken die Menschen austauschbar, da nichts Individuelles dargestellt wird, sondern das ganze Verhalten verallgemeinert wird. Diesen Zug findet man im ganzen Text. Der Mann verdeutlicht, dass er nur an kurzen Abenteuern interessiert ist, indem er der Frau höchstens ein bis zwei Nächte gewährt. In den nächsten 2 Versen wird die Vergänglichkeit der Glücksmomente bzw. des Ichverlusts in erotischen Abenteuern bedauert: „Und dann wieder dieses Bei-sich-selbst-sein! Diese Stummheiten! Dies Getriebenwerden!“ (V. 14-15), was formal durch die Ausrufezeichen hervorgehoben wird. Nach dem angestrebten Rausch scheinen sich die Geschlechter nicht viel zu sagen zu haben und werden weiter getrieben zum nächsten Ichverlust, in dem man für kurze Zeit alles vergessen kann. Der bewusste Zustand des ‚Bei-sich-seins‘ (V. 14) wird nach Meurer bei Benn häufig beklagt. Benn hat versucht, der als Leiden empfundenen Vereinzelung zu entkommen, z. B. im Drogenrausch. In seinem Gedicht Kokain schwärmt er von der Wirkung dieser Droge: „Den Ich-zerfall, den süßen, tiefersehnten, [d]en gibst Du mir (Kokain, V. 1-2). Er beschwört den Rausch aber auch immer wieder im Aufgehen des Geschlechtlichen. Der Ichzerfall wird hier also im erotischen Rausch erstrebt und erlebt, aber er ist zeitlich begrenzt.
Der Mann bezeichnet die Frau erneut mit einem Pflanzennamen, der Resede, und hält seinen überlegenen Ton bei. Durch die zweimalige Zuordnung von Pflanzen hat man den Eindruck, dass Frauen ihnen gleichgestellt werden. Mit der Aufforderung „Stirb hin. Resede.“ (V. 17) scheint der Befehl zum Fallenlassen im Liebesakt gemeint zu sein.
Der 19. Vers bringt noch einmal die Einstellung des Mannes auf den Punkt: „An jedem Abhang hängt ein Glück“ (V. 19). Das Glück wird personifiziert und bezieht sich auf die Sexualität. Mit dem Abhang könnte eine feste Bindung gemeint sein, der man versucht in oberflächlichen Bindungen zu entgehen.
Die Männer- und Frauenpartie werden entgegengesetzt eingeleitet: Während sich das Männerbraun auf das Frauenbraun stürzt (V. 11), taumelt das Frauenhellbraun an das Männerdunkelbraun (V. 20). Dies sind die einzigen Sätze, die einen ganzen Vers ausfüllen, sich demnach optisch absetzen und dadurch die Einstellung der Männer und Frauen hervorheben. Die Verben ‚stürzen‘ und ‚taumeln‘ zeigen die unterschiedliche Rollenverteilung in einer patriarchalischen Gesellschaft, die es zur Entstehungszeit des Textes gab. Der Mann zeichnet sich durch aktiv-zielgerichtetes Verhalten aus, während sich die Frau passiv-ziellos verhält. Der Mann wirkt überlegen und überheblich, die Frau ist zurückhaltender und intimer. Sie sucht Nähe und Geborgenheit: „Halte mich! Du, ich falle!“ (V. 21) und verkörpert eindeutig das schwache Geschlecht. In dem Satz „Ich falle“ wird die Ich-Auflösung im erotischen Glücksmoment verdeutlicht. Trotz allem werden Männer und Frauen gleichermaßen angetrieben: Beide suchen in der erotischen Begegnung die Ich-Entgrenzung bzw. den Rausch. Sie sehnen sich nach der Ekstase, die „Unsägliches“ (V. 17) beinhaltet und Zweisamkeit schafft, wodurch man zeitweise dem als negative Vereinzelung wahrgenommenen Bei-sich-selbst-Sein entgeht.
Das lyrische Ich ist nicht nur Beobachter, es scheint vielmehr eigene Erfahrungen zu schildern, indem zwei Mal das Personalpronomen6 ‚uns‘ verwendet wird. Demnach wird es in das Geflecht aus sinnlicher Wahrnehmung, Gesprächsfetzen und in die Gehetztheit mit einbezogen. Das Ich hat widersprüchliche Empfindungen: Einerseits fühlt es sich im Innern reif gesenkt, ist müde und sehnt sich nach dem Tod, womit auch Schlaf oder Ruhe gemeint sein könnte. Andererseits spürt es eine innere Unruhe und wird getrieben. Es ist verwirrt, zerrissen zwischen Gegensätzen, zwischen Aktivem und Passivem, Müdigkeit und Pulsierendem, was in der Männer- und Frauendialogpartie bestimmend wird.
Für Benn ist die Erfüllung nach Meurer untrennbar mit der Vorstellung des Sterbens verbunden. Die Sehnsucht nach der Erfüllung schließt die Sehnsucht nach dem Hinsterben mit ein: Die Todessehnsucht ist angesprochen in „Sichel-Sehnsucht“ (V. 6), „Stirb hin“ (V. 17) und in „ich falle!“ (V. 21). Diese Sehnsucht hat ihre zeitliche Entsprechung in der Betonung des baldigen Endes: „Vorletzter Tag“ (V. 7), „letzte Mandel“ (V. 8), „Letzte Geruch“ (V. 24). Die Bewegung im Raum führt dementsprechend immer abwärts: „Reif gesenkt“ (V. 5), „stürzt sich auf“ (V. 11), „taumelt“ (V. 20), „ich falle“ (V. 21). Der zentrale Begriff ‚Glück‘ verbindet sich bei Benn fast immer mit einer Abwärtsbewegung.
Der Titel lässt darauf schließen, dass sich das Geschehen in einem Zug abspielt, was aber nicht unbedingt der Fall sein muss. Ein D-Zug bietet Menschen die Möglichkeit, sich für eine kurze Strecke zu begegnen. Man schließt oberflächliche Bekanntschaften, die selten vertieft werden. So kann der Titel, der auf den ersten Blick nicht unbedingt zum Inhalt passt, als kurze Zusammenfassung des Gedichts gelesen werden, das den Ichverlust in einer kurzen, lebhaften Beziehung darstellt.
Der Text spielt immer wieder auf Exotisches und den Süden an, der mit Erotik in Verbindung gebracht wird. Das Malaiengelb und die Resede weisen auf das Südlich-Mediterrane hin, was später wieder aufgegriffen wird in sinnverwandten Wörtern wie ‚griechisch‘ (V. 5) oder in dem 18. Vers: „Darin ist Süden, Hirt und Meer“ (V. 18). Diese Begriffe bringen die Urlaubsidylle noch deutlicher herüber. Sie verbinden sich mit den im Text genannten Gerüchen und der Vorstellung eines oberflächlichen Abenteuers während eines Urlaubs. Es werden immer wieder Gerüche genannt, die ebenfalls mit dem Liebesakt verbunden werden, bei dem der Geruchssinn auch eine Rolle spielt.
Der Ort des Geschehens, der D-Zug, steht für Schnelligkeit und Hektik, die sich im ganzen Text finden. Die Form unterstützt diesen Eindruck und demnach wirkt der Aufbau genauso gehetzt wie die beiden Geschlechter. Gerade die unvollständigen Sätze des ersten Teils erzeugen einen atemlosen gehetzten Eindruck. Dies wird verstärkt die kurzen Sätze, den Zeilenstil und die Zäsuren7 (V. 1, 3, 6, 9, 15, 18, 21). Zwischenzeitlich wird dementsprechend der Wunsch nach Ruhe ausgesprochen: „Ich bin im Nacken so müde“ (V. 22). Erregung und Dynamik werden auch durch Bewegungsverben vermittelt (stürzen, taumeln, Getriebenwerden, fallen). Benn verwendet auch viele Punkte, die nicht gesetzt werden müssten und zu den Satzfetzen passen: „Unsägliches. Stirb hin. Resede“ (V. 17). Er hätte auch Kommata setzen können, aber er verhärtet durch die Punkte die Einschnitte, wodurch er einen poetischen Gleichtakt verhindert. Stattdessen erzeugt er Schnelligkeit, Abgehaktheit und Gehetztheit. Die vielen Ausrufe und Aufforderungen, in denen sich die gestaute Erregung zeigt, verstärken den Eindruck von unruhiger Dynamik, Erregung und fast zwanghaftem Getriebensein. Der eigenwillige Aufbau passt zur Darstellung der Ich-Entgrenzung und lässt viele Assoziationen zu, wodurch die Deutung des Textes nur in geringem Maße festgelegt ist. Die Form passt zur dargestellten Hektik und zu der Suche nach der Ich-Entgrenzung.
Wie in Benns Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke wird die Verteilung der Geschlechterrollen angesprochen. Während in der Krebsbaracke die untergeordnete Position der Frau daran verdeutlicht wird, dass der überlegene Arzt einen Monolog führt, kommt sie in diesem Text zwar zu Wort, aber bleibt durchgehend schwächer und gefühlvoller als der Mann. Dies wird nicht beklagt, sondern eher festgestellt.
Dieses Gedicht steht nicht in Zusammenhang mit den Themenkomplexen Krieg oder Stadt, es spricht eher die Zivilisation und zwischenmenschliche Beziehungen an. Die Zivilisation wird nicht direkt kritisiert, aber wenn die Suche nach dem erotischen Rausch so dringend ist, schwingt darin auch eine Furcht mit, die mindestens das Bei-sich-sein und vielleicht auch die Realität betrifft. Der Ichzerfall wird hier im Gegensatz zu Lichtensteins Punkt lustvoll erlebt, während unter dessen Vergänglichkeit gelitten wird.