Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Georg Heyms Gedicht Die Tote im Wasser wurde 1910 veröffentlicht und gehört in die Epoche des Expressionismus (ca. 1910-1920). Der Begriff ‚Expressionismus‘ stammt vom lateinischen Wort expressio (Ausdruck) und bedeutet ‚Ausdruckskunst‘. Die Dichter dieser Zeit lehnten sich gegen die Tradition des 19. Jahrhunderts auf, das schon lange kritisiert wurde, aber bisher nicht in einer solchen Schärfe. Sie kritisierten aktuelle Entwicklungen wie die Industrialisierung, die Urbanisierung, die Zivilisation und das wilhelminische Bürgertum.
Expressionistische Themen waren die Großstadt, der Weltuntergang, der Krieg, der Ich-Zerfall und der Tod. Viele wendeten sich gegen bürgerliche Geschmacksnormen und einen künstlerischen Schönheitsbegriff, der die Nachtseiten des Lebens aus der Dichtung ausschloss. Sie thematisierten provozierend, was die Bürger aus ihrem Leben ausklammerten. Da die meisten Dichter die ganze Wirklichkeit und nicht nur Alltägliches darstellen wollten, wendeten sie sich hässlichen Motiven zu, wie Verfall, Tod, Wahnsinn, Krankheit und Verwesung. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Ästhetik des Hässlichen. Die Dichter verschränkten dabei oft hässliche mit schönen Elementen.
Traditionelle lyrische Bereiche wie die idyllische Mondpoesie wurden ironisiert. So lässt Georg Heym sein Kriegsmonster in Der Krieg den Mond zerdrücken. Auch die Sonne wurde häufig abgewertet, wie in Georg Trakls Grodek, wo sie dunkel und bedrohlich über den Himmel rollt. Es handelt sich um Provokation, Spielerei und um ein Aufbegehren gegen die bürgerliche Gefühlskultur. Die Dichtersprache wurde auch zerschlagen, weil sie nicht mehr als Ausdrucksmittel der Wirklichkeit des modernen Menschen taugte.
Mehrere Dichter erwarteten eine drohende Apokalypse und hielten die Gesellschaft und die Lebensumstände ihrer Zeit für erstarrt und todkrank. Deshalb setzten sie sich viel mit dem Verfall und der Vergänglichkeit auseinander. Der Verfallsvorgang wurde in den unterschiedlichsten Formen beschrieben, wobei sich fast jeder Lyriker seinen eigenen Zugang zu diesem Motiv schuf. Georg Heym stellt beispielsweise in Umbra Vitae eindringlich dar, wie Selbstmördern schon vor ihrem Sprung in den Tod die Haare ausfallen. Gottfried Benn schildert den körperlichen Verfall durch Krankheiten, wie in Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke. Andere Gedichte verknüpfen den Verfall mit dem Motiv des Wahnsinns, wie Heym in Die Irren.
In dieser Zeit entstanden auch mehrere Texte zum Wasserleichenmotiv, das auf Shakespeares Figur Ophelia aus Hamlet zurück geht: Nachdem Ophelias Geliebter ihren Vater ermordet hat, wird sie wahnsinnig und ertränkt sich. Arthur Rimbaud wendete sich 1870 diesem Motiv in Ophelia zu, was wiederum Expressionisten wie Gottfried Benn oder eben Georg Heym inspirierte. Heym griff dieses Motiv 1910 auf und schuf Ophelia und Die Tote im Wasser. Seine Texte beeinflussten die meisten der anderen Ophelia-Bearbeitungen dieser Zeit.
In diesem Gedicht wirft der Sprecher den Blick zunächst auf den Hafen einer Stadt und beschreibt die Abfälle in den Abwässern. Dann entdeckt er eine Wasserleiche, die an ihm vorbei treibt, von Ratten zernagt wird und schließlich untergeht.
Das Gedicht besteht aus sieben Strophen und ist formal streng gegliedert. Jede Strophe enthält vier Verse mit einem umarmenden Reim. Als Metrum1 verwendet Heym bei wechselnden Kadenzen2 durchgehend den fünfhebigen Jambus. Die ersten vier Strophen enden jeweils auf männliche Kadenzen, wodurch die letzten Wörter hervorgehoben werden. Ab der fünften Strophe kommen auch weibliche Kadenzen vor, was zur inhaltlichen Zäsur3 passt. An stilistischen Mitteln verwendet Heym viele Enjambements4, Vergleiche, Metaphern5 und Farbmetaphern, Personifizierungen und eine Verdinglichung.
Seit Arthur Rimbaud lösten die Autoren Ophelia aus ihrem literarischen Kontext der Shakespeare-Tragödie, was besonders in den expressionistischen Bearbeitungen auffällt, in denen man einen recht freien Umgang mit dem Motiv beobachten kann. Fast alle Gedichte wurden in die Gegenwart versetzt. Bei Heym wird wie in vielen seinen Texten die Großstadt zur Kulisse des Geschehens, während Gottfried Benn in Schöne Jugend die ursprünglich tragische Szene mit Fachbegriffen durchmischt.
In der ersten Strophe beschreibt der Sprecher die Hafenatmosphäre einer Großstadt. Er vergleicht die Masten der Schiffe mit einem „verbrannte[n] Wald“ (V. 2), wodurch er ein recht trostloses Bild schafft. Die Masten befinden sich vor einem grauen Wall, der für Nebel, die betonierte Uferzone oder auch Häuser stehen könnte. Eine Zeitangabe findet sich in der Wendung „ins frühe Rot“ (V. 2), womit der Sonnenuntergang gemeint ist. In den nächsten Versen kontrastiert das Rot mit den schwarzen Masten, die mit Schlacke verglichen werden. Heym meint mit dem Begriff allgemein Rückstände, was zu dem Bild des verbrannten Waldes und zu den Abfällen der zweiten Strophe passt. Gleich in der ersten Strophe fällt auf, dass viele Farben vorkommen. Sie spielen im ganzen Gedicht und generell bei Heym eine wichtige Rolle. Der Sprecher erwähnt einen grauen Wall (V. 1), das frühe Rot (V. 2) und die schwarzen Masten (V. 1). Die Farben untermauern dabei stimmig die beschriebene düstere Atmosphäre. In dem dritten und vierten Vers ergibt sich ein Oxymoron6, weil das Wasser in dem dritten Vers als tot bezeichnet wird und nach einem Enjambement in der vierten zu den Speichern stiert und damit personifiziert wird. Diese Beschreibung lässt das Wasser starr und unbeweglich wirken. Durch das Wort ‚tot‘ könnte man an dunkles, verdrecktes Wasser denken, was auch zu den Abfällen aus der zweiten Strophe passt. Die Speicher werden in einem unvollständigen Satz als „morsch und im Verfall“ (V. 4) beschrieben und fügen sich stimmig ins Bild des abgebrannten Waldes. Die Stadt wird wie so oft bei Heym negativ dargestellt, indem er Bilder der Zerstörung, des Verfalls und der Vergänglichkeit entwirft. Die im Expressionismus oft kritisierten technischen Errungenschaften der Zivilisation stehen hier für Untergang und Tod. Heym stellt selten Einwohner der Stadt dar und auch hier wendet er sich nur einem Bereich ihres düsteren Lebensraums zu.
In der zweiten Strophe schildert der Sprecher ein akustisches Geräusch: „Dumpf tönt der Schall (…) [d]en Kai entlang“ (V. 5-6), wodurch der Eindruck von Düsterkeit und Einsamkeit betont wird. Passend zu den Bildern der Überreste und des Verfalls aus der ersten Strophe wendet sich der Sprecher in der zweiten und dritten Strophe den menschlichen Abfallprodukten zu. Er spricht vom „Spülicht“ (V. 6), das sich „[w]ie eine weiße Haut“ (V. 7) am Dampfer „reibt“ (V. 7). Durch den Vergleich und das Verb werden die Abfälle personifiziert. Heym schildert dadurch in einem unheimlichen und expressiven Bild, wie sich das Abwaschwasser ausbreitet. Die weiße Haut kündigt auch schon die Hautfarbe der Leiche an, die in der nächsten Strophe auftaucht. Der Dampfer wird durch das Verb ‚ruhen‘ ebenfalls belebt.
In der dritten Strophe beschreibt der Sprecher den städtischen Abfall, der „in einer dicken Schicht“ (V. 9) im Wasser treibt und sich mit dem Kot aus den Kanalröhren (V. 10) mischt. Bis zu diesem Vers schafft der Autor in mehreren Bildern eine düstere Verfallsatmosphäre. In dieser Kulisse erscheint eine Wasserleiche, die zunächst durch die Wendung „[e]in weißes Tanzkleid kommt“ (V. 11) auf das Kleid reduziert und verharmlost wird. Anschließend wirft der Sprecher den Blick auf den „fette[n] Glanz“ (V. 11) ihres Halses und auf ihr „bleiweiß[es]“ (V. 12) Gesicht, wodurch die Schilderung realistischer wird und er expressiv den schmutzigen, weißgrauen Ton der Hautfarbe des Mädchens beschreibt. Heym nennt in dem ersten Vers drei Elemente, die für den Müll stehen (Staub, Obst, Papier) und anschließend drei Bereiche des Körpers der Leiche (Kleid, Hals, Gesicht), wodurch er die Leiche auch formal mit dem Müll auf eine Ebene setzt und verdeutlicht, dass alles gleichermaßen vom Verfall betroffen ist. Die Tote taucht also erst stückweise auf und auch im weiteren Verlauf erscheinen eher Einzelteile (Augen, Bauch) und seltener der ganze Körper. Das Verfahren, die Leiche in Teilen darzustellen steigert formal den Verfall des Körpers. Erst ab der vierten Strophe kommt die Leiche „ganz“ (V. 13) ins Blickfeld.
In der vierten Strophe entsteht ein unheimlicher, grotesker Eindruck als die Leiche personifiziert wird und sich ganz aus dem Wasser wälzt. Die Tote wirkt also wie das Wasser tot und lebendig, wodurch Heym möglicherweise in einem expressiven Bild den Übergang vom Leben zum Tod und Verfall darstellen möchte. Der Sprecher vergleicht das Kleid ab dieser Strophe metaphorisch mit einem weißen Schiff: „Es bläht das Kleid sich wie ein weißes Schiff im Wind“ (V. 13-14). In dem dritten Vers spricht er von ihren toten Augen, die „groß und blind“ (V. 15) zum rosa Himmel starren. Damit verdeutlicht er ausdrucksstark den starren Blick einer Leiche, der erneut zugleich lebendig wirkt. Es entsteht ein Kontrast zwischen der bisherigen Szene und den rosa Wolken des Himmels, was eine paradoxe Wirkung schafft. Hier könnte ein Hinweis auf die Todesursache angedeutet werden. Die rosa Wolken könnten eine Metapher für die Naivität eines jungen, unerfahrenen Mädchens sein, die zu ihrem Tod geführt hat.
Zwischen den ersten vier Strophen und den letzten kommt es zu einer inhaltlichen Zäsur, weil am Ende ein Hauch von Komik oder Ironie aufkommt. Das „lila Wasser“ (V. 17) knüpft an den rosa Wolken an und verleiht dem Text einen heiteren Zug, der im Gegensatz zum düsteren Anfang steht. Wasserratten „bemannen“ (V. 18) das weiße Schiff bzw. die Leiche. Die allgemein mit Ekel und Unrat verbundenen Tiere werden verharmlost, indem Heym sie metaphorisch mit Seemännern vergleicht. Wenn man bedenkt, dass die Ratten in Wirklichkeit vom verfaulenden Kadaver, vom Müll und Kot angezogen werden, wirkt die Darstellung grotesk und unangemessen. In dem dritten Vers wird das tote Mädchen als Schiff verdinglicht und dann wieder personifiziert, als es heißt, dass es „stolz von dannen“ (V. 19) treibt. In dem letzten Vers reduziert der Sprecher auch die Ratten auf bestimmte Körperteile: „Voll grauer Köpfe und voll schwarzer Felle“ (V. 20). Er steigert die abstoßende Wirkung durch diese Anspielungen viel mehr, als wenn er die Ratten noch einmal beim Namen nennen würde. In dieser Strophe ergibt sich ein Hell-Dunkel-Kontrast zwischen der weißen Toten und den grauschwarzen Ratten. Das Weiß hebt in dem Fall die Unschuldigkeit des Mädchens hervor und das Schwarz der Ratten steht für den Tod. Die fünfte Strophe hat heiter angefangen und knüpft in dem letzten Vers wieder an der düsteren Ausgangsatmosphäre an. Die sechste und siebte Strophe sind genauso aufgebaut: Auf eine heitere Eingangssequenz folgt ein düsterer Abgang, wodurch der komische Ton nie ganz durchkommt und der düstere überwiegt.
In der vorletzten Strophe segelt die personifizierte Tote „froh“ (V. 21) hinaus. Nach diesem positiven Bild, in dem nur das Wort ‚Tote‘ stört, erwähnt der Sprecher ihren dicken großen Bauch. Der Bauch könnte durch den Tod und das Wasser aufgebläht sein oder für eine Schwangerschaft stehen. Letzteres wirkt einleuchtender und weist darauf hin, dass das Mädchen sich wegen eines unerwünschten Kindes umgebracht hat. Heym entwirft wieder ein höchst groteskes Bild, weil er den Bauch nach einem Enjambement in dem nächsten Vers als „zerhöhlt und fast zernagt“ (V. 23) beschreibt, womit er den Leser schockiert und erneut nur auf die Ratten anspielt. Er entwirft auch das Bild eines Mädchens, das mit Ratten schwanger geht. Der letzte Vers steigert das schreckliche Bild: „Wie eine Grotte dröhnt er (der Bauch) von den Bissen“ (V. 24). Hier erzeugt Heym auch auf der akustischen Ebene Ekel und erreicht den Höhepunkt der abstoßenden Wirkung. Der Vergleich mit der Grotte unterstreicht auch grotesk, dass der Bauch hohl ist und den Ratten eine willkommene Behausung und Nahrung bietet.
Vom abstoßenden Eindruck schwenkt Heym wieder in eine harmlosere Perspektive über, indem Neptun, der römische Meeresgott, der Leiche salutiert, was in diesem Zusammenhang unpassend und lächerlich wirkt. Durch den mythologischen Anklang und seine Geste wird der Leiche sozusagen die letzte Ehrerbietung zuteil, bevor sie als „Wrack“ (V. 26) bezeichnet und vom Meer verschlungen wird. Sie sinkt zur grünen Tiefe, wo sie von den „feisten Kraken“ (V. 28) ergriffen und vermutlich weiter zernagt wird. Im ganzen Text finden sich Personifizierungen: Die Abfälle reiben sich am Dampfer, die Leiche wälzt sich aus dem Unrat, die Ratten werden zu Matrosen und das Meer verschlingt die Leiche wie etwas Essbares. Alle Personifizierungen bis auf das Meer betreffen nur abstoßende Elemente (Müll/Kot, Leiche, Ratten), wodurch Heym die abstoßende, bedrohliche und groteske7 Wirkung steigert.
Heyms Ophelia-Bearbeitung unterscheidet sich stark von Arthur Rimbauds Text, bei dem der Bezug zu Shakespeares Ophelia noch erkennbar ist. Heym spricht wie Gottfried Benn in Schöne Jugend nicht von einem bestimmten, sondern von irgendeinem Mädchen, wodurch sie entindividualisiert wird. Während Heym sich in seinem Gedicht Ophelia noch eindeutiger auf Shakespeare bezieht, wird in Die Tote im Wasser schon am Titel klar, dass er sich von diesem Kontext distanziert. Im Gegensatz zu Rimbaud schafft er eine düstere Umgebung und die Großstadtkulisse ist neu und aktuell, weil Expressionisten und besonders Heym sich viel mit dem Thema Großstadt auseinander setzten.
Heym arbeitet sich schrittweise an die Wasserleiche heran, wodurch der Text einen filmischen Charakter bekommt. Vorab entwirft er eine Todesatmosphäre, die wie die Leiche vom Verfall geprägt ist. Man hat den Eindruck, dass der Sprecher am Ufer steht und den Hafen erst aus der Entfernung betrachtet, bevor er den Müll und den Unrat genauer wahrnimmt, worin ihm schließlich die Leiche auffällt, die das Interesse fesselt und in den nächsten Strophen eingehender beobachtet wird.
Wie bereits erwähnt spielen Farben eine wichtige Rolle. Die Farbmetaphorik war im Expressionismus wichtig. Farben erhielten einen eigenständigen Ausdruckswert. Die Autoren verwendeten sie teilweise abstrakt und drückten mit ihnen Gefühle aus. Es wurden meist grelle, expressive Farben verwendet, die beim Leser bestimmte Assoziationen auslösen sollten. Typisch expressive Farben, die man auch häufig bei Heym vorfindet, sind Rot, Schwarz und Gelb.
In diesem Text ist die Farbe Weiß am wichtigsten. Weiß steht für Reinheit, Unschuld und für den Tod bzw. die Leichenblässe. Die Tote wird vier Mal mit dieser Farbe in Zusammenhang gebracht. Heym beschreibt mit dieser Farbe erst das Abwasser und deutet durch die Wendung „wie eine weiße Haut“ (V. 7) schon auf die Leiche hin. Die Tote trägt ein weißes Tanzkleid, das auch ein Brautkleid sein könnte und auf einen Partner hinweist. Das bleiweiße Gesicht steigert expressiv die Totenblässe. Auch der fette Glanz (V. 11) ihres Halses weist indirekt auf diese Farbe hin und verleiht ihrem Tod einen realistischen und abstoßenden Zug. Später bezeichnet er die Leiche zwei Mal als weißes Schiff, was mit dem verharmlosenden, parodisierenden Ton zum Abschluss des Textes zusammenhängt. Diese Farbe steht also durchgehend mit der Leiche in Zusammenhang und betont mehrfach inhaltliche Aussagen.
Heym verwendet neben der Farbe Weiß viele andere Farben. In der ersten Strophe stehen Grau, Rot und Schwarz für Verfall und Vergänglichkeit. Das weiße Tanzkleid, das Schiff, die rosa Wolken und das lila Wasser kontrastieren durch harmonischere Assoziationen mit dem restlichen Gedicht. Diese Farben betonen die Unschuldigkeit und Unerfahrenheit des Mädchens. Die Ratten werden mit Grau und Schwarz in Zusammenhang gebracht, die für den Tod stehen. Zum Abschluss spricht Heym von der „grünen Tiefe“ (V. 27). Grün verbindet man allgemein mit Ruhe, wodurch Heym das Bild einer letzten Ruhestätte entwirft, das mit den feisten Kraken kontrastiert. Die Farben unterstützen also die inhaltliche Aussage und stehen wie der Inhalt teils für widersprüchliche Aussagen.
Über die Todesursache erfährt der Leser nichts Genaues. Im Gegensatz zu Heyms Ophelia und wie in Benns Schöne Jugend fragt das lyrische Ich nicht einmal nach den näheren Umständen, was irritiert. Heym gibt aber immer wieder Hinweise, die Vermutungen zulassen. Das Tanzkleid und der Bauch spielen auf einen Geliebten an, dem sich das Mädchen vermutlich hingegeben hat und verlassen wurde, obwohl oder weil sie schwanger war. Mehrere Ursachen können zu ihrem Selbstmord geführt haben. Damals war es unschicklich, vor der Eheschließung schwanger zu werden und so kann sie sich das Leben genommen haben, nachdem sie aus der (dörflichen) Gemeinschaft verstoßen worden war. Andere Ursachen sind Liebeskummer oder Verzweiflung und die Unfähigkeit für das Kind sorgen zu können. Heym fördert die Imagination des Lesers, indem er ihm durch Anspielungen mehrere Möglichkeiten bietet und keine eindeutige Aussage festschreibt. Diese Vermutungen enthalten auch sozialkritische Züge und werfen einen kritischen Blick auf eine Gesellschaft, in der es keine Zukunft für ein unschuldiges schwangeres Mädchen gibt.
Die letzten drei Strophen unterscheiden sich vom Anfang des Gedichts. Heym mischt in ihnen hässliche Bilder mit komischen Elementen, wodurch der Text groteske und ironische Züge bekommt. Die Farben Rosa und Lila passen nicht zu den düsteren Farben und lassen eine heitere Atmosphäre aufkommen. Die Matrosen sind Ratten, die die Leiche besteigen und in widerlichen Tönen zernagen. Die heroische Geste des salutierenden Neptuns erweckt kurz den Eindruck, dass die Tote wenigstens gebührend verabschiedet werden soll. Durch den Kontrast mit dem dröhnenden hohlen Bauch wirkt die Szene allerdings unrealistisch und lächerlich, wodurch der mythologische Anklang rasch wieder verworfen wird.
Heym zieht die Romantisierung des Ophelia-Motivs ins Groteske und verhöhnt damit die traditionelle Poesie. Er zeigt die Grausamkeit des Todes auf und betont, dass er nicht ästhetisch, geheimnisvoll und tragisch ist. Durch den Kontrast zwischen den schönen bzw. komischen und den hässlichen Elementen steigert er auch seine abstoßende Wirkung. Benn geht in Schöne Jugend ähnlich vor, indem er Begriffe mit positiven Konnotationen8 verwendet und sie mit hässlichen Elementen verknüpft und die Lesererwartung desillusioniert. Auch bei Heym wird die Erwartung des Lesers nicht erfüllt und man wundert sich über die letzten drei Verse. Benn und Heym schockieren dadurch den Leser, ihre Texte wirken abstoßend und erzeugen Ekel. Der Leser ist auch darüber irritiert, dass ihre Texte sehr unangemessen hinsichtlich des tragischen Inhalts erscheinen. Heyms Text ist vor allem grotesk und Benn schockiert durch die sachliche und gefühlskalte Darstellung. Die expressionistischen Bearbeitungen wirken eher wie eine Parodie des Motivkreises.
Bei Heym schwingt auch eine sozialkritische Aussage mit. Das Mädchen treibt aus der bedrohlichen Hafenregion der negativen Stadt und Zivilisation in die Freiheit (der Natur) und könnte dadurch für den Wunsch einiger Expressionisten stehen, die ihre Lebensumstände kritisierten und ändern wollten. Durch die unrealistischen Bilder am Ende wirkt dieser Wunsch wie ein Traum, dessen Realisierung unmöglich erscheint, weil die Leiche untergeht. Es gibt also keine Hoffnung auf Besserung, sondern es herrscht wie so oft in expressionistischen Texten Hoffnungslosigkeit vor.