Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Sachliche Romanze ist ein Gedicht von Erich Kästner aus dem Jahr 1928. In diesem Gedicht geht es um die Trennung eines Paares nach acht Jahren ihrer Beziehung. Eine sachliche Romanze gibt es streng genommen gar nicht. Denn Sachlichkeit schließt jede Art von Romantik aus. Der Titel drückt Gegensätzliches aus, einander Widersprechendes. Erich Kästner benutzt hier im Titel das Stilmittel des Oxymorons. Diese Spannung zwischen Sachlichkeit und Romantik (Liebe) beherrscht das gesamte Gedicht.
Das Gedicht wird der Epoche der Neuen Sachlichkeit zugerechnet. Die Neue Sachlichkeit war eine Richtung, die vor allem die Literatur der Jahre zwischen 1919 und 1929 prägte. Romane wurden geschrieben wie Reportagen. Die distanzierte Beschreibung, die Abschilderung des Geschehens fern von jeder Ausschmückung stand im Vordergrund. Zur Neuen Sachlichkeit werden aber auch Theaterstücke und Gedichte gezählt, wie eben die Sachliche Romanze von Erich Kästner. Historisch verbindet man die Neue Sachlichkeit eng mit der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen und mit der Weimarer Republik. Ein vorschnelles Ende gefunden hat diese kulturelle Epoche mit der Weltwirtschaftskrise 1929 oder spätestens mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933, mit der eine Rückwendung zu einem pathetischen, volkstümlichen Literaturstil einherging. Die berühmtesten Autoren der Neuen Sachlichkeit standen der Weimarer Republik nahe, befürworteten demokratische Bestrebungen und wurden aus politischer Sicht als eher links-liberal angesehen und mussten daher seit der Machtergreifung Hitlers mit Restriktionen rechnen.
Die Neue Sachlichkeit ist am ehesten zu vergleichen mit dem Naturalismus, in welchem es um eine möglichst genaue, detailgetreue und objektive Naturbeschreibung ging. Doch die Naturalisten verstanden unter der Objektivität der Naturbeschreibung etwas anderes und vielleicht ‚mehr‘ als jene Schriftsteller der Neuen Sachlichkeit, die eine solche Objektivität, die womöglich an die naturwissenschaftliche Exaktheit erinnern sollte, für eine Illusion hielten. Theaterstücke, Gedichte (Gebrauchslyrik) und Romane (Reportageliteratur), die zur Neuen Sachlichkeit gezählt werden, zeichnet zwar ähnlich wie im Naturalismus das Bestreben aus, die Geschehnisse möglichst getreu wiederzugeben und zu beschreiben. Doch standen in der Neuen Sachlichkeit politische Anliegen mehr im Vordergrund. Es ging nicht um das Ideal der Objektivität der Naturbeschreibungen, sondern um eine desillusionierte Beschreibung der Tatsachen: um das Wachrütteln des Volkes, um das Aufzeigen von Missständen und um politische Initiative. Es ging um die Sorgen der Arbeiter und um Sorgen des Alltags.
Die Neue Sachlichkeit ist den damals vorherrschenden Kunstrichtungen diametral2 entgegengesetzt. Man richtete sich explizit gegen den Expressionismus. Es sollte nicht mehr um den radikalen Ausdruck von Subjektivität gehen. Nicht mehr um nur subjektiv erfahrbare Gefühle, um extreme Selbstdarstellungen und der Darstellung des Unsagbaren. Sondern um das Alltägliche, um Sorgen, die jeder hat. Erwähnt werden kann auch, dass in dieser Zeit die Photographie Einzug fand in die engeren Kreise der etablierten Künste. Das Aufkommen der neuen Photo- und Filmtechnik spielte eine große Rolle. Aber auch die möglich gewordene massenhafte Verbreitung von Zeitungen und Zeitschriften. Also von dem, was wir heute als Printmedien bezeichnen würden.
Vor dieser zeitlichen Einordnung versuchen wir eine Deutung des Gedichts Sachliche Romanze von Erich Kästner. Von der sachlichen und sehr distanzierten Beschreibung der Trennung einer acht Jahre lang andauernden Beziehung ist man nun nicht weiter verwundert. Wir vermissen auch nicht mehr, dass in dem Gedicht Gefühle keine Erwähnung finden und wenn, dann doch nur aus der Perspektive eines Beobachters, der das, was passiert, nüchtern konstatiert3.
Bei der Sachlichen Romanze von Kästner handelt es sich um ein vier-strophiges Gedicht. Die ersten drei Strophen sind vier Verse lang. Die letzte Strophe hat einen zusätzlichen fünften Vers. Das Reimschema ist in den ersten drei Strophen der Kreuzreim (abab). In der abweichenden vierten Strophe ist der Kreuzreim ‚erweitert‘ um einen Vers: aba(a)b. Wir werden darauf noch zurückkommen, aber dieser zusätzliche Vers in der letzten Strophe fügt sich ein in das Gesamtkonzept des stilistischen Aufbaus. Es entsteht durch diesen zusätzlichen Vers eine Unregelmäßigkeit, über die man stolpert. Unregelmäßigkeiten ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Gestolpert ist man schon über den oxymorischen Titel. Jetzt bemerkt man den zusätzlichen Vers und schenkt diesem besondere Beachtung: „und konnten es einfach nicht fassen.“ (V. 17) Was das Fassungsvermögen der beiden Protagonisten übersteigt, ist, dass die Beziehung ein so jähes, plötzliches Ende finden konnte. Dass die ehemals dagewesene Liebe nun verschwunden ist. Dass die Liebe ‚abhanden gekommen‘ sei, wie Kästner im dritten Vers lakonisch sagt. Ist die Liebe ein Ding, das mal zu Händen ist und dann plötzlich abhanden kommen kann? Was es mit dieser Liebe auf sich hat, können die Protagonisten eben nicht fassen.
Ich schicke diesen Verweis auf den Inhalt voraus, über den Umweg, dass auf den zusätzlichen Vers hingewiesen wird, weil hier eine Vorbemerkung vonnöten ist, wie mir scheint. Das Gedicht wird als Paradebeispiel der Neuen Sachlichkeit zugeordnet. Distanziertheit, Nüchternheit in der Beschreibung, das zeichnet, wie oben beschrieben, die Neue Sachlichkeit aus. Man spricht auch von Gebrauchslyrik (so Bertolt Brecht), weil die Gedichte der Neuen Sachlichkeit oft Handlungsanweisungen enthalten und stark auf Sorgen des Alltags Bezug nehmen. Hier in der Sachlichen Romanze muss aber doch eine Besonderheit hervorgehoben werden. Denn durch den sachlichen Ton und die nüchternen Beschreibungen entsteht ein ganz anderes Lesegefühl. Man stolpert über die lakonischen Beschreibungen und wird dadurch indirekt viel stärker in das Geschehen hineingezogen. Man könnte sogar sagen, dass die Gefühlswelt dadurch eine zwar indirekte, aber besonders starke Betonung erfährt. Im Folgenden wird versucht, diese Deutung durch die weitere Analyse zu untermauern.
Unregelmäßigkeit prägt auch den formalen Aufbau des Versmaßes. Auffällig und regelmäßig ist im gesamten Gedicht, dass nirgends die erste Silbe betont ist. Man kann daher entweder von einem Jambus ausgehen oder von einem Anapäst. Die Silbenzahl variiert zwischen 9 und 11 Silben (ein Ausreißer ist Vers 14 mit nur 8 Silben). Bis auf einige Ausnahmen gibt es durchgängig vier Hebungen, das sind Betonungen und Akzentuierungen in den Versen. Die exakte Deutung des Versmaßes scheint mir nicht möglich und ist in jedem Fall diskutabel. Die a-Reime, also jeweils erste und dritte Verse jeder Strophe enden mit einer weiblichen Kadenz4, das heißt mit einer überschüssigen, unbetonten Silbenzahl. Die b-Reime des Kreuzreimes, also jeweils der zweite und der vierte Vers enden auf eine betonte Silbe. Dies nennt man männliche Kadenz. Als Effekt erhält man auf diese Weise eine Spannung innerhalb der Strophen, da sich das Lesetempo in jedem Vers ändert.
In der letzten Strophe, die unregelmäßig schon aufgrund ihres zusätzlichen Verses ist, wird die Abfolge von männlicher und weiblicher Kadenz umgedreht. In dieser letzten Strophe, die wie wir sehen werden, auch inhaltlich die wichtigste ist, beginnt die Strophe mit einer männlichen Kadenz. Die a-Reime im Schema des Kreuzreimes (aba[a]b) enden auf eine betonte Silbe. Man sagt, dass diese Betonung der letzten Silbe eine Art Abschluss darstellt. Man macht mit Bestimmtheit beim Lesen einen Punkt auf der letzten Silbe. Erich Kästner schließt sein Gedicht nicht mit dieser Bestimmtheit ab, sondern mit einer weiblichen Kadenz und mit einer zusätzlichen Silbe, die das Ende öffnet. Wir erinnern uns an den letzten Vers: „und konnten es einfach nicht fassen.“ (V. 17) Die Fassungslosigkeit der Protagonisten beherrscht den Schluss. Das ‚offene‘ Ende entspricht nicht der konstatierten Sachlichkeit. Eine Reportage oder ein Bericht, an welche man bei der Epoche der Neuen Sachlichkeit immer denken kann, endet eigentlich nie mit einem offenen Schluss.
Zurück zum Versmaß: Die Festlegung auf einen unregelmäßigen Jambus oder auf einen Anapäst kann nicht eindeutig sein. Die Silbenzahl variiert zwischen 9 und 11 Silben. Durchgängig sind nur die vier Hebungen. Man kann die ersten zwei Strophen noch am ehesten als vier-hebigen Jambus deuten. Eine Besonderheit der gesamten zweiten Strophe ist die Zäsur5 nach der fünften Silbe. Die dritte und die vierte Strophe würde ich als Anapäst deuten mit einigen Unregelmäßigkeiten. Für die Deutung des Gedichts ist wichtig, dass gesagt wird, dass man durch den Jambus und durch den Anapäst vorwärts getrieben wird. Dieses Versmaß belebt das Gedicht, schafft Tempo und treibt nach vorne. Durch den Wechsel der männlichen und weiblichen Kadenz in jedem Vers gerät man jedoch ins Stocken. Der Wechsel ist zu abrupt. Wir haben hier auch auf formaler Ebene eine Spannung, die durch die Unregelmäßigkeit der Silbenzahl und dem zusätzlichen Vers in Strophe fünf sogar noch gesteigert wird. Der Wechsel von weiblicher zu männlicher Kadenz wird durch den Kreuzreim unterstützt. Dass man beim Lesen ins Stolpern gerät, wird wiederum durch den antreibenden Anapäst bewirkt.
In unserer Deutung meinten wir, dass die Zuordnung zur Neuen Sachlichkeit nicht so naheliegend sei, wie so oft behauptet wird, weil die Sachlichkeit, die auf oberflächlicher Ebene das Gedicht auszeichnet, indirekt viel stärker zu einer Betonung der inneren, tieferliegenden Gefühlswelt führt. Wir meinen durch die formale Analyse für diese Deutung einige Argumente gefunden zu haben. Die Spannung, die wir dort im Reimschema und im Versmaß aufgedeckt haben, ist eine Spannung zwischen Sachlichkeit und Romantik, die als Oxymoron1 bereits den Titel des Gedichts bestimmt. Diese Spannung hat mehrere Facetten, die Erich Kästner von verschiedenen Seiten beleuchtet. Auf inhaltlicher Ebene ist die Spannung noch viel deutlicher. Wir erkennen sie durch die formale Analyse des Gedichts nun viel klarer. Die Spannung ist so stark, dass man fast dazu tendiert, von einer Zerrissenheit zu sprechen, die in jeder Strophe anders zum Ausdruck kommt.
In der ersten Strophe erfährt man, worum es im gesamten Gedicht gehen wird. Die Protagonisten bleiben komplett unbestimmt, weder Namen noch Alter erfährt der Leser. Die Protagonisten werden im Gedicht im ersten Vers lediglich mit ‚sie‘ vorgestellt. Die erste Strophe gibt das eigentliche Thema des Gedichts: Nach acht Jahren Beziehung kommt die Liebe eines Paares zum erliegen. Die Liebe kommt ‚abhanden‘ wie Kästner in aller Nüchternheit konstatiert. Der Kreuzreim verstärkt das, was ich als Zerrissenheit angedeutet hatte. Vers 2 und 4 wirken wie von außen eingeschoben. Die Bemerkung im zweiten Vers, die in Klammern ganz beiläufig eingeworfen wird, vertritt eine Sicht von außen. Auch der sehr ungewöhnliche Vergleich im vierten Vers, dass die Liebe abhanden kommt wie anderen Leuten ein Stock oder Hut, repräsentiert mit dem Bezug auf ‚die Anderen‘ eine äußerliche Sichtweise. Die Spannung in der ersten Strophe und zwischen Vers 1/3 und 2/4 ist eine Spannung zwischen der Beschreibung der Trennung, also dem Geschehen, was mit den Protagonisten geschehen ist und einer Sichtweise von außen, die das Geschehen auf eine objektive und damit vergleichbare Ebene rückt. Ungewöhnlich ist, und darin unterscheidet sich dieses Gedicht ganz klar von der Epoche des Expressionismus oder des Impressionismus, dass die Protagonisten anonym bleiben. Die Beschreibung bleibt sachlich. Das Geschehen ist in dieser Hinsicht keines, das auf bestimmte Personen zugeschnitten ist.
In Strophe zwei wird die Spannung auf andere Weise aufrecht erhalten durch die Zäsur nach der fünften Silbe. Die Zäsur in der Mitte jedes Verses wird verstärkt durch die Wiederholung des ‚und‘ an mehreren Stellen. Besonders auffällig in Vers 8: „Da weinte sie schliesslich. || Und er stand dabei.“ Durch die Zäsur und das Und wird das Geschehen auch inhaltlich auf Distanz gehalten. Sie weint und ist mit ihren Tränen allein. Und er steht dabei, kann gar nichts machen. Das ‚und‘ trennt die beiden Protagonisten voneinander. Es trennt das ‚sie‘ und das ‚er‘.
Auch in Strophe drei wird Distanz dargestellt, jedoch nochmals auf andere Weise. Vers 1 und 4 schildern ein Geschehen, das überhaupt nichts mit der Trennung zu tun hat. Was hier dargestellt wird, ist das, was mit den beiden passiert und das, was draußen, ganz unabhängig von beiden in der Welt passiert. Mit ihrer Trennung sind beide allein. Die Welt ist davon ganz unbetroffen. Die persönliche Welt der beiden Protagonisten mag zusammenbrechen. Was die Menschen machen, ob sie verreisen, arbeiten oder Klavier üben, das ist davon ganz unabhängig.
Die vierte und letzte Strophe weicht von diesem Schema ein wenig ab. Zum ersten Mal geht es nicht um die Distanz zwischen ‚sie‘ und ‚die anderen‘ (erste Strophe), oder um die zwischen ‚sie‘ und ‚ihn‘ (zweite Strophe) oder um ‚ihre Welt‘ und um die davon unabhängige ‚Welt‘ (dritte Strophe). Sondern es geht durchgängig um das ‚sie‘. Es findet kein absurder Vergleich statt. Es fließen keine Tränen mehr. Sie sind allein mit sich. Kein Klavierspiel ist zu hören. Dieses Alleinsein ermöglicht vielleicht, dass eine Art Resignation einkehrt. Dass Liebe anfängt ist genauso unfassbar wie dass sie irgendwann auch einmal aufhört. Begegnen können die beiden dem nur mit Schweigen und dem Gefühl, das, was passiert ist, nicht fassen zu können.
Hier bestätigt sich noch einmal das, was wir damit meinten, dass man sich von der Zuordnung zur Neuen Sachlichkeit nicht täuschen lassen sollte. Gefühle spielen eine große Rolle. Die Nüchternheit der Beschreibung führt nicht zur Abstumpfung und vollständigen Verdrängung der Gefühle aus dem Themenbereich der Gedichte. Ganz im Gegenteil: Der sachliche Ton und die Formalität, mit der die Trennung beschrieben wird, führt dazu, dass man viel stärker in das Geschehen hineingezogen wird. Auch die Form des Gedichts führt auf ganz verschiedene Weise dazu, dass man ‚stolpern‘ muss, dass man stehenbleibt und dem Gelesenen Beachtung schenkt. Die Protagonisten werden anonym gelassen, was, wenn oberflächlich gedeutet, vielleicht als eine Distanziertheit ausgelegt wird, die dazu führe, dass es schwierig ist, sich mit beiden zu identifizieren. Aber ganz im Gegenteil: Dass die Identität beider unbestimmt gelassen wird, führt dazu, dass man sich viel eher mit dem, was passiert, identifizieren kann.
Ich rate deshalb auch davon ab, beim Gedicht vorschnell auf die Biographie Erich Kästners zu verweisen und das, was hier dichterisch beschrieben wird, damit abzutun, dass es die dichterische Verarbeitung von Kästners Jugendliebe zu Ilse Julius darstellt. Dass Biographisches mithineinspielt in das Gedicht, ist selbstverständlich und sollte die Deutung des Gedichts nicht dominieren. Man sollte sich auch nicht zu stark an den historischen Kontext klammern und das Gedicht allein von den Hauptmerkmalen der Neuen Sachlichkeit her deuten. Das Gedicht ist nicht einfach nüchterne Abschilderung eines Vorganges zwischen zwei Menschen. Keine Reportage oder Bericht aus der Tagesschau. Die verschiedenen Facetten der Distanz zwischen den beiden anonymen Protagonisten, die in jeder Strophe auf andere Weise zum Ausdruck kommen, haben einen Allgemeinheitsgrad und Allgemeinheitsanspruch, der keinem Bericht entspricht. Die Beschreibung bleibt distanziert, sie bleibt formal und auch allgemein. Dadurch engt sie das, was passiert, nicht auf eine bestimmte Begebenheit ein. In einer Reportage oder in der Reportageliteratur, die in dieser Zeit aufkam, kann es so etwas wie eine ‚Sachliche Romanze‘ nicht geben – in einem Gedicht jedoch schon.