Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Der Mensch ist stumm“ wurde von Franz Werfel verfasst und im Jahr 1927 veröffentlicht, sodass es sich dem Ende der literarischen Moderne zuordnen lässt. Das Thema ist die Auseinandersetzung mit dem Wert von Sprache bzw. Worten.
Europa um 1900 unterlag vielen Veränderungen, was sich auf die verschiedensten Lebensbereiche auswirkte. Der Fortschritt in den Naturwissenschaften, der Mobilität und der Technik war enorm. Zudem entstand eine ganz neue Unterhaltungsszene in Europa durch TV, Kino und das Telefon. Die Sprachskepsis um 1900 war demnach Teil einer Wahrnehmungs- und Erkenntniskrise (besonders unter Intellektuellen). Ursachen waren u.a. gesellschaftlich-philosophische Erfahrungen des Ungenügens der Sprache angesichts des offenkundigen Ungenügens der Realität: Kritik an der Sprache entsprach damit indirekt einer Kritik an der Zeit. Auch der Erste Weltkrieg (1914-1918) war erst neun Jahre beendet, sodass die Menschen auch noch mit dessen Folgen zu kämpfen hatten (s. Expressionismus). Ideell findet sich die Sprachkrise v.a.im Fin de Siècle wieder, da hier mehrheitlich die eigene Lebenssituation betrachtet wird. Auch die Wahrnehmung der Unzulänglichkeit von Sprache im zwischenmenschlichen Kontakt ist hier von Bedeutung. In bewusster Abgrenzung vom Fin de Siècle entstand um 1905 als Gegenbewegung die literarische „Avantgarde“ (v.a. in Wien und Berlin). Im Zeichen eines Fortschrittoptimismus wandten sich einige Dichter von der vormaligen Flucht in die inhaltsleere Bildsprache ab und wagten den Schritt in neue, ungewohnte Literaturfelder (s. Expressionismus!).
Mithilfe des Gedichts kritisiert der Autor die fehlende Aussagekraft von Wörtern und stellt anhand der Situation eines lyrischen Sprechers die Schwierigkeit dar, seinen eigenen Gedanken bzw. Emotionen Ausdruck zu verleihen. Damit wird die generelle Unzulänglichkeit von Sprache verdeutlicht, das Wesen einer Empfindung – gerade in Momenten emotionaler Anspannung – durch Sprache adäquat abzubilden (Sprachnot, Sprachskepsis).
Das vorliegende Gedicht besteht aus vier Strophen mit jeweils vier Versen, während das Reimschema unklar ist: in den Strophen 1-3 liegen umarmende Reime mit zwei Waisen vor, während in der vierten Strophe ein vollständiger Kreuzreim aufzufinden ist. Der Binnenreim „Weinen […] meinen“ (V. 15) verdeutlicht die Unmöglichkeit, Existenzielles mit verbaler oder nonverbaler Sprache zu vermitteln. Das Metrum1 ist ein durchgängiger Jambus mit variierender Anzahl von Hebungen (zwei bis sechs). Diese Unbeständigkeit der Verslängen und Hebungen verdeutlicht die fehlende Harmonie und die Unbeständigkeit im Leben des lyrischen Sprechers. Der ausschließliche Zeilenstil2 außer in V. 1-2 (Enjambement3) verstärkt die Prägnanz der emotionalen Situation des lyrischen Sprechers. Insgesamt kann man sagen, dass der formale Aufbau wie ein Abbild der Phasen einer gedanklichen, subjektiven Verarbeitung erscheinen.
Im Bereich der sprachlich-stilistischen Gestaltungsmittel ist besonders die wiederholte, gleichbleibende Einrückung des jeweils letzten Verses („Der Mensch ist stumm“, V. 4, 8, 12, 16) als Element der Selbstreflexion auffällig. Zudem erzeugt diese Übernahme des Titels als refrainartige Wiederholung das Bild eines absoluten Kreislaufs (diffuse Gefühlslage). Die Gemination5 bzw. Repititio einzelner Wörter wie bspw. „Zug“ (V. 5) und „Tod“ (V. 10) verdeutlichen die Intensität des Empfindens des lyrischen Sprechers. Die Interjektionen6 (vgl. V. 11, 13) dienen als Ausdruck gedanklicher Entlastung, wobei auch der Wunsch des lyrischen Sprechers nach einer Zigarette als Symbol der „Druckminderung“ fungiert. Insgesamt vermitteln die sprachlich-stilistischen Gestaltungsmittel v.a. eine subjektive Verlusterfahrung, die besonders durch den Gebrauch vieler Pronomina (fünf Mal „du“, elf Mal „ich“) deutlich wird.
Beim Aspekt der Bildsprache/Motivik des Gedichts sind besonders die zentralen Wortfelder „Abschied“ bzw. „Trennung“ (vgl. Strophe 1-3) auffallend. Hierbei dient die gedankliche „Ausgangssituation“ einer Abschiedsszene am Bahnhof als eine kritische Reflexion über den Wert von Sprache bzw. Worten. Die Metapher7 „Tod“ (V. 10) ist ein Zeichen von Zukunftspessimismus und zugleich eine Hyperbel8 zur Verstärkung des Empfindens des lyrischen Sprechers. Ein weiteres bildliches Stilmittel ist die auffällige Personifikation9 des „Weinen[s]“, um die Macht der nicht in Worte zu fassenden Zustände (Emotionen) zu verabsolutieren. Insgesamt ist die zurückhaltende Bildlichkeit ein Ausdruck prosaischer Lyrik.
Zusammenfassend kann man sagen, dass das Gefühl der Hilfs- und Orientierungslosigkeit beim lyrischen Sprecher (vgl. V. 2, 9ff., 13f.) eine Suche nach einer adäquaten Ausdrucksform entstehen lässt. Die Wahrnehmung einer existenziellen Bedrohung (Sprachkrise/Sprachnot) des lyrischen Sprechers wird jedoch
ironisch gebrochen durch die scheinbare Harmonie/Rhythmik der Form. Die naiv-simple, kühle Ausdrucksweise dient als Zeichen einer subjektiv wahrgenommenen Verletzung, was auch durch die fehlende überbordende Bildlichkeit zeigt. Weder verbale (vgl. Strophe 1-3) noch nonverbale (vgl. Strophe 4) Sprache genügt, um dem wahren Wert der Empfindungen gerecht zu werden.
Einige Elemente des Gedichts sprechen für eine Einordnung in die ästhetizistische Literatur zur Jahrhundertwende, z. B. wird eine gefühlte Sprachnot bzw. Skepsis, transportiert über das Empfinden eines lyr. Sprechers, dargestellt. Ideell entspricht die subjektive Hilflosigkeit damit dem Konzept des Fin de Siècle, d. h. der Wahrnehmung der Unzulänglichkeit von Sprache im zwischenmenschlichen Kontakt. Aber das Gedicht enthält auch Elemente der Denkrichtung Avantgarde, insbesondere in der formalen Anlage und dem Ausdruck. Die refrainartige Repetitio10 des Titels ist ein modernes Element prosaischer Lyrik und damit ein ungewöhnliches Gestaltungsmittel.
Die Charakterisierung von Lyrik durch August Wilhelm Schlegel von 1809 trifft nicht wirklich auf das vorliegende Gedicht zu, da der lyrische Sprecher keinesfalls versucht seine Gefühlsregungen innerlich zu verewigen. Stattdessen befindet er sich in einer Situation, in der er sich aufgrund der erlebten Sprachnot hilf- und orientierungslos fühlt. Nach Schlegel ist die Lyrik der musikalische Ausdruck von Gefühlen durch Sprache, jedoch liegt hier der Fall vor, dass der lyrische Sprecher nicht in der Lage ist seine Emotionen in Worte zu fassen, d. h. die Sprache ist hier nicht ausreichend, um Gemütsbewegungen auszudrücken.