Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Der Mensch ist stumm“ wurde von Franz Werfel verfasst und im Jahr 1927 veröffentlicht, sodass es sich dem Ende der literarischen Moderne zuordnen lässt.
In der ersten Strophe wird der mit Trauer verbundene Abschied eines lyrischen Sprechers von einem lyrischen Du beschrieben, unter dem der lyrische Sprecher stark leidet. Die Gefühle, die der lyrische Sprecher angesichts dieser Situation empfindet, werden in der darauf folgenden Strophe dargestellt. Anschließend entwickelt der lyrische Sprecher das Szenario, seine Partnerin nie mehr wiederzusehen, was er mit dem Tode gleichsetzt. Die finale Situation wird in der letzten Strophe des Gedichts geschildert: die Darstellung einer „Rückkehr“ in die Gemeinschaft, ausgedrückt durch einen Gang des lyrischen Sprechers auf die Straße. Er bleibt allein zurück und gibt sich seiner Trauer und seinem Leid hin, wobei er realisiert, dass weder Worte noch Weinen seine Emotionen in diesem Moment ausdrücken können.
Mithilfe des Gedichts kritisiert der Autor die fehlende Aussagekraft von Wörtern und thematisiert die Unmöglichkeit, sich durch Sprache richtig auszudrücken, um so die eigenen Emotionen und Gedanken seinem Gegenüber zu vermitteln. Dies stellt er durch die Abschiedssituation eines lyrischen Sprechers von seiner Partnerin dar, wobei das diffuse Gefühlschaos des lyrischen Sprechers im Vordergrund steht.
Um diese Deutungshypothese zu überprüfen, werden im Folgenden der formale Aufbau, die sprachlich-stilistische Gestaltung und die vom Dichter verwendete Bildsprache untersucht.
Das vorliegende Gedicht besteht aus vier Strophen mit jeweils vier Versen, von denen sich in jeder Strophe der erste und der dritte Vers reinem (umarmender Reim). Der zweite Vers jeder Strophe ist eine Waise, d. h. die abschließenden Silben reimen sich auf keine der anderen im Gedicht. Diese Auffälligkeit verdeutlicht die Einsamkeit der Menschen, die durch die Unfähigkeit, sich über Gefühle auszutauschen, verursacht wird. Die Sprache mache es einem Menschen nicht möglich, die eigenen Emotionen so in Worte zu fassen, dass die Mitmenschen sie verstehen, was zu Missverständnissen und Trauer führe. Eine weitere Auffälligkeit in der Form die die zu Beginn aufgestellte Deutungshypothese bestätigt, ist der immer eingerückte letzte Vers in jeder der Strophen. Durch diese Einrückung werden die betroffenen, strophen-abschließenden Verse, welche immer „Der Mensch ist stumm“ lauten, in den Vordergrund gestellt, wodurch die Kernaussage des Gedichts refrainartig betont wird (Ebene der Selbstreflexion des lyrischen Sprechers). Obwohl der Mensch eigentlich von Geburt an dazu fähig ist, Worte „in den Mund zu nehmen“ um sich somit auszudrücken, sei er im Grunde genommen dennoch stumm, da der Sprache und der Vielzahl der Wörter die nötige Aussagekraft fehle, d. h. auch durch diese Einrückung wird die Deutungshypothese bestätigt. Jedoch bewirkt diese Einrückung des letzten Verses auch noch etwas anderes: der Vers ist von beiden Seiten von Leere umgeben, welche die innere Leere des lyrischen Sprechers hervorheben soll. Das Metrum2 ist ein Jambus, jedoch variiert die Verslänge in beinahe jedem Vers, sodass keine feste Anzahl der Hebungen genannt werden kann. Diese Unbeständigkeit der Verslänge und Hebungen verdeutlicht die fehlende Harmonie und Unbeständigkeit im Leben des lyrischen Sprechers: da es ihm nicht gelingt, sich durch Sprache auszudrücken, kann er nicht erwarten, von seiner Partnerin bzw. seinen Mitmenschen verstanden zu werden, was zu einer erheblichen Erschwerung des Alltags führen kann. Der Bruch mit dem Metrum (Dreifachbetonung bzw. fehlende Senkung) in V. 6 („Mir ist als dürfte ich dich nie wiedersehn.“) stellt das Wort „dich“ in den Vordergrund, sodass die hohe Bedeutung der Partnerin im Leben des lyrischen Sprechers deutlich wird. Sie ist sein Lebensmittelpunkt, und dennoch ist es ihm aufgrund der fehlenden Aussagekraft von Worten nicht möglich, ihr seine Gefühle klar und deutlich zu zeigen.
Ein weiterer geeigneter Aspekt zur Überprüfung der Deutungshypothese ist die sprachlich-stilistische Gestaltung des Gedichts. Der lyrische Sprecher verwendet viele Worte, die sich dem Wortfeld der Trauer und der Vergänglichkeit zuordnen lassen. „Abschiedskuß“ (V. 1), „klammre“ (V. 2), „nervös“ (V. 2), „nie“ (V. 6), „fliehn“ (V. 11), „würgt“ (V. 13) und „weinen“ (V. 13, 15) stellen die Abschieds- und Trauerstimmung dar, welche sich im Fin du Siecle verordnen lässt. Dieses Wortfeld ist generell negativ konnotiert, was das Leid des lyrischen Sprechers verdeutlicht. Eine weitere Auffälligkeit ist der starke Ich-Du-Kontrast: das Pronomen „Du“ wird fünfmal verwendet (vgl. z. B. V. 1-3), während das Pronomen „Ich“ insgesamt elfmal aufzufinden ist. Dieses Missverhältnis der Pronomina zeigt, dass die eigene Gefühlslage des lyrischen Sprechers im Vordergrund steht, er es jedoch nicht schafft, die passenden Worte zu finden, die seine Gefühle angemessen vermitteln können. Die Gemination3, d. h. die Dopplung von Worten in V. 5 „Will denn der Zug, der Zug nicht endlich pfeifen?“ verdeutlicht ebenfalls die aufgestellte Deutungshypothese. Ein Zug pfeift meistens sowohl bei der Abfahrt als auch bei der Ankunft an einem Bahnhof, was einerseits den Abschied des lyrischen Sprechers von seiner Partnerin, andererseits aber auch die Hoffnung des lyrischen Sprechers auf ihre Rückkehr verdeutlichen kann. Das Unmögliche, die Hoffnung auf ihre Rückkehr und eine Wiedervereinigung auszudrücken, wird durch den Parallelismus „Der Mensch ist stumm“ (V. 4, 8, 12, 16) zum Ausdruck gebracht. Durch diesen Parallelismus soll gezeigt werden, dass der Sprache der nötige Wertgehalt fehlt um wertvolle, entscheidende Worte/Zustände (z. B. Emotionen) mitzuteilen. Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, verdeutlicht die exclamatio, also der Ausruf „Dahin!“ (V. 13). Die Partnerin dey lyrischen Sprechers sei fort und der lyrische Sprecher selbst bleibe allein zurück. Die emotionale Folge dieser Einsamkeit und des Verlassenseins zeigt die Alliteration4 „Würgt mich Weinen“ (V. 13).
Nach der Untersuchung der sprachlich-stilistischen Gestaltung und des Wortfeldes, eignet sich auch der Aspekt der Bildsprache im Gedicht zur Überprüfung der Deutungshypothese, wobei bereits beim ersten Lesen des Gedichts auffällt, dass die sprachlich-stilistischen Gestaltungsmittel deutlich überwiegen. Gerade dieser nüchterne, lakonische Ausdruck verstärkt die Emotionalität der Botschaft (s. Avantgarde). Ein auffälliges bildliches Stilmittel ist der indirekte Vergleich in V. 9f. „Ich weiß, wenn ich dich nicht mehr hätte, das wär der Tod, der Tod, der Tod“. Zum einen ist die dreifache Wiederholung die zum Bereich der sprachlichen Mittel gehört prägnant, jedoch ist es auch ein drastischer Vergleich, da der lyrische Sprecher sein Leben ohne die Partnerin mit dem Lebensende gleichsetzt. Da er jedoch mithilfe von Sprache diese Empfindung nicht erfolgreich vermitteln kann, sind diese Empfindungen der Partnerin möglicherweise nicht bewusst. Wie man im weiteren Verlauf des Gedichts sieht, führt ihr Gehen bei ihm zu einer starken Trauer (vgl. V. 13), welche man auf Dauer mit einem „Gefühlstod“ vergleichen kann. Das Gottessymbol in V. 11 zeigt zum einen die starke Verzweiflung des lyrischen Sprechers, andererseits jedoch auch die Religion als Säule der humanistisch geprägten europäischen Denkart. Der lyrische Sprecher wendet sich also auf eine indirekte Weise an Gott, in der Hoffnung, Hilfe zu erlangen. Die Metapher5 „eine Zigarette“ (V. 11) zeigt die Sehnsucht der lyrischen Sprechers nach Ruhe und Beständigkeit im Leben, kann hier allerdings neben dem Wunsch, „Druck“ abzubauen, auch als Ersatz betrachtet werden. All diese Emotionen werden erst hervorgerufen durch die fehlende Aussagekraft von Wörtern und den schwindenden Wertgehalt von Sprache. Deutlich wird zudem auch die diffuse Gefühlslage des lyrischen Sprechers.
Zusammenfassend lässt sich also nach der Untersuchung des formalen Aufbaus, der sprachlich-stilistischen Gestaltung und der Bildsprache sagen, dass die zu Beginn aufgestellte Deutungshypothese bestätigt werden kann. Primär wird die Hilflosigkeit des lyrischen Sprechers vermittelt, sekundär die Kritik des Dichters an der zunehmenden Wertlosigkeit von Sprache. Verdeutlicht wird diese Kritik mithilfe einer Beziehung, die in die Brüche geht aufgrund der Begrenztheit von Kommunikation. Die Konsequenz, die sich aus dieser fehlenden Aussagekraft von Worten ergibt, ist die innere Leere und Einsamkeit, was wiederum bei anderen Menschen zu Unverständnis führen kann.