Autor/in: Paul Boldt Epoche: Expressionismus Strophen: 4, Verse: 14 Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-3, 4-3
Der Potsdamer Platz in ewigem Gebrüll
Vergletschert1 alle hallenden Lawinen
Der Straßentrakte: Trams2 auf Eisenschienen,
Automobile und den Menschenmüll.
Die Menschen rinnen über den Asphalt,
Ameisenemsig, wie Eidechsen flink.
Stirne und Hände, von Gedanken blink3,
Schwimmen wie Sonnenlicht durch dunklen Wald.
Nachtregen hüllt den Platz in eine Höhle,
Wo Fledermäuse, weiß, mit Flügeln schlagen
Und lila Quallen liegen - bunte Öle;
Die mehren sich, zerschnitten von den Wagen. -
Aufspritzt Berlin, des Tages glitzernd Nest,
Vom Rauch der Nacht wie Eiter einer Pest.
Anmerkungen
1
Ein Gletscher ist eine sich sehr langsam bewegende (Eis-)Masse
2
Altmodisches Wort für Straßenbahn
3
Kurzform von blinken
Café Josty
Das Gedicht bezieht sich auf die von den Gebrüdern Josty in Berlin gegründete Konditorei. Das Josty war bereits sehr früh auch als Künstlercafe bekannt; Heinrich Heine, Joseph von Eichendorff, die Gebrüder Grimm, Erich Kästner, Paul Boldt und Theodor Fontane sind nur einige berühmte Persönlichkeiten, die in dem Etablissement gastierten. Insbesondere Künstler des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeiten machten in dem Cafe Halt, um sich vom verkehrsreichen Potsdammer Platz mit seiner Dynamik und Modernität inspirieren zu lassen.
Das Cafe existierte von 1812 bis 1930. Das Gebäude, in dem sich das Cafe Josty befand, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Seit 2001 existiert im Sony Center nahe des ehemaligen Standorts ein gleichnamiges Cafe, welches jedoch bis auf den Namen wenig mit dem Vorgänger gemeinsam hat. Es wird vorwiegend von Touristen besucht, während der Berlinale aber auch von Schauspielern.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Im Gedicht „Auf der Terrasse des Café Josty“ von Paul Boldt, welches in die Epoche der expressionistischen Lyrik einzuordnen ist, wird die Industrialisierung in Berlin anhand von Stilmittlen, welche naturbezogen sind, beschrieben.
Die äußere Form des Gedichts ist ein Sonett1 mit zwei Quartetten und zwei Terzetten. Das Metrum2 ist meist ein fünfhebiger Jambus, wobei der erste Vers aus das Reihe fällt, was möglicherweise zur Hervorhebung des „Potsdamer Platz“ dient, welcher den Ort des Geschehens darstellt.
Das Reimschema in beiden Quartetten ist in der Form eines umgreifenden Reims verfasst [abba;cddc]. Das erste Terzett schließt an dieses Schema an [efe], wohingegen das letzte Terzett aus der Reihe fällt. Hier wird die Zusammengehörigkeit des ersten Verses der vierten Strophe mit der dritten Strophe deutlich, da dieser sich auf den zweiten Vers eben dieser reimt.
Die letzten beiden Verse sind in einem unabhängigen Paarreim verfasst [gg].
Gleich zu Beginn der ersten Strophe wird der Ort des Geschehens präsentiert „Potsdamer Platz“ (V. 1). Das Gedicht spielt also in Berlin, der heutigen Hauptstadt Deutschlands, welche sich damals als eine der ersten Städte mit der Industrialisierung auseinandersetzte.
Die Beschreibung des Platzes ist negativ, durch den Ausdruck „ewigem Gebrüll“ (V.1). Es zeigt die hohe Lautstärke der Stadt, welche mit dem abwertenden Nomen „Gebrüll“ noch verstärkt wirkt. Gebrüll wird meist als störend und negativ empfunden und klingt zu dem sehr animalisch. Mit dem zusätzlichen Adjektiv „ewig“ wird die Unannehmlichkeit noch verstärkt, da es ein unaufhörliches, durchdringendes Geräusch zu sein scheint, welches niemals endet und eine unangenehme Eintönigkeit verbreitet. Von diesem Geräusch erhalten die Städter sicherlich gesundheitliche Schäden der Ohren, welche ihren Zustand noch verschlechtern.
Auch ist zu vermuten, dass das, was der Einzelne sagt, in der Masse des Gebrülls untergeht, was auf den Individualitätsverlust hindeutet.
Anschließend wird mit einer Metapher aus der Natur das Straßenleben Berlins weiter beschrieben. Es wird das Verb „vergletschert“ (V.2) verwendet, welches man in Verbindung bringt mit Eis, Härte, Kälte und Isolation. All das erklärt Berlins Straßen während der Industrialisierung. Die Menschen sind isoliert von jeglichem Kontakt zu anderen Menschen, sie spüren keine emotionale Nähe. Sie sind kalt, was das Wort „vergletschert“ sehr gut beschreibt. Es folgt eine Assonanz3 „alle hallenden Lawinen“ (V.2), in der noch immer das Bild der Natur und das Eis verwendet wird. „Lawinen“ gelten als sehr gefährlich und als Bedrohung für Leben, was abermals den unangenehmen Zustand in der Stadt verdeutlicht. Die Lautstärke einer Lawine ist ebenfalls nicht zu unterschätzen, was verstärkt durch das Wort „hallenden! Die Lautstärke in der Stadt betont.
Wie bereits erwähnt werden hier die Straßen Berlins beschrieben, was in den letzten beiden Versen des ersten Quartetts erklärt wird.
„Trams auf Eisenschienen, Automobile“ (V.3,4). Der Verkehr und die viele Industrie werden hier beschrieben und durch den Zusatz „Menschenmüll“(V.4) sehr abwertend dargestellt. Die Stadt scheint in keinem guten Zustand zu sein.
Nachdem im ersten Quartett hauptsächlich die Umwelt beschrieben wurde, wird jetzt das Hauptmerkmal auf die Menschen und ihr Handeln gelegt.
Es fällt aus, dass nicht von Einzelnen die Rede ist, sondern dass ausschließlich von „die Menschen“ (V.5) gesprochen wird, was die Anonymität in der Großstadt zur Geltung bringt. Direkt im ersten Vers des zweiten Quartetts handelt es sich um eine typisch expressionistische Verdinglichung der Menschen, denn diese „rinnen über den Asphalt“ (V.5). Weiterhin werden sie als „ameisenemsig, wie Eidechsen flink.“ (V.6) beschrieben, was die Situation sehr hektisch und unübersichtlich wirken lässt. Zudem werden die Menschen hier animalisch dargestellt und mit Tieren verglichen die nicht als schön gelten. Sie haben Eigenschaften, die die Menschen eher negativ erscheinen lassen. Die Ameise ist arbeitswütig und wenn sie auf ihrer Straße läuft, sucht sie sich ihren Weg ohne ihre Artgenossen zu beachten. Dieses Bild wird hier auf die Menschen übertragen, somit gelten sie als arbeitswütig. Der Vergleich „wie Eidechsen flink.“ hört sich fluchtartig an, denn Eidechsen sind sehr scheue Tiere. Vielleicht haben die Menschen unterbewusst den Wunsch nach Flucht aus ihrem ewigen, lauten, kalten Alltag.
Fortführend wird der Mensch durch die dissoziierte Wahrnehmung „Stirne und Hände“ (V.7) beschrieben, welche für den Geist und den Körper stehen. Die Stirn in Verbindung mit Kopf und Gehirn, als die Gedanken, und die Hände als Repräsentant ihres Körpers. Auch wird wieder von den Menschen in der Mehrzahl gesprochen, was die Anonymität verdeutlicht.
Sie werden als „von Gedanken blink“ (V.7) beschrieben, was meint, dass die Menschen nicht nachdenken. Es müsste „von Gedanken blank“ heißen, doch diese Wortänderung ist hier vermutlich reimbedingt. Dieser Vers verdeutlicht ihr Handeln ohne nachzudenken. Sie sind in ihrem Alltag isoliert und lassen nichts an sich ran.
Mit dem Vergleich „schwimmen im Sonnenlicht durch den dunklen Wald“ (V.8), wird das ziellose Rennen der Menschen durch die Stadt beschrieben. Die Menschen werden hier jedoch positiv dargestellt, denn sie werden mit dem „Sonnenlicht“ verglichen, welches hell und fröhlich wirkt. Gegensätzlich dazu wird die Stadt als „dunkler Wald“ beschrieben, was das negative Bild der Stadt noch verstärkt. Möglicherweise sieht das lyrische Ich ein positives Menschenbild mit keinem von vornherein schlechten Charakter, doch durch die Industrie und die Stadt, hier „der dunkle Wald“, verändern sich die Menschen zu einer kalten anonymen Gesellschaft.
Das erste Terzett wird eingeleitet mit dem Einbruch der Nacht, was darauf schließen lässt, dass das Gedicht an einem Abend beginnt oder schon die ganze Zeit Nacht ist.
Die Metapher „Nachtregen hüllt den Platz in eine Höhle“ (V.9) verbindet man mit einer dunklen und auch gefährlichen Situation, denn man weiß nicht, was sich in einer Höhle verbirgt. Das Wort „hüllt“ wirkt zudem wieder isolierend und einengend, was auch für eine Höhle gilt, welche meist nicht sonderlich geräumig ist. Vor allem aber hat man das Gefühl von Kälte und Dunkelheit, welches ebenfalls negativ wirkt.
Diese negative Bild wird durch die „Fledermäuse“ (V.10) noch verstärkt, denn diese sind ekelerregende Tiere, welche häufig angstauslösend sind. Hier werden sie ungewöhnlicher Weise als „weiß“ (V.10) beschrieben, was aber eventuell auch auf Lichtreflexe der Laternen zurückzuführen sein kann, an welchen sie vorbeifliegen und „mit Flügeln schlagen“ (V.10).
Ebenfalls ein negatives Bild verursachen die „lila Quallen“ (V.11), welche auf den Straßen sind. Quallen sind genau wie Fledermaüse ekelerregende Tiere, die ein unangenehmes Angstgefühl auslösen. Die „lila Quallen“ sollen das Öl darstellen, welches die Straßen durch die Autos, und somit die Industrie, verschmutzt. Öl hat häufig lila Farbreflexe und passt somit gut zu diesem Bild der „bunten Öle“ (V.11). Genau wie manche Quallen den Menschen verbrennen können und er darunter leidet, können auch die Öle dem Menschen Schaden zu fügen, nämlich durch Umweltverschmutzung und daraus folgenden gesundheitlichen Problemen. Diese sind demzufolge auch als Gefahr anzusehen.
Der erste Vers der zweiten Terzetts, also der letzten Strophe ist inhaltlich und auch im Bezug auf das Reimschema äußerlich mit dem ersten Terzett verbunden.
Er beschreibt Öle, welche „von den Wagen“ (V.12) „zerschnitten“ (V.12) werden und sich so „mehren“(V.12). Es werden also immer mehr verschmutzende Öle, bzw. Quallen, welche eine Gefahr für die Menschen darstellen. Das Verb „zerschnitten“ klingt zudem sehr negativ und brutal, was die gefährliche Stimmung noch verstärkt. Verantwortlich dafür sind hier die Wagen, welche auch in Bezug auf die Industrialisierung negativ dargestellt werden.
Fortfahrend wird im letzten Terzett der Kontrast von Tag und Nacht in Berlin dargestellt. Die Metaphern4 „aufspritzt Berlin, des Tages glitzernd Nest / vom Rauch der Nacht wie Eiter einer Pest“ (V.13,14) stellen diesen Kontrast sehr ekelerregend im Vergleich mit einer Pestbeule dar, welche „aufspritzt“. Der Tag wird als „glitzernd Nest“ beschrieben, was sich sehr positiv anhört und das Gefühl der Geborgenheit vermittelt. In einem Nest ist man zu Hause und fühlt sich wohl. Doch dieses angenehme Gefühl kontrastiert mit dem Bild der aufspritzenden Pestbeule, welches die Nacht beschreibt, wie sie einbricht. Das Verb „aufspritzen“ allein sit schon verbunden mit unangenehmen Gedanken doch „wie Eiter einer Pest“ treibt diese Gedanken des Ekels an die Spitze und vermittelt im Kontrast zum Tag ein sehr negatives Bild der Nacht. Auch der „Rauch“ (V.14), welcher in Verbindung mit der Nacht erwähnt wird, verstärkt das negative Bild, denn Rauch ist grau und verschmutzt die Luft. Er taucht die ganze Stadt in ein unangenehmes Grau, welches eintönig und deprimierend auf die Menschen wirkt. Geht man näher auf das Wort „Pest“ ein, so ist zu erwähnen, dass dies eine Krankheit ist, welche früher tödlich enden musste, weil man keinerlei Mittel dagegen hatte.
Die Nacht ist also vergleichbar mir einer unangenehmen, tödliche endenden Krankheit. Es ist zu überlegen, ob die Menschen ohne Schäden in dieser Stadt leben können, oder ob sie möglicherweise so sehr unter den den Umständen leiden, dass sie krank oder wahnsinnig davon werden.
Abschließend ist zu sagen, dass in diesem Gedicht von Boldt die Industrialisierung in Berlin in ein sehr negatives Licht gerückt wird, was durch viele Metaphern aus dem Bereich der Natur gelingt.
Der Titel „Auf der Terrasse des Café Josty“ beschreibt lediglich den Standpunkt des Betrachters, hat aber weiter nichts mit dem Inhalt zu tun.
Das Gedicht enthält viele typische expressionistische Ansätze und kritisiert gelungen die Folgen der Industrialisierung und die Anonymität in der Großstadt.
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