Autor/in: Friedrich Schiller Epoche: Weimarer Klassik Strophen: 8, Verse: 67 Verse pro Strophe: 1-6, 2-10, 3-16, 4-11, 5-4, 6-5, 7-5, 8-10
Vor seinem Löwengarten,
Das Kampfspiel zu erwarten,
Saß König Franz,
Und um ihn die Großen der Krone,
Und rings auf hohem Balkone
Die Damen in schönem Kranz.
Und wie er winkt mit dem Finger,
Auf tut sich der weite Zwinger,
Und hinein mit bedächtigem Schritt
Ein Löwe tritt,
Und sieht sich stumm
Rings um,
Mit langem Gähnen,
Und schüttelt die Mähnen,
Und streckt die Glieder,
Und legt sich nieder.
Und der König winkt wieder,
Da öffnet sich behend
Ein zweites Tor,
Daraus rennt
Mit wildem Sprunge
Ein Tiger hervor,
Wie der den Löwen erschaut,
Brüllt er laut,
Schlägt mit dem Schweif
Einen furchtbaren Reif,
Und recket die Zunge,
Und im Kreise scheu
Umgeht er den Leu
Grimmig schnurrend;
Drauf streckt er sich murrend
Zur Seite nieder.
Und der König winkt wieder,
Da speit das doppelt geöffnete Haus
Zwei Leoparden auf einmal aus,
Die stürzen mit mutiger Kampfbegier
Auf das Tigertier,
Das packt sie mit seinen grimmigen Tatzen,
Und der Leu mit Gebrüll
Richtet sich auf, da wird's still,
Und herum im Kreis,
Von Mordsucht heiß,
Lagern die greulichen Katzen.
Da fällt von des Altans Rand
Ein Handschuh von schöner Hand
Zwischen den Tiger und den Leun
Mitten hinein.
Und zu Ritter Delorges spottenderweis
Wendet sich Fräulein Kunigund:
»Herr Ritter, ist Eure Lieb so heiß,
Wie Ihr mir's schwört zu jeder Stund,
Ei, so hebt mir den Handschuh auf.«
Und der Ritter in schnellem Lauf
Steigt hinab in den furchtbarn Zwinger
Mit festem Schritte,
Und aus der Ungeheuer Mitte
Nimmt er den Handschuh mit keckem Finger.
Und mit Erstaunen und mit Grauen
Sehen's die Ritter und Edelfrauen,
Und gelassen bringt er den Handschuh zurück.
Da schallt ihm sein Lob aus jedem Munde,
Aber mit zärtlichem Liebesblick –
Er verheißt ihm sein nahes Glück –
Empfängt ihn Fräulein Kunigunde.
Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht:
»Den Dank, Dame, begehr ich nicht«,
Und verläßt sie zur selben Stunde.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
„DER HANDSCHUH“ – SPIEL, SATZ UND SIEG
Die Ballade „Der Handschuh“ gehört zu einem der meist zitierten Werke deutscher Dichtkunst. Schuld daran ist ein Satz, der Schüler unzähliger Generationen zum Lachen gebracht hat – sich in der zuerst veröffentlichten Version aber gar nicht findet, weil sie vom Verfasser geändert wurde. Erst später machte Friedrich Schiller die Revision wieder rückgängig und verbreitete das Gedicht in der ursprünglichen Variante weiter.
STEIN DES ANSTOßES
Gemeint ist die Zeile
„Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht:“ (V. 65),
die durch Charlotte von Stein beanstandet worden war. Sie hatte die Ballade als eine der ersten zu lesen bekommen und sich über das geschilderte Benehmen empört. Nicht ganz zu Unrecht, denn Schiller beschrieb in seinem Gedicht die Heldentat eines Ritters – für den sich ein solch rüdes Verhalten einfach nicht gehört.
Der getadelte Poet nahm sich der Kritik an und milderte des anstößigen Vers ab. Beim Abdruck im „Musen-Almanach“ des Jahres 1798 stand an seiner Stelle der Satz:
„Und der Ritter sich tief verneigend spricht:“ (V. 65, frühere Fassung)
Das war ebenso elegant gelöst wie inhaltlich passend, wirkte deutlich ritterlicher und gefiel Frau von Stein besser. Auch Verleger Christian Gottfried Körner war mit der umgeschriebenen Reaktion des Helden zufrieden. Er lobte die Korrektur Schillers mit den Worten:
„dass du den Schluss des Handschuhs geändert hast, ist, däucht mich, ein Gewinn, theils wegen des Rittercostüms, theils weil dadurch die letzte Zeile mehr gehoben wird.“
SELBST-(ENT)TÄUSCHUNG
Doch sowohl die eine als auch der andere sollten sich getäuscht sehen. Obgleich das Gedicht in der revidierten Version großen Anklang fand, ärgerte sich Schiller maßlos, von Steins Aufforderung nachgekommen zu sein. Da hatte er endlich einmal über die gewohnten Stränge geschlagen – und dann doch wieder nachgegeben! Dabei hätte sich sein unritterlich agierender Ritter neben Goethes Beiträgen zum aktuellen „Musen-Almanach“ noch wie ein Waisenknabe ausgenommen.
Schillers Dutz-, Busen- und Dichterfreund hatte nämlich ebenfalls ein paar Werke zur 1798 erschienenen Ausgabe beigesteuert. Im zurückliegenden Jahr war zwischen den beiden Poeten ein übermütiger Wettstreit um die beste Ballade entbrannt, in dessen Zuge sie sich vom Sagen-Schatz europäischer Länder hatten inspirieren lassen. Goethe waren zu diesem Zweck die Überlieferungen der lustfreundlichen Griechen nützlich gewesen; Schiller hatte vornehmlich in historischen Aufzeichnungen der hochgeachteten Nachbarstaaten herumgesucht.
Auf dieses Material gestützt stand er nun ziemlich dumm da. Im Vergleich zum restlichen Inhalt des „Musen-Almanachs“ wirkte sein „Handschuh“ plötzlich kreuzbrav und allzu gefällig. Während sich ganz Weimar über den Zauberlehrling seines geschätzten Kollegen amüsierte und über dessen zotige „Braut von Korinth“ empörte, lag seinerseits nur massenkompatible Durchschnittsware vor. „Der Handschuh“ wurde als
„wohlklingendes Heldenstück“
gefeiert und vor allem von den Frauen geliebt.
SELBSTREFLEXION
Aber war er nicht selber schuld an der Misere? Hatte er das fertige Werk in seinem Begleitbrief vom 18. Juni 1797 nicht selbst als
„kleines Nachstück“
zu seiner Ballade „Der Taucher“ bezeichnet? Hatte er es wegen des leichten Tones nicht selbst als bloße
„Erzählung“
in den „Musen-Almanach“ aufgenommen? Und hatte er am Ende nicht auch selbst die Schluss-Verse geändert? Warum sollte er dann nicht auch selbst alles wieder rückgängig machen können?!
Gut – das mit dem „kleinen Nachstück“ könnte Goethe belegen, denn er hatte diese Aussage schriftlich. Aber er war ein Freund und als solcher sicher bereit, Stillschweigen zu wahren. Und irgendwie waren sich „Der Handschuh“ und „Der Taucher“ thematisch ja recht ähnlich, so dass sich der Begriff „Nachstück“ noch ganz gut umdeuten ließe. Gegen die selbstkritische Einordnung als „Erzählung“ sprachen das lyrische, das epische und das dramatische Element des Gedichtes. Eigentlich fehlte dem Werk nur ein lehrhaftes Urteil, um daraus eine ernstzunehmende Ballade zu machen.
Sich artig „verneigend“ bot der kühne Ritter nunmal keinen ausreichenden Lerneffekt für das hochnäsige „Fräulein Kunigunde“ (V. 49, V. 64), das so kaltblütig mit dem Leben und der Liebe des Edelmannes gespielt hatte. Wie aber sähe es aus, wenn er sie statt mit einer Verbeugung mit einer handfesten Beleidigung bedenken würde? Wäre das nicht ungleich wirkungsvoller? Und wäre es nicht die bessere Lehre – sowohl für die Dame im Gedicht als auch für die Damen, die es lesen?
SELBSTKORREKTUR
Diese Vorstellung muss Schiller recht angenehm gewesen sein, denn im Gegensatz zu seinem lebens- und liebeslustigen Kollegen Goethe war er ein recht konservativer Mensch, der die Zweisamkeit (s)einer Ehe ebenso schätzte wie nutzte. Mit einem geänderten Schluss könnte er nicht nur belehren, sondern auch eigene Werte vermitteln. Doch woher eine knackige Pointe nehmen, wenn nicht stehlen? Wie den „Handschuh“ effektvoll beenden, ohne ihn komplett umzuschreiben?
Durch den Briefwechsel mit Goethe ist belegt, dass Schiller für das ganze Werk nur drei Tage gebraucht hatte. Bis zur Rückbesinnung auf den entscheidenden Satz vergingen unbekannt viele Wochen – und das, obwohl er ihn buchstäblich von Anfang an vor Augen hatte: Die Idee,
„ihr den Handschuh ins Gesicht“ (V. 65)
zu werfen bzw. werfen zu lassen, entstammte nämlich nicht seiner Eingebung, sondern den „Essais historiques sur Paris de Monsieur de Saint-Foix“, die ihm als Inspirationsquelle für das Gedicht gedient hatten. Dort heißt es wörtlich:
Eines Tages, als Franz I. einem Kampf seiner Löwen zusah, ließ eine Dame ihren Handschuh fallen und sagte zu dem Ritter Delorges: ,Wollt Ihr mich glauben machen, daß Ihr mich liebt, wie Ihr mir alle Tage schwört, so hebt mir den Handschuh auf!' Der Handschuh war aber in den Löwenzwinger hinabgefallen. Delorges stieg hinunter, hob den Handschuh aus der Mitte der schrecklichen Tiere auf, stieg wieder zurück, warf ihn der Dame ins Gesicht und wollte sie nie wiedersehen, ungeachtet vieler Anträge von ihrer Seite.
Es war also sogar dokumentiert, dass ein Ritter sich unritterlich benehmen darf. Was scherten Schiller da noch die Einwände einer Frau von Stein – die seine fertige Arbeit ohnehin nur zu sehen bekommen hatte, weil sie einmal mehr als schicklich bei Goethe ein- und ausgegangen war? Sie gehörte ja auch zu den Frauenzimmern, die eine Lehre nötig hatten, weil sie als bereits verheiratete Hofdame anderen Männern die Köpfe verdrehte. Bei ihm war es ihr ebenfalls gelungen – wenn auch nur im Hinblick auf sein Werk.
DIE BALLADE IM EINZELNEN
Man sieht es förmlich vor sich, wie Schiller zur Feder griff und den revidierten Vers ein weiteres Mal korrigierte. Leider sind seine Gründe für die wiederholte Änderung des Schlüssel-Satzes nicht bekannt, so dass das hierzu Geschriebene hypothetisch bleibt. Es KÖNNTE so gewesen sein; hatte vielleicht aber auch einen anderen Anlass. Fest steht nur, dass Schiller sein Gedicht durch den wieder eingefügten Vers um das bis dato fehlende Urteil ergänzt hat und es damit alles andere ist als ein „kleines Nachstück“ oder eine leichte „Erzählung“.
Als echte Ballade weist es alle Elemente auf, die diese Form der Lyrik kennzeichnen:
– Das Epische, Erzählende...
...wird durch den treibenden Rhythmus, aber auch durch die nacherzählte Geschichte selbst verkörpert. Die Handlung beginnt recht direkt mit der Erwähnung des Königs
„vor seinem Löwengarten“ (V. 1).
Wie bei der Bürgschaft geht Schiller davon aus, dass seine Leser wissen, aus welcher Quelle er geschöpft hat und welcher „Franz“ gemeint ist – eine nähere Erklärung folgt nicht. Auch das Wissen um die royale Liebe zu Tier-Schaukämpfen setzt er einfach voraus.
Aber selbst ohne Hintergrund-Informationen funktioniert der sprunghafte Einstieg. Im Grunde genommen bleibt es völlig egal, welcher König sich hier zu belustigen gedenkt, denn die Leser sind ohnehin schon mittendrin: Sie erleben einen spannungsgeladenen Gegensatz zwischen dem zu erwartenden „Kampfspiel“ (V. 2) und den vornehmen „Damen in schönem Kranz“ (V. 6).
Darüber hinaus wirkt die Situation durch Schillers Wortwahl sehr bildhaft. Das Erzählte ist im Präsens verfasst und von zahlreichen Aktivitäten getragen. Der König WINKT, der Löwe TRITT herein und SIEHT sich um. Doch während das erdichtete und das lesende Publikum nun gespannt warten, was passiert, GÄHNT das mächtige Tier nur gelangweilt und LEGT sich nieder.
Das ist nicht gerade der Stoff, aus dem Suspense erwächst. Darum lässt Schiller den König rasch noch einmal winken und einen Tiger in die Arena springen. Diese Szenerie ist historisch zwar nicht korrekt, weil Franz I. nachweislich nur Löwen gegeneinander antreten ließ – erhöht aber die Spannung, denn zwei gleich starke Mächte sorgen per se für Zündstoff. Dementsprechend BRÜLLT der Tiger laut und
„schlägt mit dem Schweif
einen furchtbaren Reif“ (V. 25f).
Viel mehr passiert jedoch nicht. Die beiden Kontrahenten gehen einander aus dem Weg und liegen nun beide ausgestreckt herum. Wie langweilig! Aber auf einen dritten Wink des Königs
„speit das doppelt geöffnete Haus
zwei Leoparden auf einmal aus“ (V. 34f).
Die scheinen nur auf ihren Auftritt gewartet zu haben, denn sogleich stürzen sie
„mit mutiger Kampfbegier
auf das Tigertier“ (V. 36f).
Das lässt sich den Angriff nicht gefallen und schlägt zurück. Für einen atemlosen Moment kommt Leben in die Lyrik – bis der Löwe die Rabauken MIT GEBRÜLL zur Ruhe bringt. Auch das Publikum im Gedicht schweigt – und die Leser erst recht. Hatte Schiller ihnen nicht ein KAMPFSPIEL versprochen?
Die plötzlich herrschende Stille nutzt der Poet als Einleitung in
– das eigentlich Dramatische...
...seines Gedichts. Wie sich herausstellt, war das bisherige Geschehen nur eine Einstimmung, denn völlig unerwartet
„fällt von des Altans Rand
ein Handschuh von schöner Hand
Zwischen den Tiger und den Leun
Mitten hinein.“ (V. 44ff)
Obgleich es sich um einen leblosen Gegenstand handelt, vermittelt das Accessoire ungleich mehr Spannung als alles Vorangegangene. Vergessen ist der erwartete und dann doch nicht stattgefundene Kampf, vergessen die gerade noch verspürte Enttäuschung. Die simple Frage, um die sich jetzt alles dreht, lautet: Und nun?
Weniger wegen des Handschuhs selbst, denn der ist ja nur ein Kleidungsstück. Doch ganz augenscheinlich gehört er einer Frau. Und der muss geholfen werden. Aber wer wagt es?
Ritter Delorges! Umschmeichelt von den süßen Worten der Eigentümerin steigt er
„hinab in den furchtbarn Zwinger“ (V. 54).
So ein Narr! Hat er nicht bemerkt, wie das edle Fräulein ihm spottete? Ist ihm nicht klar, dass sein Tun ihn das Leben kosten kann? Muss er denn seine Liebe wirklich erst beweisen? Und noch dazu auf so gefährliche Art?
Darüber scheint er nicht nachzudenken – oder er ist mit den Gedanken woanders, denn er geht „mit festem Schritte“ (V. 55), nimmt den Handschuh „mit keckem Finger“ (V. 57) und bringt ihn „gelassen“ zurück (V. 60).
Was für ein Mann! Was für ein Held! Kein Wunder, dass „ihm sein Lob aus jedem Munde“ schallt (V. 61) und ihn die Erteilerin des lebensgefährlichen Auftrags „mit zärtlichem Liebesblick“ empfängt (V. 62ff). Sie wird ihn achten bis an ihr Lebensende. Und er ist endlich am Ziel seiner Wünsche.
Haben die Leser den Ritter gerade noch wegen seines Leichtsinns gescholten und über seine Naivität den Kopf geschüttelt, sind sie nun ganz auf seiner Seite. Sie fühlen schon das Glück, das ihn gleich durchströmt und spüren die Arme Kunigundes, als würden sie selbst umfangen werden.
Doch was ist das? Was tut Delorges da? Wirft er ihr wirklich gerade den Handschuh ins Gesicht? Ja,
„er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht“! (V. 65)
Eine Tat, die selbst in geschriebener Form sprachlos macht. Gut so – denn umso mehr hallen die begleitenden Worte nach:
„Den Dank, Dame, begehr' ich nicht!“ (V. 66)
An kaum einer Stelle des Gedichtes kommt
– Das Lyrische...
...so deutlich zum Tragen wie in diesem Vers. Die darin verwendeten Alliterationen1 sind ein typisches Mittel zur Verstärkung von Aussagen oder Situationen. Delorges' Satz enthält mit dem dreifachen „D“ und dem doppelten „ch“ gleich mehrere davon. Seine Verachtung für das einst so geliebte Fräulein Kunigunde muss tief, wenn nicht gar bodenlos sein.
Sie hat nicht nur seine Gefühle missachtet; sondern war auch bereit, ihn der Lächerlichkeit preis zu geben. Ihrer Aufforderung NICHT nachzukommen, hätte für Delorges eine zweifache Schmach bedeutet: Er wäre als als unaufrichtig Liebender und als Feigling vom Platz gegangen. Den Handschuh zu holen, barg aus Rittersicht das kleinere Übel – die Gefahr, von den Raubtieren zerrissen zu werden. Kunigunde wäre von allen dafür verachtet worden und hätte sich ihr Leben lang Vorwürfe machen bzw. anhören müssen.
Vielleicht hatte der echte, in den Essays beschriebene Delorges diese Variante sogar eher in Betracht gezogen als den heruntergefallenen Handschuh tatsächlich zu erlangen. Als ihm das unmöglich Scheinende dennoch geglückt war, musste er sich rasch auf andere Weise rächen. Es ist durchaus denkbar, dass er deswegen so unkonventionell reagiert hat.
– Das Belehrende
Schillers Ritter macht nicht den Eindruck, als rechne er damit, gefressen zu werden. Er agiert ebenso selbst- wie zielsicher; hat einen festen Schritt und kecke Finger. Für ihn steht schon vor Vollbringen der Tat fest, wie er es Kunigunde heimzahlen wird. Er hat diesen Plan bereits während ihrer Ansprache gefasst. Anderenfalls hätte Schiller ihr kaum die übertriebenen Worte „Herr Ritter“ (V. 50) und „Ei“ (V. 52) in den Mund gelegt. Jeder Leser sollte die Falschheit darin erkennen – und daraus schließen, dass sie auch der Ritter bemerkt hatte.
Dementsprechend setzt sich sein Delorges ganz BEWUSST über gesellschaftlich geltende Regeln hinweg und wirft dem Fräulein ihren Handschuh nicht etwa spontan, sondern mit voller Absicht – um nicht zu sagen voller Genuss – ins Gesicht. Seinen persönlichen Stolz zu wahren ist ihm wichtiger, als den Erwartungen an Ritterlichkeit zu entsprechen.
Wer hierin nicht die Parallele zu Schiller selbst erkennt, muss auf mindestens einem Auge blind sein. Auch der gefrustete Dichter hat letztlich aus persönlichen Empfindungen heraus gehandelt, als er den bemängelten Satz wieder einfügte. Indem er sich über Frau von Steins Wunsch und ritterlich-korrekte Gepflogenheiten hinwegsetzte, hat er seinem Gedicht jenen leisen Witz verliehen, für den es heute so geliebt wird.
SYSTEMFEHLER
Vor die übliche Wahl gestellt, den „Handschuh“ oder den „Zauberlehrling“ auswendig zu lernen, ziehen überraschend viele SchülerInnen das Schiller-Werk vor. Dabei ist Goethes Long-Seller de facto viel leichter zu verinnerlichen als das vergleichsweise kurze Gedicht seines jüngeren Kollegen – denn kritisch betrachtet hatte der sich schon beim Verfassen über einige Normen hinweggesetzt.
– Schwankende Vers- und Strophenlänge
Der Aufbau des „Handschuhs“ folgt keinem erkennbaren System. Die Länge der Verse wechselt ebenso munter wie die der Strophen. Manchmal – aber bei weitem nicht immer – reimen sich die Schlusszeilen der einen mit den Anfangszeilen der nächsten. Und gelegentlich bilden der erste und der letzte Vers eine thematische Klammer zum restlichen Inhalt der Strophe.
– Unregelmäßiges Reimschema
Auch das Reimschema wirkt willkürlich: Der im Schweifreim verfassten Einleitung folgen zunächst etliche Paarreime, zu denen sich im weiteren Verlauf des Gedichts Kreuzreime gesellen. Einer definierbaren Ordnung folgt ihre Mischung jedoch nicht und lässt zwischendurch sogar jegliches System vermissen.
– und, und, und...
Trotz – oder gerade wegen – dieser Unregelmäßigkeiten lernt die Ballade sich vergleichsweise leicht, denn sie besitzt einen treibenden Rhythmus. Diesen Effekt erzielen die überwiegend benutzten Jamben. Um sie zu verstärken, fügte Schiller häufig das Bindewort „und“ ein – einen Trick, den er bereits in der „Bürgschaft“ angewendet und damit das gleiche Ziel erreicht hatte.
HATTE DER WAHNSINN METHODE?
Man mag in der chaotisch scheinenden Struktur des „Handschuhs“ ein Zeichen für Widerstand sehen oder den Wunsch hineinlesen, sein Verfasser habe gegen die festgefahrene Ordnung seiner Zeit aufbegehren wollen. Dem entspräche auch der trotzig wieder eingefügte Satz. Beides täuscht jedoch nicht darüber hinweg, das das Gedicht zusammen mit vielen anderen entstanden ist und eigentlich nur einem freundschaftlichen Wettstreit diente.
Es darf ruhig angezweifelt werden, dass Schiller ausgerechnet mit dieser Ballade auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen wollte. Viel naheliegender ist die Vermutung, dass seine „Erzählung“ einfach gefallen sollte. Ansonsten hätte er auch einen anderen Vers erneut revidieren können. Der in Strophe drei hinzuspringende Tiger hat seine Zunge in der ersten Version nämlich nicht GERECKT, sondern GELECKT. Erst nachdem Goethe seinem Freund mitgeteilt hatte, es habe in ihm
„den Zweifel erregt, ob man sagen könne, ein Thier lecke sich die Zunge“
wurde die Zeile von Schiller geändert.
Dabei wäre ein den eigenen (!) Speichel leckendes Tier doch wunderbar geeignet gewesen, fragwürdige Machtverhältnisse darzustellen – wenn es der Verfasser tatsächlich so gewollt hätte.
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