Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Die Bürgschaft“ gehört zu den bekanntesten Werken von Friedrich Schiller. Er verfasste es in den Sommermonaten des Jahres 1798 und bat keinen Geringeren als Johann Wolfgang von Goethe um eine erste Meinung. Doch das Ersuchen um konstruktive Kritik war nicht nur der Achtung vor dem Urteil des berühmten Kollegen geschuldet. Es resultierte auch aus der engen Verbundenheit zwischen den beiden Männern – und aus dem Umstand, dass der eine den anderen zur Schöpfung des Werkes angeregt hatte.
INSPIRATION UNTER FREUNDEN
In einem Brief, der vom 17. Dezember 1797 datiert, äußerte Schiller gegenüber dem ihm nahestehenden Goethe den Wunsch,
„...daß unter den vielen (...) Menschen (...) auch einer darauf verfallen möchte, in alten Büchern nach poetischen Stoffen auszugehen, und dabei (...) das Punctum saliens einer, an sich unscheinbaren Geschichte zu entdecken.“
Im gleichen Atemzug beklagte er:
„Mir kommen solche Quellen gar nicht vor, und meine Armuth an solchen Stoffen macht mich wirklich unfruchtbarer im Produciren, als ich's ohne das sein würde.“
Buchstäblich postwendend – nämlich schon am darauffolgenden Tag – schickte der solcherart Angeschriebene dem jüngeren Kollegen eine Fabelsammlung zu und kommentierte die Sendung mit den Worten:
„Hier überschicke ich den Hygin, und würde zugleich rathen sich die Adagia des Erasmus anzuschaffen, die leicht zu haben sind...“
Der zwischendurch anderweitig beschäftigte Schiller kam erst anlässlich des Geburtstages seines Freundes auf das Geschenk zurück. Am 28. August 1798 schrieb er ihm:
„Es ist eine eigene Lust, durch diese Mährchengestalten zu wandeln (...). Für den tragischen Dichter stecken noch die herrlichsten Stoffe darin ...“
Bereits drei Tage später kündigte er Goethe an:
„...es sind zwei Balladen fertig, welche zusammen zwanzig Seiten, gedruckt, betragen...“
HISTORISCHER HINTERGRUND
Das, wovon Schiller sich in seinen Briefen so fasziniert zeigte und was ihn zu so umfangreichen Schöpfungen inspiriert hatte, war das mythographische Handbuch „Genealogiae“. Es entstammt der Feder Valerius Maximus', der es unter dem Pseudonym Hyginus Mythographus verfasst hatte. Beim Schreiben war er von einem altgriechischen Heldenepos geleitet worden, das ihm in der Version des Geschichtsschreibers Diodor vorgelegen haben musste.
In ihr wird von zwei Freunden berichtet, die einander unabdingbar treu sind. Als einer von beiden wegen versuchten Mordes zum Tode verurteilt wird, erbittet er kurzfristigen Aufschub, um persönliche Angelegenheiten regeln zu können. Zum Beweis seiner garantierten Rückkehr hinterlässt er am Tatort einen wertvollen Pfand: den langjährigen Kumpan. Belustigt vom scheinbaren Trick des einen und der unangebrachten Gutgläubigkeit des anderen gewährt das Opfer ihnen die Frist. Seine Bedingung aber ist, dass das Todesurteil nach Ablauf derselben vollstreckt wird – ganz gleich ob am tatsächlich Zurückkehrenden oder am vergeblich Wartenden. Die Überraschung ist groß, als der Verurteilte zwar knapp, aber noch rechtzeitig wiederkommt, um das Leben des Freundes zu retten.
In der Fassung, die Hyginus niedergeschrieben hatte, fand Schiller die Aussetzung des Urteils auf drei Tage verlängert, weil der Attentäter noch rasch seine fern wohnende Schwester vermählen wollte. Als drohende Hinrichtungsart wurde ihm die Kreuzigung genannt; als Grund für die beinahe zu späte Rückkehr ein von Gewitterregen verursachtes Hochwasser.
INHALT BEI SCHILLER
Dieser Variante blieb Schiller beim Verfassen seiner „Bürgschaft“ weitgehend treu; überhöhte die handelnden Personen jedoch zu typischen Pro- und Antagonisten: Dem auf Machtbeweise versessenen Tyrannen Dionysios stellte er den idealistisch handelnden Möros gegenüber. Die Diskrepanz1 der beiden Charaktere brachte er dadurch zum Ausdruck, dass er den einen über den Treueschwur und das Rückkehr-Versprechen des anderen spotten lässt; der aber unbeirrt agiert.
Um das Handeln seines Möros noch weiter aufzuwerten, fügte Schiller der Grundgeschichte einige dramatische Elemente hinzu. So beweist der Held nicht nur im Unwetter Nervenstärke, sondern auch angesichts einer Bande heimtückisch lauernder Räuber und des körperlichen Leidens Durst. Selbst als sein Hausdiener ihn aufhalten will mit der Begründung
„Zurück! du rettest den Freund nicht mehr, (...) den Tod erleidet er eben.“ (V. 106ff)
fühlt Möros sich dem einmal gegebenen Versprechen weiterhin verpflichtet:
„Und ist es zu spät (...) so soll mich der Tod ihm vereinen.“ (V. 113ff)
Denn eines wollte Schiller keinesfalls obsiegen lassen: dass sich die hohnvolle Prophezeiung des Dyonisius erfüllt:
„Des rühme der blut'ge Tyrann sich nicht,
Dass der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht;
Er schlachte der Opfer zweie
Und glaube an Liebe und Treue.“ (V. 116ff)
Doch Einsicht war Schiller nicht genug. Er ließ seinen Tyrannen nicht nur zu der Erkenntnis kommen
„Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn“ (V. 137)
sondern auch noch einen anerkennend-flehenden Wunsch aussprechen:
„Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der dritte!“. (V. 139f)
Damit stellte er den machthungrigen König einerseits als fairen Verlierer; andererseits als besser gewordenen Menschen dar.
AUFBAU UND STILMITTEL
Passend zum Inhalt griff Schiller beim Aufbau seiner Ballade auf antike Vorbilder zurück. „Die Bürgschaft“ besteht aus insgesamt 20 Strophen zu je sieben jambisch gestalteten Versen. Deren Kadenz2 ist auf 1, 4 und 5 männlich; auf 2 und 3 sowie auf 6 und 7 weiblich. Nach dem gleichen System bilden sie in jeder einzelnen Strophe einen umarmenden Reim und zwei Paarreime.
Für den Zusammenhalt und einen wörtlich zu nehmenden Lesefluss sorgte Schiller durch Enjambements3. Dieses Übergreifen des Sinnes von einem Vers auf den nächsten zwingt den Lesern der Ballade eine ähnlich atemlose Hatz auf wie ihrem Hauptakteur: Sie können ebenso wenig innehalten wie er und müssen „Die Bürgschaft“ quasi „in einem Zug“ aufnehmen, um sie komplett erfassen zu können.
Doch diese „Cliffhanger-Taktik“ blieb nicht der einzige dramaturgische Trick Schillers: Mit Hilfe von Apostrophen4 lenkte er die Aufmerksamkeit und Sympathie geschickt auf Möros und dessen innere Antriebskraft – die Treue zu seinem aufopferungsvoll wartenden Freund Selinuntius.
Um diesem Stilmittel noch mehr Wirkung zu verleihen, baute Schiller in „Die Bürgschaft“ zahlreiche Anaphern5 und Antithesen6 ein. Sie springen so deutlich ins Auge bzw. ins Ohr, dass sich ein konkretes Nachzählen erübrigt. Allein das Wort „Tyrann“ (V. 1, V. 6, V. 30, V. 112, V. 116) ist überdurchschnittlich oft vertreten – dicht gefolgt von den gehäuften „und“s der Strophe 9, welche die Anzahl der aufeinanderfolgenden Ereignisse und den unaufhaltsamen Ablauf der Frist verdeutlichen.
ÜBERRASCHEND MILDE KRITIK
Soviel Mühe und Hintersinn waren Goethe lobende Worte wert. Auf die Zusendung der Ballade antwortete er am 05. September 1798, sie sei
„sehr gut gerathen“
Schillers Erweiterung um den wiederkehrenden Kampf mit Wasser und Strömung sowie den Überfall durch die Räuber wurden von ihm
„recht gut gefunden“
Nur beim frei hinzugedichteten Durst Möros
„möchte es physiologisch nicht ganz zu passiren sein, daß einer, der sich an einem regnigen Tag aus dem Strome gerettet, vor Durst umkommen will, da er noch ganz nasse Kleider haben mag.“
Gleichzeitig gestand er dem Freund gegenüber
„Ein ander schickliches Motiv (...) fällt mir freilich zum Ersatz nicht ein...“
Womit das Werk unter Kollegen wohl als akzeptable Leistung galt.
KLEINE SCHWÄCHEN GEGEN DEN GROSSEN FEHLTRITT
Hinsichtlich Goethes sonstiger Kritik-Freudigkeit und seiner engen Verbundenheit zu Schiller aber wundert der milde Blick auf „Die Bürgschaft“ – weist sie neben dem angesprochenen Paradoxum doch noch weitere Ungereimtheiten auf. Warum der allseits geschätzte Dichter angesichts
- des sprunghaften erklärungsarmen Handlungsbeginns
- Möros' stundenlangem untätigem Warten am Ufer
- des unrealistischen Einer-gegen-alle-Kampfes
- unvermittelt in der Wildnis auftauchender Wanderer
- drei verschiedener Todesarten am Hinrichtungsplatz und
- des bereits an Stricken hochgezogenen, plötzlich aber wieder frei(-händig)en Freundes
keinen Logik-Alarm schlug, sondern Schiller einfach gewähren ließ, erklärt ein Blick zurück. Zurück auf jene Ereignisse, die dem Verfassen und geplanten Veröffentlichen der „Bürgschaft“ vorausgegangen waren:
In einer zwei Jahre zuvor erschienen Ausgabe des jährlichen „Musenalmanach“s waren er und Schiller gegen sämtliche dichtenden Kollegen zu Felde gezogen. Die „Xenien“ von 1797 hatten beinahe alles und jeden verspottet – und das gesellschaftliche Ansehen der beiden Freunde nachhaltig erschüttert.
Nun beabsichtigte Schiller, mit der ethisch korrekten „Bürgschaft“ eine Art Wiedergutmachung vorzulegen – ganz so, als wollte er zeigen, wie hoch er „richtiges“ Verhalten schätzte. Goethe mag es wichtiger erschienen sein, diesem Leitgedanken zu folgen als eine detaillierte Überarbeitung einzufordern – denn die Drucklegung eines neuen Jahrbuches stand kurz bevor. So veröffentlichte Schiller „Die Bürgschaft“ im 1799 erscheinenden „Musenalmanach“ und erregte damit viel Aufmerksamkeit.
DIE RESONANZ
Bei einem Großteil des Publikum erreichte er sein Ziel. Es mochte die heldenhafte Ballade sehr und versah dem Schöpfer die inhaltlichen Fauxpas gern – lieferte er ihnen doch eine der spannendsten und ehrhaftesten Geschichten seit langem. Vor allem aber schaffte sie es, aus dem kurzzeitig gefallenen Schiller wieder den Star zu machen, den die Generation „Weimarer Klassik“ so liebte.
Auch unter intellektuell Gleichgestellten fand das Mini-Epos viele begeisterte Anhänger. Schon wenige Jahre nach dem Erscheinen nahm sich Franz Schubert der Ballade an: 1815 vertonte er „Die Bürgschaft“ als rund 16 Minuten andauerndes Lied, das im posthum angelegten Deutsch-Verzeichnis unter der Nummer 246 gelistet ist. Wenig später begann der Komponist, die Dichtung zu einer Oper zu verarbeiten; brach diese Arbeit jedoch aus unbekannten Gründen ab. Die fertigen Fragmente tragen die Deutsch-Nummer 435.
Nachfolgende Generationen gingen nicht ganz so respektvoll mit dem Werk um. Carl Theodor Müller, Wilhelm Busch und die sächsische Mundartdichterin Lene Voigt parodierten „Die Bürgschaft“ auf ihre jeweils eigene Weise; Berthold Brecht verarbeitete den Stoff in seinem Spott-Sonett7 „O edle Zeit, o menschliches Gebaren“, dem eine entscheidende Rolle in Uwe Johnsons Debütroman „Ingrid Babendererde“ zukommt.
„DIE BÜRGSCHAFT“ IM GESAMTWIRKEN SCHILLERS
Der Schöpfer selbst räumte dem Gedicht eine vergleichsweise exponierte Stellung ein. Weil sein Verleger Johann Friedrich Cotta das lyrische Œuvre8 als vierbändige „Prachtausgabe“ veröffentlichen wollte, regte er Schiller zu einer Auswahl an. Auf diese Anregung hin beschäftigte der Dichter sich zwischen 1803 und 1805 mit entsprechenden Vorbereitungen; konnte sie jedoch nicht zu Ende bringen.
Bis zu seinem krankheitsbedingten Tod aber hatte Schiller alle Balladen zusammengestellt, die in der Sammlung enthalten sein sollten. Seiner vorbestimmten Reihenfolge nach nimmt „Die Bürgschaft“ Platz 3 von 12 eigenhändig ausgewählten Werken ein. Damit rangiert sie weit vor den ebenfalls bekannten Gedichten „Der Handschuh“ und „Der Taucher“.