Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Zwei Segel“ von Conrad Ferdinand Meyer wurde 1882 verfasst. Meyer lebte von 1825-1898 in Deutschland und ist heutzutage eher für seine ein wenig melancholischeren und traurigen Gedichte bekannt. Hingegen besitzt das Gedicht „Zwei Segel“ eine viel fröhlichere Grundstimmung. Man merkt bereits nach dem ersten Lesen, dass es sich um ein Liebesgedicht handeln könnte. Die Form und Gestaltung des Gedichts ist sehr harmonisch und übersichtlich. Das Gedicht ist drei Strophen lang, die jeweils aus vier Versen bestehen.
Der Sprachrhythmus bleibt im ganzen Gedicht über gleich. Es reimen sich jeweils der erste und der dritte Vers und der zweite und der vierte (Kreuzreim). Außerdem wird in allen drei Strophen ein zweihebiger Jambus beibehalten. Jede Strophe schildert eine neue Beobachtung eines nicht thematisierten lyrischen Sprechers. In der ersten Strophe werden gleich zweimal die Hauptakteure des Gedichts genannt: Zwei Segel (V. 1 u. 3). In den folgenden Strophen werden diese nicht mehr genannt. Sie werden nur indirekt als „eins“ und „das andre“ wiederaufgenommen. Durch diesen Übergang von einer äußeren Beschreibung von Zwei Segeln in eine Beschreibung eines Verhältnisses zwischen diesen wechselt die Perspektive und der Fokus wird auf die Verbindung beider gelegt. Es handelt es sich nicht um zwei unbestimmte Segel, sondern durch die Bezeichnung als „eins“ und „das andre“ schafft der Dichter es, den beiden Segeln einen eigenen Charakter zuzuordnen. Erst dadurch beginnt man zu assoziieren, dass es sich hierbei um zwei Liebende handeln könnte – also um ein Liebesgedicht.
Wie zwei unterschiedliche Personen – Mann und Frau- reagieren die zwei Segel aufeinander. In der zweiten Strophe wird beschrieben wie man mit dem Geliebten mitfühlen kann. Wenn das eine Segel „sich wölbt und bewegt/ wird auch das Empfinden/ Des andern erregt.“ (V. 6-8).
Wenn also ein Partner leidet, kann der andere mitfühlen – bei guten und bei schlechten Gefühlen. Conrad Ferdinand Meyer vertritt hier eine sehr idealistische und romantische Auffassung von Liebe, die durch die dritte Strophe noch gesteigert wird. Er dichtet, dass die Partner stets das machen, was der Andere gerade verlangt. In dieser Beziehung der „Zwei Segel“, die wir nun immer als Beziehung von zwei Liebenden verstehen können, ist der Idealtypus von einer Liebe zwischen zwei Menschen dargestellt. Man fühlt nicht nur unmittelbar jedes Gefühl des Gegenübers mit, sondern ist auch dazu bereit, sich den Wünschen des Geliebten oder der Geliebten anzupassen. Beide Willen verschmelzen so zu einem einzigen. Dieses romantische Bild von Liebe wurde oft in der Sturm-und-Drang Zeit, knapp 80 Jahre vor diesem Gedicht thematisiert. Es ist ein wenig ungewöhnlich, dass Meyer zu dieser späten Zeit im 19. Jahrhundert noch ein derart naives Bild von Liebe erschaffen kann. Aber ist es wirklich naiv? Es wäre nur naiv, wenn es sich tatsächlich um zwei sich tatsächlich Liebende handelt. Doch wir bewegen uns hier nicht auf der Ebene der Realität, sondern innerhalb eines Gedichtes. Innerhalb des poetischen Bildes von zwei Booten, die in einer tiefblauen Bucht gemeinsam gen Horizont segeln, ist dies nachvollziehbar. Das beschriebene Bild der Bucht, die zwei Boote – das muss als Metapher1 gesehen werden, eine Metapher, die zwar für ein Pärchen stehen kann, die aber mehr als nur die Beziehung zwischen zwei Menschen charakterisiert.
Wir haben es in diesem Gedicht mit sehr vielen Verben der Bewegung zu tun. Es handelt sich aber nicht um abrupte oder abgeschlossene Bewegungen, sondern durch die Partizip-Formen der Verben (erhellend, schwellend, V. 1 u. 3) wird eine dynamische und harmonische Bewegung angezeigt. Sogar die Flucht der Segel, man könnte vermuten, dass sie aus dem Sichtfeld des unsichtbaren Betrachters hinausfahren, ist eine „ruhige Flucht“ (V. 4).
Man fragt sich an dieser Stelle unmittelbar, warum Conrad Ferdinand Meyer hier das Nomen Flucht benutzt hat. Flucht ist etwas Schnelles, man flieht vor Gefahren; doch in dem harmonischen Bild von einer tiefblauen Bucht sollte es keine Gefahren geben? Er hätte stattdessen doch das einsilbige Wort „Fahrt“ auswählen können? In diesem Wort Flucht versteckt sich das einzig negative in diesem Gedicht. Aber als negativ kann es nur bezeichnet werden, wenn man selbst einen bestimmten Standpunkt einnimmt und vertreten möchte. Es kann nämlich interpretiert werden als das normale Ende dieser Liebesbeziehung. Alles Gute hat ein Ende. Das Idealbild der Liebe wird in diesem Sinne aufgebrochen. Es ist eben keine ewige Liebe, sondern beide Boote sind bereit zu einer „ruhigen Flucht“. Es ist immer noch eine ruhige Flucht. Ist das nun ein Gegensatz? Ein Stilmittel? Soweit kann man nicht gehen, man muss viel eher annehmen, dass das Bild des Endes harmonisch in das Bild des Verhältnisses miteinbezogen wird. Alles in den dem Bild ist in dynamischen zweier Paaren angelegt. Auch inhaltlich wird ein Gedanke stets vom Gegenüber reflektiert. Die Bewegung von einem Segel wird vom anderen Segel aufgenommen. Am Ende wird aus Hast Rast. Wenn eins ruhen will, so ruht auch das andere. Mit der Ruhe endet das Gedicht, das vorher voller Bewegung war. Nicht nur die Segel, sondern parallel sind die Empfindungen bewegt. Starke Gemütsempfindungen, gespürte Sinnlichkeit – auch das war ein Charakteristikum der Sturm-und-Drang Zeit. Dennoch befinden wir uns hier mehrere Jahrzehnte nach dieser Bewegung. In Deutschland und in den umliegenden Ländern breitet sich in der Literatur und Lyrik langsam eine realistische und naturalistische Tendenz aus. Und nur knapp 20 Jahre später kommt es zu den subjektiven Strömungen des Expressionismus.
Conrad Ferdinand Meyer beweist, dass Poeten unabhängig von Zeiten und Strömungen ihr Leben fristen. Wer sich vom Zeitgeist mitreißen lässt, ist nicht mehr in der Lage ihn zu reflektieren. Und nur aus der Reflektion erwächst wahre Poesie.