Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Gedichtinterpretation:
Jakob van Hoddis: Weltende (1911)
Das Gedicht „Weltende“ wurde 1911 von Jakob van Hoddis verfasst und gilt als sein mit Abstand bekanntestes Werk und als Grundstein des frühen Expressionismus. Es beschreibt, wie der Titel erwarten lässt, das Szenario eines aufkommenden Weltuntergangs in seinen einzelnen Ausprägungen.
Das Gedicht besteht aus zwei Strophen zu je vier Versen, die alle durchgehend in einem fünfhebigen Jambus verfasst sind, wobei alle Kadenzen1 der ersten Strophen männlich, alle Kadenzen der zweiten hingegen weiblich sind.
Das Reimschema der ersten Strophe ist ein umarmender Reim, in der zweiten Strophe liegt ein Kreuzreim vor. Bei allen Reimen handelt es sich um reine Reime.
In der ersten Strophe des Gedichts wird ein aufkommendes Unwetter beschrieben, das den Bürgern zuerst die Hüte vom Kopf weht und dann den Tod einiger Dachdecker zur Folge hat.
In der zweiten Strophe brechen nun die Dämme und eine Stadt wird schließlich vom Meer überflutet. Dabei werden Züge von ihren Brücken geworfen. Außerdem erwähnt der Autor die aktuelle Verbreitung des Schnupfens.
Das Gedicht ist sowohl in einem durchgehenden Zeilenstil2 als auch in einem Reihungsstil3 verfasst, d. h. jeder Vers bildet eine in sich abgeschlossene Sinneinheit und wird nicht unbedingt durch einen dahinterstehenden Sinn mit dem folgenden Vers verbunden; die einzelnen Bilder sind eher lose aneinandergereiht.
Besonders deutlich wird dies in Vers 7, wo van Hoddis mitten in der Schilderung des Weltuntergangs eine Feststellung über die Verbreitung des Schnupfens macht (vgl. V. 8).
Dieser Gegensatz der dramatischen Katastrophe zu solch einer belanglosen und banalen Nebensächlichkeit lassen das Gedicht an dieser Stelle ironisch und grotesk4 wirken.
Eben solche Kontraste und Stilbrüche, die Irritation beim Leser und Spannungen innerhalb des Gedichtes erzeugen, sind die prägnantesten Stilmittel dieses Gedichtes.
Schon der erste Vers bildet einen Kontrast zum Titel „Weltende“, der eher dramatische Schilderungen von Katastrophen erwarten lässt, denn sie überrascht den Leser vorerst nur mit der recht harmlosen Aussage, dass den Bürgern der Hut vom Kopf geweht wird (vgl. V.1). Auch die Verdinglichung „die Dachdecker…gehen entzwei“ (V.3) kann in ihrer überraschenden Sachlichkeit und euphemistischen Ausdrucksweise als Stilbruch bezeichnet werden.
Ein weiterer Kontrast und Euphemismus5 findet sich in Vers 5: Zu Beginn der zweiten Strophe baut der Autor durch die Steigerung von Wind (vgl. V.1) und der steigenden Flut (vgl. V.4) in der ersten Strophe auf den „Sturm“ (V.5) und dem Dammbruch (vgl. V.5 f.) Spannung auf, die er durch die Verharmlosung „die…Meere hupfen an Land“ (V.5f.), die eigentlich eine heftige Überflutung beschreibt, in Irritation auflöst.
All diese Stilmittel und auch die Parenthese „- ließt man -“ (V.4), welche van Hoddis wieder mitten in seine Schilderungen der Katastrophe einschiebt, zeigen eine erstaunliche Distanz und Unbetroffenheit des lyrischen Ichs aus. Es scheint keine emotionalen Empfindungen gegenüber den Opfern der Katastrophen zu haben: Den grausamen Tod der Dachdecker beispielsweise schildert er nüchtern wie das Zerbrechen einer Tasse.
Durch das kommentarlose Aneinanderreihen von dramatischen Vorgängen und banalen Nebensächlichkeiten wertet das lyrische Ich diese indirekt ab und drückt somit auch sein Desinteresse an diesen aus. Angesichts der Ubiquität der Vorgänge, die durch die Hyperbel6 „in allen Lüften“ (V.2), der Verallgemeinerung „ließt man“ (V.4) und der Angabe„die meisten Menschen“ (V.7) ausgedrückt wird, erscheint eine solche Einstellung naiv, da letztendlich jeder von diesen Vorgängen betroffen sein wird.
Einige Anspielungen deuten darauf hin, dass van Hoddis diese Blauäugigkeit vor allem dem gehobenen Bürgertum und der Spießergesellschaft vorwirft. Der „[spitze] Kopf“ (V.1) war im Expressionismus eine Metapher7 für eben diese Gesellschaftsschichten und die Tatsache, dass diese einen Hut tragen, verstärkt den Eindruck noch: Der Hut wurde damals vor allem vom Bürgertum und nicht von armen Arbeitern getragen, außerdem steht er als Symbol für Schutz und Geborgenheit- wer ihn trägt ist eben „behütet“, auch im übertragenen Sinne in der Gesellschaft. Insgesamt vermittelt diese Metapher also das Bild von reichen, zufriedenen Bürgern.
Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund und angesichts der sozialen Missstände dieser Zeit erscheint die Deutung des Unwetters und des Weltuntergangs als Umbruch in der Gesellschaft sinnvoll. Der Wind und das Wegwehen des Hutes (vgl. V.1) zeugen von aufkommender Unruhe. Sie nehmen dem Bürgertum ihren Schutz und setzten sie völlig dem Unwetter, also dem gesellschaftlichen Umbruch, aus.
Auch die Tatsache, dass gerade „Dachdecker“ (V.3) als Todesopfer erwähnt werden, weißt auf eine solche Intention des Autors hin: Das Dach steht ebenso wie der Hut als Symbol für Schutz und wird den Menschen auch hier durch den Umbruch genommen.
Genauso verhält es sich mit den „dicken[n] Dämme[n]“ (V.6), die noch Schutz vor der steigenden Flut (vgl. V.4) bieten können, aber schließlich vom „wilden Meere“ (V.5) durchbrochen werden. Das aufgewühlte Meer ist hier als Metapher für eine sich anbahnende Rebellion oder einen Umsturz der aktuellen Zustände zu lesen, die sich schließlich gegen den Widerstand der bisherigen Ordnung durchsetzt und diese zerstört.
Auch das Verb „[abstürzen]“ (V.3) weckt sofort Assoziationen mit dem Ausdruck „eine Regierung stürzen“ und deutet sanft eine Revolution an.
Die letzte Zeile offenbart einen bis dahin neuen möglichen Kritikpunkt: Die zerstörten Eisenbahnen (vgl. V.8) sind einerseits nur ein weiteres, recht nahe liegendes Bild der Zerstörung einer industrialisierten Stadt, aber andererseits fallen mit den Eisenbahnen auch starke Symbole für die Industrialisierung von der Brücke. Vielleicht verbirgt sich hier Kritik an den Errungenschaften der Industrialisierung, die letztendlich scheitern und den Fortgang der Katastrophe nicht verhindern können.
Angesichts all dieser politischen und gesellschaftlichen Anspielungen können die eingeschobenen Banalitäten nicht nur als Kritik an der bloßen Naivität, sondern auch speziell an der unpolitischen Haltung, des Bürgertums interpretiert werden.
An sonstigen sprachlichen Stilmitteln verwendet van Hoddis beispielsweise eine Alliteration8 bei „dicke Dämme zu zerdrücken“(V.6), welche durch den Klang des wiederholten tiefen Plosivs „d“ die Mächtigkeit der Dämme und der Flut hervorhebt, und ein Enjambement9 von V.5 auf V.6, der das Überschwappen des Meeres (vlg. V.5 f.) noch einmal im Aufbau seines Gedichtes verdeutlicht. Das Enjambement und eine Anapher10 der letzten beiden Verse gliedern die letzte Strophe gewissermaßen in zwei Teile, die durch diese beiden Stilmittel jeweils zusammengehalten werden.
Auch die Form, in der Van Hoddis dieses Gedicht verfasst hat, bietet Möglichkeiten zur Interpretation: Die klare und gleichmäßige Form widerspricht eindeutig den Erwartungen, die vom Thema des Weltuntergangs geweckt werden. Vor allem im Expressionismus, wo die Tendenz, sprachliche Formen zu zersprengen, um mehr Freiraum zum Ausdruck von Emotionen zu haben, vorherrschte, erwartet der Leser gerade bei diesem Thema wahrscheinliche eine freiere Form.
Die Form des Gedichtes erzeugt noch einen weiteren Kontrast: Während diese klar strukturiert und ordentlich ist, ist der Inhalt des Gedichtes geprägt von Widersprüchen, Irritationen und Sinnlosigkeiten. Dieses Bild von äußerer Ordnung und innerer Sinnlosigkeit lässt sich ausgezeichnet auf die Ansicht expressionistischer Künstler über das Leben in ihrer Gesellschaft übertragen, die von einem verzweifelten Nihilismus geprägt war.
Auffallend ist außerdem, dass der Mensch im gesamten Gedicht nur als Opfer dargestellt wird, sogar syntaktisch immer als Objekt. Handlungsträger hingegen sind immer Objekte oder die Natur. Verstärkt wird dieser Eindruck noch zusätzlich durch die Verdinglichung des Dachdeckers (vgl. V.3) und der Personifikation11 des Meeres (V.5). Dieser Zusammenhang kann als Wertverlust des Menschen in der Gesellschaft interpretiert werden, da auch das gut in das damalige Weltbild der industrialisierten Gesellschaft passt.
Das Gedicht „Weltende“ lässt sich eindeutig der Epoche des Expressionismus zuordnen. Das Thema des Gedichtes, der Weltuntergang, ist ein oft verarbeitetes und wichtiges Thema in dieser Epoche. Die Entdeckung des Halleyschen Kometen und die Unerträglichkeit der Lebensumstände, in der die Menschen damals lebten, weckten diese Vorstellungen in Ihnen. Diese waren aber keineswegs von Angst geprägt, sondern wurden vielmehr herbeigesehnt. Bei vielen Künstlern war dieses Thema ein drastischer Ausdruck ihres starken Wunsches nach einer Veränderung der Lebensumstände, oft um jeden Preis.
Politische Spannungen, besonders der bevorstehende 1.Weltkrieg, spielten bei diesen Überlegungen auch eine Rolle.
Auch die verschiedenen Sinnlosigkeiten und Irritationen des Gedichtes greifen ein wichtiges Thema auf, nämlich den damals vorherrschenden Nihilismus in der Gesellschaft: Die Künstler hielten ein Leben unter diesen Umständen für sinnesleer.
Die klar eingehaltene Form des Gedichtes ist zwar untypisch für diese Epoche, doch van Hoddis ist nicht etwa an alten Formen verhaftet und unfähig sich zu lösen, sondern benutzt diese bewusst als Kontrast.
Das Gedicht „Weltende“ stellt den Weltuntergang in einer Weise dar, die auf den ersten Blick sehr merkwürdig erscheint. Doch gerade deshalb kann es so viele der wichtigen Aspekte dieser Epoche ausdrücken – der bizarre WahnsinSn seiner Dichtung ist Ausdruck der Idiotie der damaligen Welt. Wesentlich eleganter als viele der unbändigen Wutausbrüche seiner Zeitgenossen drückt van Hoddis seine Empfindungen der Welt gegenüber aus und verfällt dabei nicht den, in solchen Situationen so verführerischen, aber kopflosen, Forderungen nach Toten und Kriegen.