Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht Weltende ist von Jakob van Hoddis, stammt aus dem Jahr 1911 und gehört in die Epoche des Expressionismus (1910-1920/25). Jakob van Hoddis war jüdischer Abstammung und kam kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in eine Psychiatrie, aus der er 1942 ins Vernichtungslager Sobibor deportiert und dort bereits wenige Wochen später ermordet wurde. Sein berühmtes Gedicht hat für viele die Strömung des Expressionismus eröffnet und andere Expressionisten nachhaltig beeinflusst. Van Hoddis thematisierte ein mögliches Weltende, was dem Zeitgefühl vieler entsprach. Zu der Zeit herrschte besonders durch die Wiederentdeckung des Halleyschen Kometen eine latente1 Weltuntergangsstimmung und viele befürchteten einen Zusammenstoß mit der Erde.
Inhaltlich werden mehrere Eindrücke beschrieben, die schwerwiegend oder banal erscheinen. Sie laufen alle auf eine drohende Katastrophe hinaus, die im Text jedoch nicht geschildert wird.
Formal ist das Gedicht in der traditionellen Form geschrieben. Es besteht aus zwei Strophen mit vier Versen und enthält als Metrum2 den fünfhebigen Jambus. In der ersten Strophe findet sich ein umarmender Reim und in der zweiten ein Kreuzreim. Das Reimschema und das Metrum stehen in Kontrast zum bewegten Inhalt. Der im Expressionismus häufig verwendete Reihungs- bzw. Simultanstil schildert in jeder Zeile in sich abgeschlossene Bilder, die über die strenge Form zusammengehalten werden. Van Hoddis verwendet mehrere Stilformen, wie eine Alliteration3 („dicke Dämme“ (V. 6), eine Parenthese („ – liest man - “ (V. 4)), eine Metapher4 (V. 1) und ein Enjambement5 (V. 5-6). Das lyrische Ich ist abwesend, was zu einer distanzierten Beschreibung führt.
Der Titel Weltende kündigt das Thema an, den Weltuntergang. Die Katastrophen wirken eingangs recht harmlos, wenn dem Bürger „vom spitzen Kopf der Hut“ (V. 1) fliegt. Diese Schilderung scheint eine Metapher für den häufig im Expressionismus kritisierten Spießbürger zu sein, dessen spitzer Kopf sarkastisch sein Emporstreben oder seine Orientierung an Kaiser und Adel kritisieren könnte. Der Hut lässt den Leser an das Wort ‚behütet´ denken, wodurch man den Eindruck erhält, dass die Bürger nicht mehr behütet sind, sondern zu Opfern einer Katastrophe werden. Durch den kritischen Beiklang weist schon die erste Zeile darauf hin, dass sich der Sprecher nicht zu den (Spieß-)bürgern zählt und sich von ihnen distanziert.
Die distanzierte Schilderung findet sich im ganzen Gedicht, wodurch van Hoddis u.a. die drohende Katastrophe verharmlost. Der grausame Tod der Dachdecker wird recht trocken und emotionslos dargestellt: „Dachdecker (…) gehen entzwei“ (V. 3). Die Bauarbeiter werden wie so oft im Expressionismus depersonifiziert bzw. verdinglicht, indem ihr Tod mit dem Entzweigehen eines Gebrauchsgegenstands verglichen wird. Die verharmlosende Tendenz findet sich auch in der zweiten Strophe, wo das aufgewühlte Meer mit dem Verb „hupfen“ (V. 5) verniedlicht wird und das Brechen der Dämme durch die Alliteration „dicke Dämme zu zerdrücken“ (V. 6) bagatellisiert6 wird. Besonders die Parenthese („liest man“ (V. 4)) verdeutlicht, dass sich der Sprecher vom Weltuntergang nicht betroffen fühlt.
Der Mensch ist nicht Subjekt der Handlung, sondern er wird zum hilflosen Objekt: „Dem Bürger fliegt…“ (V. 1)), während die Meere, die für die Natur stehen „hupfen“ (V. 5), was typisch expressionistisch ist. Der Bürger handelt nicht, er kann nur ängstlich abwarten, was mit ihm passieren wird. Auch die technischen Erfindungen, die den damaligen Fortschrittsdrang symbolisieren, sind von der Katastrophe betroffen: „Die Eisenbahnen fallen von den Brücken“ (V. 8). Van Hoddis kritisiert dadurch die neuen technischen Errungenschaften, indem er ihre Vergänglichkeit kritisch hervorhebt.
Die Katastrophe wird im Text nicht beschrieben, aber die ersten zwei Zeilen der zweiten Strophe zeigen, was man bisher in der Zeitung liest („liest man“ (V. 4)) und was kommen wird: „Der Sturm ist da“ (V. 5). Eine Flut scheint erwartet zu werden und erinnert an die Sintflut der Bibel, worauf auch die zu zerdrückenden Dämme und die wilden Meere hinweisen. Die Erwartungshaltung des Gedichts verdeutlicht, dass es sich hierbei nicht um eine Naturkatastrophe handelt, sondern eher um ein Weltende, was die Zeitgenossen in der Zeit vielfach befürchteten und dennoch stellt van Hoddis die Atmosphäre der drohenden Apokalypse verharmlosend dar.
Der Schluss ist überraschend. Während das Meer droht, die Dämme zu zerdrücken und die Eisenbahnen von den Brücken fallen, haben „die meisten Menschen (…) einen Schnupfen“ (V. 7). Dies erzeugt einen seltsamen Kontrast zwischen den katastrophalen Ereignissen und dem banalen Schnupfen, was zum Abschluss des Gedichts den ironischen Beiklang betont. Man könnte davon ausgehen, dass hier erneut die Spießbürger kritisiert werden, womit sich Anfang und Ende inhaltlich verbinden ließen. Der Bürger befürchtet zwar einerseits eine Katastrophe, doch als diese immer näher kommt, scheint er sich in Banalitäten zu verlieren.
Das Gedicht wirkt auffallend distanziert und emotionslos und ist von einem ironischen Ton geprägt. Die Kontraste zwischen Katastrophen und banalen Ereignissen lassen es grotesk7 wirken. Dazu tragen auch der Reihungsstil8 und die starre Form bei, die mit dem bewegten Inhalt des Gedichtes kontrastieren. Man erwartet bei der Schilderung eines Weltuntergangs nicht, dass noch auf Reimschema und Metrum geachtet wird. August Stramm verdeutlicht in Patrouille beispielsweise die panische Angst eines Soldaten im Krieg durch den völligen Verzicht auf traditionelle lyrische Formen und durch Satzfetzen. Van Hoddis kontrastiert hingegen die traditionellen Formen mit dem Inhalt, um auch formal eine gewisse Ironie zu erzeugen, die den Inhalt passend untermalt. Den gleichen Effekt erzielt der Autor durch den Kontrast zwischen Titel und Inhalt. Die Erwartungen, die der Leser mit dem Titel „Weltende“ verbindet, werden nicht erfüllt, sondern das Gegenteil tritt ein, weil die Katastrophenmeldungen mit banalen und lächerlichen Ereignissen durchmischt werden, die nicht zum Bild der Apokalypse passen.
Das Gedicht gehört in den expressionistischen Themenkomplex Weltende. Zu Beginn des Jahrhunderts herrschte bei mehreren eine düstere Endzeitstimmung, die sich aus der raschen Industrialisierung und Urbanisierung ergab. Erfindungen wie die Eisenbahn wurden vielfach erst als Gefahr betrachtet. Die Wiederentdeckung des Halleyschen Kometen steigerte die latente Untergangsstimmung. In mehreren expressionistischen Gedichten wurde der Untergang einer inhumanen Welt heraufbeschworen. In visionären Bildern wird eine Apokalypse geschaut, die über die Welt hereinbrechen soll, um sie zu verändern, wie in Georg Heyms Der Gott der Stadt, Der Krieg und in Umbra Vitae. Van Hoddis thematisiert diese Stimmung in einer ironisierenden Perspektive. Der Themenkomplex Weltende meint nicht nur die bürgerliche Welt im engeren Sinn, sondern auch die moderne Wirklichkeit, was in den herabstürzenden Eisenbahnen verdeutlicht wird.
Das Gedicht Weltende karikiert inhaltlich und formal mit viel Ironie die hysterische Untergangsstimmung der zeitgenössischen philisterhaften Kleinbürger. Die Angst der Bürger vor einer Katastrophe erscheint lächerlich, während sie nicht fähig sind, das Wesentliche zu erkennen, ihre eigene Lächerlichkeit. Hier findet sich ein Überlegenheitsgefühl gegenüber der in ihrer Selbstgefälligkeit erdrückenden Welt des Wilhelminischen Bürgertums. In Weltende schildert van Hoddis also den Untergang der bürgerlichen Welt und verdeutlicht, dass die Bürger keine Naturkatastrophe zu befürchten haben, sondern ihre eigene Lebensweise fürchten sollten, die durch Willenlosigkeit, Angst vor Veränderungen, Blindheit und Kritiklosigkeit geprägt ist und dadurch dem Untergang geweiht ist. Diese Wirklichkeit wurde von mehreren Expressionisten als lebenshinderlich betrachtet und ihre Beseitigung wurde in den Gedichten teils beschwörend vollzogen. Nach diesem Text kritisierten viele expressionistische Gedichte das arrogante, strenge und erstarrte wilhelminische Bürgertum, wie zum Beispiel Georg Heym in Umbra Vitae und Alfred Lichtenstein in Die Stadt. Das Bürgertum wurde auch in anderen zeitgeschichtlichen Strömungen kritisiert.