Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das zu analysierende Gedicht „Nachtgesang“ wurde von Jakob van Hoddis verfasst und lässt sich der Epoche des Expressionismus zuordnen. Es beschreibt einen Abend aus den Augen des lyrischen Ichs und dessen Reflexion über diese.
Das Gedicht besteht aus 6 Strophen, die eine unterschiedliche Länge aufweisen. Die ersten beiden Strophen haben vier Verse, die dritte Strophe hat sechs, die vierte fünf, die fünfte fünf und die letzte Strophe besteht aus nur zwei Versen. Insgesamt besteht das Gedicht also aus 25 Versen. Ein Metrum1 ist nicht eindeutig bestimmbar. Ebenfalls liegt auch kein Reimschema vor. Nur in der dritten und die vierten Strophe liegen Reime vor. In der dritten Strophe liegt das
Schema i j j k i k und in der vierten Strophe das Schema l m l m. Das Reimschema in der dritten Strophe ist nicht genau bestimmbar, in der vierten Strophe liegt ein Kreuzreim vor.
Betrachten wir nun den Inhalt des Gedichts genauer.
In den ersten beiden Strophe tätigt das lyrische Ich eine Beschreibung der aktuellen Situation. Diese Beschreibung erfolgt in einer Art Reihungsstil2. Die Beschreibung erfolgt durch eine Aneinanderreihung von Hauptsätzen, es liegt ein parataktischer Satzbau vor.
Die erste Strophe beginnt mit der Beschreibung des Sonnenuntergangs. „Das Abendrot zerriß die blauen Himmel“ (V. 1). Das Abendrot wird durch das Verb „zerriß“ (ebd.) personifiziert. Dies haucht der ganzen Szenerie eine gewisse Rasanz und Bedrohlichkeit ein und beginnt somit eine düstere, bedrückte Stimmung zu erzeugen.
Im zweiten Vers wird dann beschrieben, dass das „Blut [aufs] Meer [fiel]“ (V. 2) und das „Fieber“ (ebd.) aufflammten. Beide Beschreibungen beziehen sich ausschließlich auf den Sonnenuntergang. Mit dem Blut ist in diesem Fall die Spiegelung des Sonnenuntergangs auf der Meeresoberfläche gemeint.
Im dritten Vers wird, durch eine Personifikation3 verdeutlicht, beschrieben, dass die Lichter der Stadt angehen und so die „junge Nacht“ (V. 3) durchdringen. Auch diese Personifikation verstärkt weiter diese düstere Stimmung. Die Beschreibung der Lichter auf der Straße und in den Zimmern als weiß (vgl. V. 3) erweckt den Eindruck von klinischem, unangenehmen und kaltem Licht. Auch hier wird, wie zuvor beschrieben, die negative, unangenehme Stimmung des Gedichts verstärkt.
In der zweiten Strophe wird nicht mehr die Umgebung, sondern die Menschen in dieser beschrieben. Dies wird auch durch den Tempuswechsel deutlich. Der erste Vers dieser beginnt damit, dass sich die Menschen „vom Lichte wund [winden]“ (V. 5). Die Beschreibung des Windens schafft eine gewisse Unruhe und zeigt die Unzufriedenheit der Bewohner. Im zweiten Vers dieser Strophe wird beschrieben, dass die „Strolche schreien“ (V. 6) und die „[k]leinen Kinder schluchzen“ (ebd.) Die Strolche versuchen durch Lärm und Gewalt vor dem Licht zu schützen und zu fliehen, die „kleinen Kinder“ (ebd.) können sich des Lichtes nicht erwehren. Sie träumen „ängstlich [von Wäldern]“ (V. 7), wie in der folgenden Strophe beschrieben. Hier wird bewusst ein Motiv der Romantik, der Bezug zur Natur, gewählt und negativ konnotiert. Am Abschluss der beiden Strophen wird zu einem Art reflexiven Teil übergeleitet. Dies geschieht durch die Beschreibung eines Verrückten, der „lauernd“ (V. 8) auf dem Bette hockt und fragt, ob er fliehen soll. Die Frage „Soll ich fliehen?“ (V. 8) lässt Rückschlüsse darauf ziehen, dass das lyrische Ich sich selbst als verrückt bezeichnet. Diese reflexive Frage zeigt die Angst des lyrischen Ichs vor der aktuellen Situation in dieser Stadt.
Die dritte und die vierte Strophe beschreibt, dargestellt durch die Anführungszeichen, einen Monolog. In den ersten beiden Versen der dritten Strophe fragt sich das lyrische Ich warum „wir aus dem Mutterleib gekrochen [sind] / Denn jeder möchte […] ein andrer sein“ (V. 9f.). Dies zeigt die große Unzufriedenheit des lyrischen Ichs mit seiner momentanen Situation. Der Mutterleib wird hier als Reservat der Ruhe und der Geborgenheit charakterisiert aus dem der Mensch nun herausgerissen wird. Die Beschreibung der Geburt als herauskriechen (vgl. V. 9) zeigt wie wenig Wert das Leben für das lyrische Ich momentan besitzt. Durch die Beschreibung „jeder möchte doch ein anderer sein“ (V. 10) wird deutlich, dass sich das lyrische Ich im eigenen Körper und seiner Umgebung fremd fühlt. In den folgenden Versen wird diese Unzufriedenheit durch die anaphorische Zusätze „Und jeder bohrt dir seine Augen ein / Und drängt sich schamlos in deinen Traum / Und seine Glieder sind an deinen Knochen / Als gäbe es keinen Raum“ (V. 11ff.) verdeutlicht. Die Beschreibungen verdeutlichen, dass das lyrische Ich keinen Bezug zu ihrer Identität herstellen kann und sich nicht wie ein eigenes Wesen fühlt. Der Vers „Und seine Glieder sind an deinen Knochen“ (V. 13) zeigt des weiteren, dass sich das lyrische Ich von äußeren Einflüssen fremdbestimmt fühlt. Dass das lyrische Ich durch diese Fremdbestimmung sein eigenes Wesen und seine eigene Bestimmung nicht finden und erfüllen kann, wird durch die Beschreibung „drängt sich schamlos ein in deinen Traum“ (V. 12) hervorgehoben. Die Strophe endet mit einer Art Vorwurf. So sagt das lyrische Ich, dass „es keinen Raum“ (V. 14) gebe. Dies könnte als Kritik an der Enge und fehlender Privatsphäre. Trotz dieser Phänomene fühlt sich das lyrische Ich trotzdem fremd.
In der dritten Strophe führt das lyrische Ich seinen Monolog fort, was durch die Fortsetzung des anaphorischen Aufbaus, der sich auch in der vorhergegangenen Strophe findet, deutlich (vgl. V. 15-17). Im ersten Vers dieser Strophe wird beschrieben, dass die „Menschen […] immer noch nicht sterben“ (V. 15) wollen. Dies zeigt, dass das lyrische Ich seines Lebens überdrüssig ist. „[I]mmer noch“ (ebd.) verdeutlicht, dass das es für den lyrischen Sprecher eigentlich nur noch eine Frage der Zeit ist bis die Menschen ihre Existenz aufgeben und sterben wollen.
In den folgenden drei Versen wird der Mond beschrieben. Dieser wird jedoch, im Gegensatz zu romantischen Gedichten, negativ konnotiert, was durch die Beschreibung des Mondes als „einsam“ (V. 16) deutlich. Weiter bedeute der Mond „nur Verderben“ (V. 17) und die, die den Mond lieben, werden mit dem „Tod belohnt“ (V. 18). Der Mond und auch die Nacht galten für die Dichter der Romantik häufig als Ventil für ihre Sorgen und ihr Leid. Dem lyrischen Ich kann der Mond keinerlei Trost spenden. Diese Abwendung und Umkehrung von Motiven der Romantik ist typisch für die Epoche des Expressionismus. Auffällig in diesen beiden Strophen ist das Vorhandensein eines Reimschemas. Das Reimschema in diesen ist abbcab und dede. Hier lässt sich herauslesen, dass das lyrische Ich Linderung seines Schmerzes in dieser Selbstreflexion findet, die sie sonst nirgends auf der Welt finden kann.
Widmen wir uns nun der vorletzten Strophe. Hier beschreibt das lyrische Ich das Aufgehen der Sonne und das gleichzeitige Ende der Nacht. Das Aufsteigen der des Morgens wird als „grauenhaft“ (V. 20) und auch die Nacht als „krank“ (V. 19) charakterisiert. Diese negativen Konnotierungen zeigen, dass für das lyrische Ich das ganze Leben eine Qual ist, da Tag und Nacht beide negativ konnotiert sind. Auffällig ist zudem, dass Nacht und Tag personifiziert werden. Der Morgen schlägt die Nacht stumpf Tod. Durch die Anführungszeichen am Ende der Strophe wird deutlich, dass der Reflexionsteil des lyrischen Ichs endet.
Nun folgt die letzte Strophe. Diese besteht nur aus zwei Versen. Zunächst beschreibt das lyrische Ich „Trompetenstöße vom verfluchten Berge“ (V. 24). Dies könnte als Metapher4 für das nahende Ende der Welt stehen. Auf diese Beschreibung hin fragt sich das lyrische Ich „[w]ann sinken Land und Meer in Gott?“ (V. 25). Das lyrische Ich fragt sich also wann das Ende der Welt bevorsteht. Das Weltuntergangsmotiv ist ein weiteres typisches Motiv für die Epoche des Expressionismus.
Die Ablehnung der romantischen Motive wird auch durch den Titel des Gedichts deutlich. „Nachtgesang“ lässt zunächst vermuten, dass es sich um ein romantisches Gedicht handelt. Dass es sich jedoch um ein expressionistisches Gedicht handelt, wird schon in der ersten Strophe deutlich.
Abschließend lässt sich sagen, dass es sich bei dem vorliegenden Gedicht um ein typisch expressionistisches Gedicht handelt, was durch die Verwendung von typisch expressionistischen Motiven und die Ablehnung von romantischen Motiven deutlich wird. Die in diesem Gedicht verwendeten Motive sind vor allem die Verwendung eines Reihungsstils, die negative Darstellung der Natur und die Weltuntergangsstimmung.