Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das vorliegende Gedicht „Siehst du die Stadt“ von Hugo von Hofmannsthal aus dem Jahre 1890 thematisiert die Beschreibung einer Stadt bei Nacht. Zur linearen Analyse des Textes stelle ich folgende Arbeitshypothese auf: Die Stadt wird dargestellt als ein ästhetisches Faszinosum. Sie fasziniert allerdings nicht nur durch ihre Ästhetik, sondern auch durch ihre Rätselhaftigkeit. Darin liegt auch ihre symbolische Bedeutung, die deutlich wird durch Verweise auf eine Welt des Traums und der Mystik.
Das Gedicht besteht aus drei Strophen mit je vier Zeilen. Bereits hier wird die regelmäßige formale Struktur deutlich. Dies zeigt sich auch im Metrum1: Es liegt ein durchgehend fünfhebiger Jambus vor mit einer Verschiebung der Betonung in I, 1 und einer schwebenden Betonung in II, 2, deren inhaltliche Bedeutung ich im weiteren Verlauf erklären werde. Das Reimschema ist ein Kreuzreim, wobei auffällig ist, dass der gleiche Reim in I, 2 und 4 und in III, 2 und 4 vorliegt, allerdings sind die Reimwörter jeweils miteinander vertauscht. Dies deutet auf eine gespiegelte Anordnung hin, und damit auf eine Umklammerung der mittleren Strophe durch Strophe eins und drei. Dies wird einerseits gestützt durch die Syntax: Jede Strophe besteht aus zwei Sätze, die wiederum jeweils aus zwei Versen bestehen. Sowohl in I, 3 und 4 liegt ein Enjambement vor als auch in III, 1 und 2, während Strophe zwei keine Enjambements2 aufweist, sondern nur eine Hinführung vom ersten zum zweiten Satz durch den Doppelpunkt. Andererseits widerspricht die Syntax der Annahme, die erste und dritte Strophe bildeten eine Klammer, da der erste Satz der ersten Strophe eine Frage bildet, während die dritte Strophe nur aus Aussagesätzen besteht. Vollständig widerlegen lässt sich dies durch die inhaltliche Gliederung des Gedichts: Die erste Strophe ist eine Beschreibung von optischen Eindrücken von der Stadt auf die eine Beschreibung akustischer Eindrücke folgt. Das Gedicht endet mit der Darstellung einer symbolischen Bedeutung der Stadt. Die Funktion der gespiegelten Anordnung werde ich in der folgenden Detailanalyse klären.
Wie oben bereits erwähnt, findet zu Beginn eine Beschreibung von visuellen Eindrücken von der Stadt bei Nacht statt, in der die Faszination, die von ihr ausgeht, deutlich wird. Die visuelle Darstellung zeigt sich gleich zu Beginn durch das Verb „Siehst“ (I, 1), das zudem auch metrisch herausgehoben ist. Der beschreibende Charakter wird deutlich durch die Ortsbestimmung „da drüben“ (I, 1). Folglich wird die Stadt aus einiger Entfernung betrachtet und es wird beschrieben, was zu sehen ist. Zu sehen ist eine Stadt, die „ruht“ (I, 1): Die Stadt wird also personifiziert, wobei das Verb „ruhen“ bereits eine Andeutung auf die Nacht und die wesenhafte Erscheinung der Stadt ist. Dies wird im Folgenden (I, 2) bestätigt: Sie „schmiegt [sich] in das Kleid der Nacht“ (I, 2). Durch diese Metapher3 wird der Eindruck einer harmonischen Anpassung der Stadt an die Nacht erweckt. Durch die Personifikation4 der Stadt und das Verb „schmiegen“ wird bereits ein erster Reiz der Stadt geweckt, der dadurch verstärkt wird, dass dies als rhetorische Frage formuliert wird, woraufhin nun in der weiteren Beschreibung (vgl. I, 2 und 3) dem ersten reizvollen Eindruck ein faszinierendes Bild folgt: Die Stadt wird beleuchtet durch das Mondlicht. Dies ist durch die Metapher „der Silberseide Flut“ (I, 3) dargestellt: Das Licht schein also silbern zu schimmern wie Seide, und das hell und stark, nämlich wie eine „Flut“ (I, 3), die die Stadt in dieses Licht taucht. Es ist also eine ästhetisierende Lichtmetapher, die zusätzlich durch die Position am Satzende durch das Enjambement verstärkt wird. Endgültig deutlich wird die ästhetische Faszination der Stadt durch die Beschreibung der Stadt in diesem Mondlicht, sie schein nämlich wie in „zauberischer Pracht“ (I, 4), wobei das Adjektiv „zauberisch“ bereits auf eine der Wirklichkeit entrückte Sphäre hindeutet. Zusammenfassend werden also zu Beginn des Gedichts in einer vorwiegend durch visuelle Eindrücke geprägten Darstellung die Schönheit und Faszination der Stadt bei Nacht deutlich, die bereits durch das Adjektiv „flüsternd“ (I, 2) angedeutet ist. Zu erst geht es um die Geräuschkulisse in der Stadt, die sehr „leise[…]“ (II, 2) zu sein scheint. Diese Geräuschkulisse wird durch eine Personifikation dargestellt, denn der Klang ihres „Atem[s]“ (II, 1) – vermutlich im Schlaf, da sie „tief und schwer“ (II, 3) atmet – wird beschrieben. Dazu werden die Adjektive „geisterhaft“ und „verlöschend leise“ benutzt (II, 2), die zwar auch faszinierend wirken, aber nicht durch ihre Ästhetik, sondern durch das Dunkle, Ungewisse. Dies wird besonders deutlich durch den mystischen Anklang des Adjektivs „geisterhaft“ (II, 2). Diese ungewisse, rätselhafte Faszination setzt sich auch in der näheren Beschreibung des Klangs, eingeleitet durch den Doppelpunkt, fort: In einer parallelen Satzstruktur, die die Beschreibung unterstützt, wird aufgezählt, dass die Stadt „lispelt“ (II, 4) und „weint im Traum“ (II, 3). Warum sie weint ist nicht klar und deutet auf ihre Rätselhaftigkeit hin. Die Faszination des Ungewissen und Rätselhaften wird erneut deutlich durch das „[V]erlockend[e]“ (II, 4), dass gleichzeitig auch „bang“ (II, 4) macht, also Angst auslöst. Unterstützt wird dies durch das Adjektiv „rätselvoll“ und das Verb „lispeln“ (II, 4), das einen unheimlichen Eindruck erweckt. Hier findet sich auch wieder eine Andeutung auf das Traumhafte, Unwirkliche und Mystische, was die Funktion einer Einleitung zur letzten Strophe und deren symbolischer Bedeutung hat. Zusammenfassend wird also im zweiten Teil in der Beschreibung akustischer Eindrücke von der Stadt das Widersprüchliche ihrer Faszination deutlich. Einerseits ihre Schönheit, andererseits ihre Rätselhaftigkeit, die verstärkt wird durch mystische Anspielungen.
Zur dritten Strophe liegt nun eine Zäsur5 vor, denn hier ist die Stadt, die zu Beginn in einem Fragesatz eingeleitet wurde, nun definiert, sie ist die „dunkle Stadt“ (III, 1). Wieder wird das Element des Schlafes und des Traums aufgegriffen, hier aber nun vollends in einer symbolischen Bedeutung, denn „sie schläft im Herzen mein“ (III, 1). Durch die Inversion6 und das Enjambement wird „mein“ (III, 1) syntaktisch hervorgehoben: Die Stadt ist also in ihrer ästhetischen Faszination ein Symbol der Widersprüchlichkeit und hat hier auch eine symbolische Bedeutung für die Menschen, was deutlich wird sowohl durch die oben genannte Formulierung „Im Herzen mein“ als auch durch die durchgängige Vermenschlichung der Stadt. Noch einmal wird die Widersprüchlichkeit, nämlich durch den Widerspruch aber auch die Klimax7 „mit qualvoll bunter Pracht“ (III, 2) sowie durch die Antithese8 zwischen Dunkelheit (vgl. III, 1) und „Glanz und Glut“ (III, 2). Diese Widersprüchlichkeit wird eingeschränkt durch die Konjunktion „Doch“ (III, 2) und noch einmal wird ihre „schmeichelnd[e]“ Faszination deutlich, verstärkt durch die Wiederholung der Worte „Flüstern“ (III, 4) und „Nacht“ (III, 4), die bereits in der ersten Strophe auftauchen. Diese gespiegelte Anordnung lässt sich nun erklären, nämlich als Hinführung von Strophe eins, der Vermittlung der ästhetischen Faszination durch optische Eindrücke über Strophe zwei, der akustischen Beschreibung der Widersprüchlichkeit zwischen Ästhetik und ungewisser Rätselhaftigkeit, bis zu Strophe drei, in der ihre symbolische Bedeutung für den Menschen dargestellt wird. Zusätzlich verweist diese Symbolkraft auf eine Welt des Traums und der Mystik, was auch durch die regelmäßige formale Struktur unterstützt wird. Folglich lässt sich meine Arbeitshypothese bestätigen: Die Stadt wird ästhetisiert und übt eine dunkle Faszination aus, wodurch sie gleichzeitig eine symbolische Bedeutung erhält. Aufgrund dieser Ergebnisse lässt sich das Gedicht in die Epoche des Symbolismus einordnen, die abgehoben von der Realität durch die Ästhetisierung den Dingen eine symbolische Bedeutung verleiht.