Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Siehst du die Stadt“ von Hugo von Hofmannsthal ist um 1890 veröffentlicht worden. Es thematisiert die Beschreibung einer Stadt bei Nacht. Dabei wird die Stadt einerseits als mysteriös und rätselhaft, andererseits als faszinierend beschrieben. Der Autor erzielt diesen Effekt mithilfe vieler Begriffe aus der Welt der Träume und der Mystik.
Die Form des Gedichtes ist sehr gleichmäßig: Es besteht aus drei Strophen mit je vier Versen. Außerdem liegt ein gleichbleibendes Metrum1 vor, welches ein fünfhebiger Jambus ist. Der gleichbleibende Rhythmus schafft eine ruhige Atmosphäre, die mit dem Inhalt des Gedichtes harmoniert.
Das Gedicht beginnt mit der direkten Anrede „du“ (V. 1). Es folgt die Beschreibung einer Stadt, die offenbar „da drüben “liegt. Dem Gebrauch dieser Adverbien kann man entnehmen, dass die Stadt aus einiger Entfernung betrachtet wird. Durch die Verwendung des Personalpronomens du wird eine Verbindung zwischen der Stadt und dem Leser geschaffen. Auf diese Weise wird versucht, die Stadt dem Leser näher zu bringen und sie lebendig wirken zu lassen. Die darauf folgende Beschreibung der Stadt verstärkt diese Vermutung. Es wird eine Stadt beschrieben, die „ruht“ (V. 1). Durch diese Personifizierung wird eine friedliche und harmonische Atmosphäre erzeugt, die durch das Adverb „flüsternd“ (V. 2) verstärkt wird. Der harmonische Aspekt wird nochmals intensiviert durch die Personifikation3 „schmieget in das Kleid der Nacht“ (V. 2), da sie sich harmonisch dem „Kleid der Nacht“, also der Dunkelheit, anpasst. Durch die Personifikation der Stadt und das Verb „schmiegen“ wird bereits ein erster Reiz der Stadt geweckt, der verstärkt wird, da dies als rhetorische Frage formuliert wird. Diesem ersten Eindruck folgt ein Bild von einer Stadt, die durch Mondlicht beleuchtet wird, was durch die Metapher „der Silberseide Flut“ (V. 3) dargestellt wird. Das Licht des Mondes wird mit silberner Seide verglichen, die generell leicht schimmert. Die Metapher „Flut“ steht in diesem Fall für die Lichtintensität, nämlich stark. Es wird also ein Bild geschaffen, von einer durch ein silbrig schimmerndes und starkes Mondlicht beschienenen Stadt. Die Faszination, die von dieser Stadt ausgeht, wird spätestens deutlich durch die Beschreibung des Mondlichtes, welches in „zauberischer Pracht“ (V. 4) auf die Stadt hinunter scheint. Dabei deutet das Adjektiv zauberisch auf eine entfernte, märchenhafte Welt hin, in der diese Stadt liegt. Dies ist aber eher unwahrscheinlich. Daher ist davon auszugehen, dass der Autor die Stadt sehr liebt und sie deshalb mit diesen Metaphern4 beschreibt.
Während in Strophe 1 eher die visuellen Aspekte der Stadt beschrieben werden, kommen in der zweiten Strophe die akustischen Merkmale der Stadt zum Vorschein. Durch die Personifikation „Atmen“ (V. 5) erscheint die Stadt sehr menschlich, da das Atmen eine urmenschliche Eigenschaft ist. Diesen Effekt potenzieren5 die Verben „weint“ (V. 7), „lispelt“ (V. 8) und die Verwendung des Nomens „Traum“ (V. 7). Insgesamt bestätigt diese Zeile den Eindruck, dass die Stadt aus der Entfernung betrachtet wird, da der Wind „her“, also zum Leser, geweht wird. Damit wird erneut versucht, die Stadt dem Leser nahe zu bringen. Das Atmen der Stadt, eine Personifikation für die Geräuschkulisse in der Stadt, wird dann genauer beschrieben, nämlich als ein „geisterhaft, verlöschend leisen Klang“ (V. 6). Sowohl „geisterhaft“, als auch „verlöschend leise“ geben die Faszination, die von der Stadt ausgeht, wieder. Allerdings haben diese Adjektive eher einen mystischen und geheimnisvollen Effekt. Der Klang der Stadt wird dann ebenfalls genauer beschrieben. Die Stadt „weint im Traum“ (V. 7) und „lispelt“ (V. 8). Das Lispeln gilt in der deutschen Sprache als Sprechfehler für den Konsonanten s . Im Zusammenhang mit „bang“ (V. 8) am Ende der Strophe erweckt dies den Eindruck von einer eher schüchternen Stadt, da man das Lispeln eher mit zurückhaltenden, als mit sehr selbstsicheren Menschen in Verbindung bringt. Alternativ verleiht das Lispeln der Stadt einen femininen Charakter, da das Lispeln lange Zeit als eine weibliche Eigenschaft galt.
Die dritte Strophe des Gedichtes „Siehst du die Stadt?“ stellt eine Zäsur6 in der Thematik da. Während die ersten beiden Strophen die akustischen und visuellen Eindrücke der Stadt wiedergeben, geht der Autor in der dritten Strophe eher auf die Symbolik dieser Stadt ein. Außerdem wird mit „mein“ (V. 9) das lyrische Ich in diesem Gedicht erstmals deutlich. Die Stadt wird als dunkel beschrieben, was hinsichtlich der Nacht als normal erscheint. Allerdings steht dies im Kontrast zu „Glanz und Glut“ (V. 10). Eine weitere Antithese „qualvoll bunter Pracht“ (V. 10) löst eine kontroverse Atmosphäre aus. Einerseits deutet das Adjektiv „qualvoll“ auf eine negative Seite der Stadt hin. Andererseits verweisen die Wörter bunt und Pracht auf eine sehr positive und angenehme Stimmung. Diese Antithesen7 tragen zu einer Vermehrung der Rätselhaftigkeit der Stadt bei. Jedoch „schläft“ (V. 9) die Stadt in dem Herzen des lyrischen Ichs. Da das Herz seit langer Zeit das Symbol für die Liebe ist, und die Stadt in seinem Herzen ruht, ist davon auszugehen, dass der Autor die Stadt liebt.
Ähnlich wie in der ersten Strophe, bezieht von Hofmannsthal den Leser mit „dich“ (V. 11) wieder in das Gedicht mit ein. Diesmal wird allerdings nicht die Stadt an sich beschrieben, sondern der „Widerschein“ (V. 11) der Stadt, welcher durch „schmeichelnd“ (V. 11) besonders hervorgehoben wird. Der Widerschein beschreibt in diesem Fall die symbolische Ausstrahlung der Stadt, also die Faszination, welche von ihr ausgeht. Demnach ist dieser Vers folgendermaßen zu deuten: Die positiven Charakteristika der Stadt, die durch die Nacht gleiten, wirken sich „schmeichelnd“ (V. 11) auf den Betrachter aus. Diese positiven ´Schwingungen´ sind jedoch „gedämpft zum Flüstern“. Dies wiederum verstärkt den bereits gewonnenen Eindruck von einer etwas schüchternen Stadt, da der „Widerschein“ nicht laut bekannt gegeben wird, sondern zu einem Flüsterton dezimiert ist.
Das Gedicht „Siehst du die Stadt?“ von Hugo von Hofmannsthal ist eine Liebeserklärung an eine Stadt, die der Autor sehr schätzt. Die zahlreichen Facetten der Stadt, von faszinierend, über dunkel und geheimnisvoll, bis hin zu ängstlich, werden auf symbolische Weise dargestellt und ästhetisieren die Stadt. Demnach ist das Gedicht in die Epoche des Symbolismus einzuordnen.